Magazinrundschau

Ohne Hallo zu sagen?

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
13.07.2021. Warum soll eine grüne Energiewende möglich sein, aber keine weltweite Gewerkschaftsbewegung, fragt die LRB. In Pitchfork spricht Questlove über das "Harlem Cultural Festival" von 1969, über das er einen Dokumentarfilm gemacht hat. Wie lange wollen wir noch den Gringos die Schuld an der Misere in Lateinamerika geben, fragt der Salsa-Sänger und Politiker Rubén Blades in El Pais Semanal. In Harper's antwortet der Historiker Matt Karp auf das 1619-Projekt der New York Times. Newlines schaut dem Genozidleugner Peter Handke beim Verfertigen seiner alternativen Fakten zu. Die Blätter staunen über die zunehmende Korruption in Britannien. American Affairs sieht die Moderne an ihr Ende gekommen.

London Review of Books (UK), 15.07.2021

James Meek reist hoch in den schottischen Norden, nach Campbeltown auf der Kintyre-Halbinsel, wo ein Werk des koreanischen Konzerns CS Wind Windturbinen für britische Offshore-Anlagen baute, bis die Produktion nach Vietnam verlagert wurde. Dort arbeiten die Menschen in Sieben-Tage-Wochen und für einen Bruchteil des Lohns. Boris Johnson, der vor sieben Jahren noch erneuerbare Energien für Labour-Unsinn hielt, möchte jetzt aus Britannien das Saudi-Arabien der Windkraft machen. Ist das die neoliberale Variante der Energiewende, fragt sich Meek. Oder trifft hier die visionäre und internationale Klimaschutzbewegung auf die einst ebenso visionäre und internationale Arbeiterbewegung, ohne Hallo zu sagen? "Oft wird gesagt, der Schutz sozialer Errungenschaften schade Arbeitern in Niedriglohnländern wie Vietnam, deren Wirtschaft gerade zu florieren beginnt. 'Ihr behauptet, Ihr seid Internationalisten', heißt es dann, 'Ihr sagt, es mache Euch Sorgen, dass Arbeiter in Britannien ihren Job verlieren und in Vietnam absurd viele Stunden arbeiten. Aber worauf läuft es hinaus? Auf britische Job für britische Arbeiter, das Schließen der Märkte und keine Jobs für Vietnamesen.' Das Problem ist: Zu fragen, was gut oder schlecht für Briten und gut oder schlecht für Vietnamesen ist, heißt die fundamentale Frage zu vernebeln, was gut oder schlecht für die Menschen ist. Man kann die Geschichte von Campbeltown gar nicht anders verstehen als eine Herausforderung für die organisierte Arbeiterschaft, sich zu internationalisieren. Ein weltweiter Konzern erfordert eine weltweite Gewerkschaft. Die Warnung, höhere Löhne bedeuteten höhere Arbeitslosigkeit, ist das alte Schreckgespenst im kapitalistischen Drehbuch. Wenn wir den globalen Mindestlohn, die maximale Wochenarbeitszeit und globale Gesundheitsstandards als unrealistisch bezeichnen, dann sagen wir damit, die grüne Energiewende sei möglich und notwendig, aber faire Bezahlung und Arbeitsbedingungen unmöglich und unnötig."

Christopher L. Brown stellt zwei Bücher vor über den britischen Sklavenhandel: "Murder on the Middle Passage: The Trial of Captain Kimber" von Nicholas Rogers und "The Interest: How the British Establishment Resisted the Abolition of Slavery" von Michael Taylor. Beide beschäftigen sich mit der Frage, warum es so lange dauerte, den Sklavenhandel abzuschaffen. Die Gründe waren - nicht nur, aber vor allem - finanzieller Art. Die Grundlagen für beide Bücher lieferte gewissermaßen das Projekt 'Legacies of British Slave-Ownership', erklärt Brown. "Konzipiert und durchgeführt von Catherine Hall und ihren Kollegen am UCL, hat es das ganze Ausmaß der britischen Investitionen in den Sklavenhandel deutlich gemacht. Viele Menschen wissen heute, dass das Ende der Sklaverei im britischen Empire, das 1833 gesetzlich festgelegt wurde, in Form eines ausgehandelten Vergleichs zwischen der Regierung und den Sklavenhaltern erfolgte, wobei 20 Millionen Pfund als Entschädigung gezahlt wurden. Das Legacies-Projekt nutzte die Aufzeichnungen, die durch diese Auszahlung entstanden, um ein biografisches Online-Lexikon der vierzigtausend Menschen zu erstellen, die eine Entschädigung beantragt hatten. In 'Capitalism and Slavery (1944) argumentierte Eric Williams, dass die Gewinne aus den britischen Plantagen die industrielle Revolution finanzierten - ein Argument, das unter britischen Wirtschaftshistorikern mehr als fünfzig Jahre lang für Kontroversen sorgte. Das Legacies-Projekt legt nahe, dass Williams in entscheidenden Punkten nicht weit genug ging. ... Es war bequem, die Befürworter der Sklaverei als ein mächtiges, aber eng begrenztes Interesse von abwesenden Pflanzern und ihren kolonialen Verbündeten darzustellen. Die neuen Erkenntnisse darüber, wer tatsächlich Sklaven besaß, machen deutlich, was vielleicht schon immer offensichtlich war: Investitionen in menschliches Eigentum waren in Großbritannien weit verbreitet und erstreckten sich auf der sozialen Leiter nach oben und unten. 'Das Interesse an Westindien bestand nicht nur bei einer Handvoll Pflanzern und Kaufleuten', schreibt Michael Taylor im letzten Absatz seines ausgezeichneten neuen Buches 'The Interest', sondern umfasste 'Hunderte von Abgeordneten, Peers, Beamten, Geschäftsleuten, Finanziers, Landbesitzern, Geistlichen, Intellektuellen, Journalisten, Verlegern, Matrosen, Soldaten und Richtern, und sie alle taten das Äußerste, um die koloniale Sklaverei zu erhalten und zu schützen."

Besprochen werden außerdem Karl Schlögels jetzt auch auf Englisch erschienene Geschichte "Der Duft der Imperien" über die Parfüms Chanel No. 5 und Rotes Moskau und Neuerscheinungen zu Dantes 700. Todestag.

El Pais Semanal (Spanien), 10.07.2021

"Wie lange wollen wir noch den Gringos die Schuld an allem geben, was in Lateinamerika passiert?" Der Salsa-Sänger und Politiker Rubén Blades aus Panama hat sich mit dem El País-Journalisten Jesús Ruiz Mantilla zum Interview getroffen. "Diktaturen entstehen und halten sich mit der stillschweigenden Unterstützung der Leute. Es gibt bei uns vollkommen korrupte Länder, deren Parlamentsabgeordnete aber trotzdem von uns Wählern auf ihre Posten gehievt worden sind. Wer ist schuld daran? Die Amerikaner? Unser Diktator Noriega wurde 1989 gestürzt, aber in den 31 Jahren danach, mit zivilen Regierungen, ist die Korruption immer schlimmer geworden. Sag du mir, wer schuld daran ist. Trotzdem bin ich optimistisch, es geht eben langsam vorwärts, Schritt für Schritt, von Generation zu Generation, da bin ich mir ganz sicher. Ich glaube nicht, dass das Universum für das Böse geschaffen worden ist. Ein einzige Blume, die Farben eines Vogels sind viel zu schön, um auf die Idee zu kommen, dass der Teufel das am Ende alles einsackt. Das große Problem sind gegenwärtig die Extremisten, das stimmt. Um zu sehen, dass es Entwicklung gibt, braucht man Geduld, und daran fehlt es zurzeit überall."
Archiv: El Pais Semanal
Stichwörter: Lateinamerika, El Pais

Eurozine (Österreich), 12.07.2021

Die Grenzen verschieben sich, beobachten Marie-Eve Loiselle und Ayelet Shachar in einem dystopisch anmutenden Report über die neuen Möglichkeiten der Bio-Überwachung und künstlicher Intelligenz: "Im Gegensatz zu einer physischen Barriere ist die sich verschiebende Grenze in Raum und Zeit nicht fixiert; sie besteht aus rechtlichen Portalen, digitalen Überwachungswerkzeugen und KI-gestützter Risikobewertung anstelle von gemauerten Wällen. Die schwarzen Linien, die wir in Atlanten finden, stimmen nicht mehr mit den beweglichen Schaltstellen der Migrationskontrolle überein. Stattdessen verlagern die Regierungen die Grenze sowohl nach außen als auch nach innen und gewinnen dadurch enorme Kapazitäten zur Regulierung und Verfolgung von Personen, bevor und nachdem sie ihr gewünschtes Ziel erreicht haben. Die flexiblen Tentakel der sich verschiebenden Grenze wurden bis vor kurzem vor allem zur Überwachung von Menschen auf der Flucht vor Armut und Instabilität eingesetzt. Heute befindet sich jeder, auch Bürger reicher Demokratien, potenziell in ihrem immer weiter ausgedehnten Fängen."
Archiv: Eurozine

Magyar Narancs (Ungarn), 07.07.2021

Im Interview mit Zsófia Fülöp spricht die Soziologin Judit Takács von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften MTA unter anderem über die mögliche gesellschaftliche Akzeptanz des umstrittenen neuen Gesetzes, das Homosexualität mit der strafrechtlichen Kategorie der Pädophilie gleichsetzt. "Es ist sehr wichtig, wie wir diese Angelegenheiten benennen und problematisieren. Gegenwärtig passiert genau dasselbe wie bei der Migration: auch da wurden die negative Botschaften ständig wiederholt, womit die Xenophobie gesellschaftlich angeheizt wurde - mit erstaunlich großem Erfolg. Es ist ungefähr so, wie wenn wir im Radio eine schreckliche Melodie sehr oft hören und nach einer Weile selbst anfangen, sie zu summen. Es besteht die Gefahr, dass dies im Falle dieses homophoben Gesetzes ebenfalls passiert. Obwohl diese Art Gesetz uns an die dunkelsten Zeiten unserer Geschichte erinnert."
Archiv: Magyar Narancs

Harper's Magazine (USA), 01.07.2021

So sehr die deutsche Öffentlichkeit auf amerikanische Debatten fixiert ist, so wenig wurde die Debatte über das "1619"-Projekt der New York Times in deutschen Feuilletons widergespiegelt - helfen denn nicht mal mehr die Hinweise des Perlentauchers, um Debatten aufzugreifen? Matt Karp, recht jung aussehender Historiker in Princeton, der sich wohl eher der klassischen Linken zurechnet, hat sicherlich einen der gewichtigsten Essay dazu geschrieben und zerpflückt dankenswerter Weise die Positionen zur Geschichte sowohl in der Trumpianischen Rechten als auch in der modischen Linken. Während die Trumpianer weit davon entfernt sind, sich positiv auf Traditionen wie die "Lost Cause" der Südstaaten zu beziehen und eher ein Troll-ähnliches Verhältnis zur Geschichte pflegen, das im wesentlichen dazu dient, die ideologischen Gegner lächerlich zu machen, hat die modische Linke den Blick fest auf die Vergangenheit gerichtet. Karp spricht allerdings von einem neuen "Historizismus", einer Lyrik der Ursprünge, die im Grunde ahistorisch sei. Das "1619"-Projekt der Historikerin Nikole Hannah-Jones und ihrer vielen Ko-Autoren ziele darauf ab, in der Sklaverei eine Art genetischen Code zu sehen, der auch heutigen Rassismus erkläre. Das geht bis zur geschichtsfälschenden Behauptung, dass die Revolution von 1776 angezettelt wurde, um die Sklaverei erhalten zu können. "Die dominierenden Bilder sind hier biblisch und biologisch: Sklaverei als Amerikas 'Erbsünde', Rassismus als Teil von 'Amerikas DNA'. (Das 1619-Projekt enthält nicht weniger als sieben solcher Verweise.) Solche Male sind unauslöschlich und von Geburt an eingeprägt. Die Existenz von Sklaverei und Rassismus bedeutet, dass Amerika 'von Anfang an abgestempelt' war, wie Ibram X. Kendi sein erstes Buch ('Stamped from the Beginning') betitelte, wobei er ironischer Weise einen Satz von Jefferson Davis (der Präsident der Konföderierten) entlieh. 'So wie die DNA der Code für die Zellentwicklung ist', schreibt Isabel Wilkerson, 'so ist die Kaste das Betriebssystem für die wirtschaftliche, politische und soziale Interaktion in den Vereinigten Staaten von der Zeit ihrer Entstehung an.'"

Blätter f. dt. u. int. Politik (Deutschland), 01.07.2021

Dass Boris Johnson ein nonchalantes Verhältnis zur Wahrheit hat, ist jedem klar, der ihn auch nur von ferne beobachtet. Für Annette Dittert, London-Korrespondentin der ARD, haben die Lügen allerdings System und treffen in Britannien auf eine politische Struktur, die viel angreifbarer ist als die der USA mit ihren "Checks and Balances". Denn Britannien mit seiner ungeschriebenen Verfassung setzt voraus, dass es von Ehrenmännern und -frauen regiert wird (der Begriff dafür heißt "Good-Chaps-Prinzip"). Bemerkenswert ist, dass Dittert nicht wie üblich das Internet für die Lockerung der politischen Sitten verantwortlich macht. Schlimmer sind die traditionellen Medien, zum einen die Zeitungen in der Hand Rupert Murdochs und anderer Oligarchen, die keine Kritik an Johnson aufkommen lassen, zum zweiten aber auch die BBC, die durch die Angriffe von Johnson und Co. starr vor Angst sei. So gab man Tory-Politikern in der BBC ausgiebig Gelegenheit, ein 25 Jahre altes, unter äußerst dubiosen Umständen zustande gekommenes Interview mit Lady Di zu kritisieren. "Die zahlreichen Versäumnisse, Fehler und Lügen der Johnson-Regierung hingegen werden deutlich sparsamer oder gleich gar nicht mehr angefasst. Besonders eklatant ist hier die so gut wie nicht existierende Berichterstattung über die zunehmenden Korruptionsfälle innerhalb der britischen Ministerien. Als vor kurzem Alastair Campbell, der ehemalige Pressemann Tony Blairs, in der BBC darauf hinwies, entgegnete ihm die Moderatorin: 'Aber den Leuten ist das doch egal!' Eine direkte Übernahme des regierungseigenen Spins und ein eklatantes Missverständnis ihrer Rolle. Denn falls das tatsächlich so sein sollte, wäre es die erste Aufgabe der BBC, dafür zu sorgen, dass es den 'Leuten' nicht mehr egal ist."

American Affairs (USA), 12.07.2021

Alex Hochuli konstatiert die Brasilianisierung der Welt und erklärt, was damit gemeint ist: Modernität ohne Chance auf Entwicklung. "Wir befinden uns am Ende des Endes der Geschichte. Anders als in den 1990er und 2000er Jahren sind sich viele heute bewusst, dass es nicht so gut läuft. Wie der Kulturtheoretiker Mark Fisher schrieb, werden wir von der 'langsamen Suspension der Zukunft', einer versprochenen, aber nicht erfüllten Zukunft, von Rückentwicklung statt Fortschritt belastet. Die Rückentwicklung des Westens findet ihr Spiegelbild in der Nation, die für immer das Land der Zukunft bleibt und nie ihr Ziel erreicht: Brasilien. … Brasilien steckt fest zwischen Hoffnung und Frustration. Und das Schicksal, modern, aber nicht modern genug zu sein, scheint mittlerweile von weiten Teilen der Welt geteilt zu werden: WhatsApp und Favelas, E-Commerce und stinkende Kanalisationen. Abgesehen von Chinas bemerkenswertem Aufstieg ist die globale Geschichte der letzten vierzig Jahre tatsächlich eine Geschichte des Rückschritts, was auch immer über die 'neue Mittelklasse' gesagt wird - in Wirklichkeit eine Arbeiterklasse, die in der Lage ist, Kühlschränke und Fernseher zu kaufen und vielleicht zum ersten Mal die Universität zu besuchen, die aber keine echte Sicherheit erlangt hat … Um zu verstehen, was der Begriff bedeutet und was wir daraus lernen können, müssen wir Brasiliens Entwicklung verstehen und was sie über unsere Gegenwart und Zukunft aussagt. Tatsächlich hat Brasiliens Bewusstsein seines eigenen Versprechens und die darauf folgende Frustration eine kritische Sicht auf die Modernisierung hervorgebracht, die der Rest der Welt sich genau ansehen sollte."
Stichwörter: Fisher, Mark

HVG (Ungarn), 13.07.2021

Im Interview mit Péter Hamvay spricht der Regisseur und Schauspieler Róbert Alföldi über seine Rolle als Hendrik Höfgens in der "Mephisto"-Inszenierung von András Urbán, angekündigt als "zeitgenössisches Kabarett" im Budapester Theater Atrium: "Ich denke, dass Hendrik Höfgen kaum mit sich ringt, genau aus dem Grunde nicht, weil es keine rote Linie gibt. Es gibt nicht die eine dramatische Entscheidung, mit der du dich an die Macht verkaufst, sondern es gibt kleine, kaum bemerkbare Schritte Richtung moralischem Untergang. Ich denke nicht, dass die heutigen Hendrik Höfgens mit sich selbst ringen, wahrscheinlich denken sie, dass sie etwas Gutes tun. Das entlastet sie freilich nicht, denn jeder trifft die Entscheidungen selbst und es liegt in der eigenen Verantwortung, ob jemand die Situation erkennt. Auch wenn das In-den-Schoß-der-Macht-Rutschen ein langsamer Prozess ist, ist es am Ende eindeutig, was jemand in dieser Position zerstört, was er aus Wut und Frustration vernichtet und wie er die erlangte Macht missbraucht."
Archiv: HVG
Stichwörter: Ungarn, Kabarett

Newlines Magazine (USA), 12.07.2021

Der Nobelpreis für Peter Handke vor anderthalb Jahren war auch Gelegenheit zu erkennen, dass es in den vornehmsten deutschen Feuiiletons Stimmen gibt, die Genozidleugner verteidigen, sofern es sich nur um verehrte Dichter handelt. Edin Hajdarpašić analysiert nochmal die Handkesche Rhetorik des Leugnens, die natürlich nicht einfach ein Leugnen ist, sondern ein Neu Arrangieren von Wirklichkeit, bekannt eher aus anderen politischen Ecken, wo es auch mit dem angemessenen Abscheu bedacht wird. Hajdarpašić erinnert an Handkes Freundschaft zu Novislav Djajić, der zu einem serbischen Erschießungskommando gehörte: "In Djajić hatte der Österreicher nicht nur eine Freundschaft gefunden - Handke war Trauzeuge bei Djajićs Hochzeit und wohnte der Taufe seiner beiden Töchter bei -, sondern auch die Schlüsselelemente, um die Fakten des Bosnienkrieges umzuschreiben. In Handkes Erzählung war Djajić ein idealistischer serbischer Dorfbewohner, der in die Kriegswirren hineingezogen wurde. In einer Zeit, in der das Töten überhand nahm, war er einfach zur falschen Zeit am falschen Ort und hielt bei einer Massenhinrichtung eine Waffe in der Hand. An einer Stelle in der 'Reise' lässt Handke Djajić über seine Verantwortung nachdenken und dann feststellen: 'Wissend, dass ich schuldlos war, sagte ich Ja zu meiner Bestrafung. Vom fremden Staat bestraft und vom eigenen Volk verachtet, verlor ich das Gefühl für meine Schuld.' Wenn es in Handkes Geschichte eindeutige Bösewichte gibt, dann sind es die fremden Richter, die gedankenlos darauf bestehen, Männer wie Djajić zur Verantwortung zu ziehen."
Stichwörter: Handke, Peter, Bosnienkrieg

New York Times (USA), 07.07.2021

In einem Beitrag des Magazins stellt uns Alex W. Palmer mit Zhao Lijian den Mann vor, der Chinas Diplomatie auf nationalistischen Kurs brachte - bewaffnet mit einem Twitter-Account: "Sein Einfluss ist enorm. Obwohl er bis vor zwei Jahren sogar in China nahezu unbekannt war, hat Zhao es in Windeseile geschafft, Chinas Kommunikationsweise mit Freunden wie Feinden komplett zu verändern. Der ungezügelte Stil seiner Rhetorik hat den jahrzehntealten zwischen ausweichender Diplomatie und abstrusem KP-Jargon changierenden Ton Chinas in der Öffentlichkeit ersetzt. Zunächst war Zhao allein und nutzte Twitter als persönliche Keule. Er attackierte Abweichler von der Linie seines Arbeitgebers, des Außenministeriums. Kritik an China nannte er 'schmutzige Lügen', einen andersdenkenden ausländischen Offiziellen 'eine Person ohne Seele und Nationalität'. Zhaos Timing ist genial. Sein chaotischer Ton korrespondiert mit Xi Jinpings neuer, selbstbewusster außenpolitischer Gangart. Man nannte ihn schnell den 'Wolfskrieger' unter den Diplomaten, nach einem chinesischen Actionfilm. Zhaos Aufstieg spiegelt Chinas neues Machtbewusstsein, Ergebnis eines langen Prozesses, den die Pandemie beschleunigt hat … Zhaos Tweets sind ein Vorgeschmack auf das weltweite Publikum, das China zu adressieren wünscht … Während des 11-Tage-Konflikts in Gaza, tweetete Zhao den Comic eines kahlköpfigen Adlers, der eine Bombe auf das Gebiet abwirft, und schrieb: 'Schaut, was der '#Verteidiger der Menschenrechte' mit den #Menschen in Gaza macht.' Mit der Wolfskrieger-Diplomatie positioniert sich China als Führer der nicht-westlichen Welt in der Hoffnung, ihre Nachbarn seien ebenso interessiert an einer Welt ohne übermächtigen US-Einfluss."
Archiv: New York Times
Stichwörter: Xi Jinping, Jinping, Xi, Actionfilm, Kp

Pitchfork (USA), 30.06.2021

Während der überwältigende Teil der USA im Sommer 1969 den Blick hoch zum Mond richtete, fand in New York über mehrere Wochen das Harlem Cultural Festival statt - ein Festival mit schwarzen Musikern für ein zum großen Teil schwarzes Publikum. Dass dabei auch zahlreiche Stunden Filmmaterial entstanden sind, war bislang kaum bekannt. Roots-Schlagzeuger Ahmir "Questlove" Thompson hat das Material gesichtet und mit "Summer of Soul" einen 90-minütiges Filmdokument daraus montiert, beziehungsweise "kuratiert", wie er sagt. Mit Pitchfork spricht er über den Stellenwert des Festivals in der Geschichte der schwarzen Musik der USA, den er mit dem Hinweis auf den "Woodstock"-Film, der das Hippie-Festival erst zur Legende machte, illustriert: "Ich frage mich: Wäre dieser Film früher erschienen und vergleichbar ins Licht der Öffentlichkeit gerückt und mit Relevanz aufgeladen worden, hätte sich das in meinem Leben niedergeschlagen? Das letzte Jahr war erschöpfend: Jede Plattform, jedes Vehikel, jede Serie und jeder Film befasst sich mit Folterpornos, mit schwarzem Schmerz. Ich weiß, es geht dabei darum, der Geschichte gegenüber authentisch zu sein, aber darin liegt auch die Geschichte, dass wir Schmerz gegenüber eine hohe Toleranz haben. Mir war gar nicht klar gewesen, wie wichtig es ist, das mit schwarzer Freude in die Balance zu bringen." Um Schmerz geht es aber auch im fertigen Film: "Ich sprach mit Rockgitarrist Billy Davis von 5th Dimension darüber: 'Ich habe Dich nie beim Singen von Predigergospels gehört. Ich habe nie gewusst, dass Dein Bariton brummt.' Und als dann Marilyn McCoo damit begann, sich zu öffnen, wie schmerzhaft es gewesen ist, auf beiden Seiten des Zauns spielen zu und von beiden Seiten kritisiert zu werden - nicht schwarz genug, nicht weiß genug -, da hat mich das echt getroffen. Als jemand, der mal in der Vorband für die White Stripes auf Tour war, nur um danach einen Monat mit Lauryn Hill unterwegs zu sein, konnte ich das gut nachvollziehen. Man musste das Register wechseln." Ein paar fantastische Eindrücke des Films verschafft der Trailer:

Archiv: Pitchfork