Magazinrundschau

Lyrisch, viszeral und roh

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
10.08.2021. In der LRB fragt der Autor Adewale Maja-Pearce, ob es eine gute Idee ist, die Benin-Bronzen an Nigeria zurückzugeben und kommt nach Schilderung der Wirren im Land zu dem Ergebnis: eindeutig nein. Das NYT Mag bringt eine fulminante Reportage über die Demokratie-Aktivistin Nancy Tao Chen Ying und das drohende Schicksal Taiwans. Elet es Irodalom wirft einen düsteren Blick auf das Orban-Regime. Neotext würdigt die großen Koloristinnen der Comic-Kunst.

London Review of Books (UK), 09.08.2021

Der anglo-nigerianische Schriftsteller Adewale Maja-Pearce lässt keinen Zweifel an der Arroganz und Brutalität, mit der die Briten 1897 bei einer Vergeltungsaktion die Benin-Bronzen raubten, und doch glaubt er nicht, dass ihre Rückgabe an Nigeria eine gute Idee wäre: "Während ich das schreibe, entbrennt Streit zwischen Godwin Obaseki, dem Gouverneur des Bundesstaats Edo (in dem sich das alte Benin heute befindet), und Ewuare II., dem derzeitigen Oba (Herrscher), über die Frage, wo die Artefakte untergebracht werden sollen, die Deutschland demnächst zurückgeben will. Vor zwei Jahren stellte Obaseki 500 Millionen Naira (etwa eine Million Euro) zur Verfügung, um 'in Zusammenarbeit mit dem Palast die Entwicklung und den Bau eines Königlichen Benin Museums zu beginnen', nur um kurz darauf einen Rückzieher zu machen zugunsten des Legacy Restoration Trust (von Kronprinz Ezelekhae Ewuare) und seines Edo-Museums. Der Oba protestierte, dies stimme nicht mit dem Willen des Volkes des Königreich Benins überein'. Doch das Königreich Benin existiert schon lange nicht mehr. Seine Hinterlassenschaft vor Ort ist, wie Phillips berichtet, eine klägliche, von Abwässern durchsickerte Ruine im heutigen Benin-Stadt, für die Obaseki als Gouveneur die Verantwortung trägt. Der Oba hat an die Bundesregierung von Nigeria appelliert, die Aufsicht über die Artefakte zu übernehmen, solange er andere Finanzmittel sucht - der Tatsache zum Trotz, dass keine Regierung während der vergangenen sechzig Jahren auch nur einen Finger krumm gemacht hat, um unser kulturelles Erbe zu bewahren."

Weiteres: Patricia Lockwood freut sich über die Wiederauflage von Marian Engels Siebzigerjahre-Kracher "Bär", der von der Beziehung einer Historikerin zu ihrem ursinen Liebhaber erzählt. Lydia Davis gräbt sich durch die über zweitausendjährige Geschichte des südfranzösischen Arles. Und David Runciman liest bei Michael Wolff nach, wie und warum die republikanischen Höflinge Donald Trump noch immer in seinem Wahn bestärken, er habe die Wahl gewonnen.

Elet es Irodalom (Ungarn), 06.08.2021

Ist Ungarn verloren? Chefredakteur Zoltán Kovács, wirft einen ernüchterten Blick auf Viktor Orbans Regime: "Seit zehn Jahren stehen wir im Krieg mit der Europäischen Union. Der in der fieberhaften Suche nach Staatsfeinden und Wählerstimmen so erfolgreiche Viktor Orbán sucht stets die Zerreißproben: Was wird Brüssel noch ertragen? (…) Nachdem seine natürliche Parteienfamilie genug von seinen Tabubrüchen hatte, versucht er jetzt eine mehr als fragwürdige rechtsextreme Truppe zu organisieren. Wenn es nur um seine eigene Zukunft und die Zukunft seiner Partei ginge, wäre Mitleid angesagt. Aber als Ministerpräsident zieht er das gesamte Land in eine vernebelte Zukunft. Während er sich mit Marine Le Pen und manchen verrückten nordeuropäischen Nazis verbündet, sucht er gleichzeitig Gunst Putins und der chinesischen Führung. (…) Er fängt mit zweifelhaften defizitären Projekten an, etwa der Ansiedlung der chinesischen Fudan Universität, der Erweiterung des AKW Paks oder der chinesische Eisenbahn zwischen Belgrad und Budapest. Zugleich verjagt er die Central European University, ein Ende der schmutzigen Regierungsgeschäften ist nicht abzusehen, der Abhörskandal Pegasus tobt, das Land versinkt in Korruption. Im Amtsblatt aber erscheint eine Regierungspublizistik, in der angekündigt wird, dass alle pandemiebedingten Maßnahmen für die Feierlichkeiten am 20. August, dem Nationalfeiertag, ausgesetzt werden. (...) Es werden keine Impfnachweise verlangt, es wird keine Begrenzung der Teilnehmer geben, jeder kann kommen, nur über die Delta-Variante soll kein Wort gesagt werden."

Current Affairs (USA), 25.07.2021

Die Unterhaltungsbranche, der Medien- und der Kulturbetrieb achten zunehmend auf Diversität - und dies insbesondere unter den Eindrücken des Mordes an George Floyd. Das ist zwar zunächst einmal zu begrüßen, schreibt Bertrand Cooper - doch zeigt sich ihm beim genauer Durchsicht vieler Biografien, dass davon in erster Linie die innerhalb der schwarzen Bevölkerung ohnehin schon privilegierte Mittel- und Oberschicht mit ihren Ivy-League-Abschlüssen und -Netzwerken profitiert. Jemand wie George Floyd selbst, dessen Lebensumstände von Armut geprägt waren, hätte nicht die geringste Aussicht darauf, in den Genuss dieser neuen Offenheit zu kommen, um die sich im Zuge seines Todes alle Player händeringend bemühen. Schlimmer noch: Die schwarze Bevölkerung werde dadurch homogenisiert. Menschen, die in Wohlstand aufgewachsen sind, werden zu Repräsentanten einer Erfahrung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ausgrenzung erklärt, die ihrer eigenen Biografie überhaupt nicht entspricht. "Ich selbst stamme aus schwarzer Armut", schreibt Cooper. "Was uns plagt, hat aber nichts mit uns zu tun - es hat zu mit 'Race', der klassenfreien Abstraktion 'der schwarzen Bevölkerung', der 'schwarzen Communitys', der 'schwarzen Familien'. Dies ist die einzige Repräsentation, die wir erfahren und so lange dieses Framing fortbesteht, wird kein Ausschluss, keine Unterdrückung, kein Leid, das wir durchstehen, verstanden werden als etwas, für das eine spezifisch gedachte Lösung als berechtigt angesehen wird. Die Leichtigkeit, mit der Ta-Nehisi Coates Formen der Unterdrückung anspricht, die vorherrschend in Armut lebende Schwarze betrifft, um dann zu klassenblinden Statements zur 'schwarzen Erfahrung' zu wechseln, ist allgegenwärtig. ... Die Populärkultur verkörpert dieses Problem genauso wie die höhere Bildung, was insofern ein Problem ist, da mangelnde Gleichberechtigung immer ein Problem ist. Der zentrale Stellenwert aber, den sie in Amerikas Verständnis der schwarzen Bevölkerung einnimmt, und die Tatsache, dass die Populärkultur die besten Plattformen bietet, um Geschichten über uns zu erzählen, verleiht der aktuellen Lage jedoch eine ganz besonders trostlose und düstere Atmosphäre."
Archiv: Current Affairs

Himal (Nepal), 04.08.2021

In Pakistan mischt sich das Militär wieder stärker in die Politik ein, berichtet Salman Rafi Sheikh. Ziel sei es, die Autonomie der Provinzen, die 2010 durch den 18. Verfassungszusatz garantiert wurde, wieder einzuschränken: "Im Jahr 2021 hat das pakistanische Militär die Kontrolle über die Politik deutlich zurückgewonnen, wobei derzeitige und ehemalige Militärangehörige die zivilen Institutionen überschwemmen und praktisch ein 'hybrides Kriegsrechtsregime' bilden. Während die Militarisierung des Gemeinwesens im Allgemeinen die Demokratie schwächt, hat die dominante Rolle des Militärs im pakistanischen Kontext auch schwerwiegende Auswirkungen auf die multiethnische Föderation und untergräbt die Rechte und die Autonomie der Provinzen, die durch den 18. Zusatz zur Verfassung garantiert sind. Es ist allgemein bekannt, dass das pakistanische Militär eine zentralisierte und einheitliche Regierungsform mit einem Präsidialsystem bevorzugt. ... In meinen Gesprächen mit ehemaligen Militärs, die regelmäßig in verschiedenen Medien als 'Analysten' den Standpunkt des Militärs vertreten, wurde deutlich, dass das militärische Establishment starke Vorbehalte gegen den 18. Zusatz hat. Dies liegt nicht nur daran, dass die Bundesprovinzen dadurch finanziell mächtiger geworden sind und das Militär nicht mehr unbegrenzt auf die Staatskasse zugreifen kann, sondern auch daran, dass die Änderung es den Provinzen ermöglicht, ihren eigenen Lehrplan zu erstellen, wodurch sie regionale oder ethnische Identitäten auf Kosten einer nationalen 'pakistanischen Identität' fördern können. Damit weichen sie von einer bestimmten Vision der pakistanischen nationalen Identität ab, die alle pakistanischen Militärregime mit politischen und militärischen Mitteln zu festigen suchten."
Archiv: Himal
Stichwörter: Pakistan

The Nation (USA), 06.08.2021

Fast alle MitstreiterInnen aus Alexej Nawalnys engerem Umreis sind verhaftet oder außer Landes geflohen. Vadim Nikitin porträtiert die homosexuelle russische Oppositionskandidatin Violetta Grudina, die - obwohl kerngesund - in ein Covid-Hospital eingewiesen wurde, weil sie es gewagt hatte, in Murmansk gegen Putins Partei 'Einiges Russland' anzutreten: "Es fällt schwer, in Grudina nicht einen Don Quijote oder eine Masochistin zu sehen. Zurückhaltung ist ihr fremd, sie geht so frontal und kompromisslos gegen ihren viel mächtigeren Gegner vor, dass sie eine disproportionale Reaktion zu provozieren scheint. Und tatsächlich gibt es einen langen und kraftvollen Strang von Märtyrern unter Russlands radikalen Politikern, der bis zur Zarenzeit zurückreicht. Grudina gibt zu, einen utopischen Zug zu besitzen, meint aber, dass Widerstände sie entschlossener machen: 'Vor fünf Jahren stand ich allein auf dem Platz, hielt Plakate hoch, und die Leute sagten, seht nur, wie sie gegen Windmühlen kämpft', erzählt sie. 'Aber wenn ich heute zu einer Protestversammlung aufrufe, kommen Tausend. Wir haben die Politik aus den Küchen geholt.' Trotzdem benutzt Grudina noch immer die Sprache der einsamen Kämpferin, wenn sie ihren modus operandi beschreibt: 'Für mich gibt es keine Komfort-Zone. Ich habe nichts zu verlieren.' In einem Porträt von Masha Gessen im New Yorker beschrieb sich auch Nawalnys Mitstreiterin Ljubow Sobol kürzlich frei heraus als eine Fanatikerin: 'Einer Fanatikerin kann man keine Angst machen', lässt sich Sobol zitieren, die einzige Bedrohung ist für ihn die Desillusionierung. Aber ich glaube an die Gerechtigkeit, und im Glauben an diese Idee kann ich nicht desillusioniert werden.'"
Archiv: The Nation

Merkur (Deutschland), 01.08.2021

Der Blick auf die deutsche Geschichte war immer schon von internationalen Paradigmen bestimmt, schreibt der Historiker Sebastian Conrad: Das historische Narrativ der Nachkriegszeit, das im Holocaust die zentrale Erfahrung des 20. Jahrhunderts sah, werde nun abgelöst durch ein globaleres Narrativ. Konstruktion stecke in beiden: "Angesichts der Ungeheuerlichkeit der Shoah verblasste die kurze Zeit der deutschen Kolonialherrschaft zu einer Fußnote. Das ist auch einer der Gründe dafür, dass Kolonialismus zunächst nur über den erinnerungspolitischen Umweg als Thema salonfähig werden konnte. Der Holocaust fungierte dabei als 'Türsteher': Um Einlass in den Kreis der legitimen Fragestellungen zu erhalten, mussten koloniale Fragestellungen ihre Relevanz gewissermaßen durch den Bezug auf die Gewaltverbrechen des Nationalsozialismus unter Beweis stellen. Das konnte zu Verrenkungen führen. Ein Produkt dieser Konstellation war beispielsweise die Kontinuitätsthese: der Herero-Genozid als Vorläufer des Holocaust, ja sogar in direkter kausaler Ursachenkette. Von dieser These ist in der Forschung nicht viel übriggeblieben. Aber sie zeigt, wie schwer es koloniale Themen hatten, gegen die Dominanz der Erinnerung I anzukommen und überhaupt Gehör zu finden. Seit der Jahrtausendwende, verstärkt noch nach dem 11. September 2001, treten die beiden Erinnerungen I und II immer mehr nebeneinander, beeinflussen sich gegenseitig. Während sich vorher koloniale Themen über den Holocaust definieren mussten, wird heute der Nationalsozialismus bisweilen geradezu als eine Ausprägung des Imperialismus interpretiert. Das ist bislang eine wissenschaftliche Debatte, die in der breiteren Öffentlichkeit noch wenig Resonanz hat. Aber daran sieht man: So wie sich nach 1945 der internationale Rahmen gewandelt hat, innerhalb dessen die deutsche Vergangenheitspolitik zu verorten war, bringen auch heute tiefgreifende gesellschaftliche und geopolitische Verschiebungen das Bedürfnis nach einer erinnerungspolitischen Neuausrichtung mit sich. Die europäische Integration brachte die Erinnerung I mit sich; die Globalisierung, um es verkürzt zu sagen, die Erinnerung II."

Ekkehard Knörer blickt auf das Theater im Lockdown mit all seinen digitalen Manövern zurück und kann eigentlich nur Sebastian Hartmann attestieren, im Digitalen "das Theater als Theater überschritten" zu haben: "Das Hartmann-Theater war für diese Fragestellung und Reflexion schon vor der Pandemie hervorragend präpariert. "Seit seinen Anfängen im unmittelbaren Castorf-Umfeld in den späten neunziger Jahren haben sich Sebastian Hartmanns Inszenierungen vor allem in der neueren Zeit in Richtung einer ganz eigenen Form von Multimedialität entwickelt. In den besten seiner Arbeiten aus den letzten Jahren wird nicht einfach der von Darstellerinnen und Darstellern gesprochene Text aus dem Zentrum gerückt, das wäre ja noch die vertrauteste postdramatische Übung, sondern es wird radikal das Zentrum als solches entfernt. Stattdessen geht es um die Organisation im Grunde gleichberechtigter Elemente, die als Module offen ineinandergefügt sind: Raum und Musik; Kostüm und Text; Intensität und Leerlauf; Festlegung und Improvisation; entstehende Kunst und vergehende, dabei be- und entschleunigte Zeit; aufgezeichnetes projiziertes und in realer Präsenz produziertes Bild; Bewegung und Stillstand von Körpern und Dingen."
Archiv: Merkur

Paris Review (USA), 10.08.2021

Der Schriftsteller Charif Majdalani erzählt in seinem Tagebuch vom Leben in Beirut, immer am Rande der wirtschaftlichen Katastrophe. Eines Abends geht er mit seiner Frau und Freunden essen, am Nebentisch eine Gruppe sehr fröhlicher junger Frauen. Als eine von ihnen versehentlich ihren Cocktail über ihn gießt, sitzen alle bald in einer Runde an den zusammmengeschobenen Tischen: "Eine ihrer Freundinnen erzählte uns, dass sie in Frankreich gelebt hatte, dann aber beschloss, für immer nach Hause zu kommen. Zu diesem Zweck hatte sie das einzige Gut, das sie besaß, verkauft - eine Wohnung in Paris. Mit dem Geld wollte sie hier ein kleines Unternehmen gründen. Aber jetzt war es unerreichbar, und sie hatte das Gefühl, nichts mehr zu besitzen, so wie die meisten von uns hier. Es brachte sie fast zum Lachen. Als sie erfuhr, dass Nayla, meine Frau, Psychotherapeutin ist, wollte sie wissen, ob es normal sei, dass sie keine Angst habe, alles verloren zu haben, und dass sie nur noch koche - in den letzten Tagen habe sie zum Beispiel mit allen möglichen neuen Verwendungsmöglichkeiten von Sumach experimentiert, als Gewürz für Spiegeleier natürlich, aber auch für geschmorten Stör und Rochenflügel. 'Wo findest du heutzutage Rochenflügel?' fragte Pierre, ebenso verblüfft wie wir. 'Ich weiß es nicht', antwortete sie. 'Ich mache virtuelle Rezepte.'"
Archiv: Paris Review
Stichwörter: Beirut, Libanon, Majdalani, Charif

Africa is a Country (USA), 04.08.2021

In Afrika haben in jüngster Zeit mehrere Länder (zuletzt Ghana) unter dem Einfluss christlicher Fundamentalisten die Gesetze gegen Homosexuelle drakonisch verschärft. Aber das ist nicht die ganze Geschichte, es gibt auch Gegenbeispiele, erzählen die Religionswissenschaftler Ezra Chitando und Adriaan van Klinken, die ein Buch zu diesem Thema, "Reimagining Christianity and Sexual Diversity in Africa", veröffentlicht haben. "Mehrere Länder in Afrika, zuletzt Botswana und Angola, haben Homosexualität entkriminalisiert. Auch in Bezug auf die Religion ist die Situation komplexer, als oft angenommen wird. Wie der Historiker Marc Epprecht in seinem Buch 'Sexualität und soziale Gerechtigkeit in Afrika' unter Bezugnahme auf das Christentum, den Islam und die indigenen Religionen dargelegt hat: 'Alle drei Glaubensgruppen in Afrika waren und sind historisch gesehen offener für die Akzeptanz sexueller Unterschiede, als allgemein angenommen wird.'" Neben Südafrikas Erzbischof Desmond Tutu, der Homophobie sehr früh schon zusammen mit Rassismus zu Häresie und Blasphemie erklärt hatte, "enthält unser Buch neun weitere Fallstudien über führende afrikanische Schriftsteller, die das christliche Denken neu interpretieren, über mehrere christlich inspirierte Gruppen, die die religiöse Praxis verändern, und über afrikanische Künstler, die sich auf kreative Weise christliche Glaubensinhalte und Symbole aneignen. Kurz gesagt, das Christentum ist eine wichtige Ressource für eine befreiende Vorstellung und Politik der Sexualität und sozialen Gerechtigkeit im heutigen Afrika."

Ausgesprochen sauer reagiert der Historiker Moses E. Ochonu auf westliche Kommentare zu Afrika, die seiner Ansicht nach in zwei Fallen tappen: Entweder ist Afrika immer nur der Kontinent der Tragödien, der Katastrophen und Kriege. Oder es ist genau anders herum: "Viele westliche Kommentare sind von einem wohlwollenden, avuncularen Rassismus durchdrungen, der Afrika als ein zartes Gebilde betrachtet, dessen schlimme Zustände als unvermeidliche Mühen der Entwicklungszeit heruntergespielt werden müssen. Aber Afrikaner brauchen informierte, wahrheitsgemäße und nuancierte Kommentare, keine die Probleme leugnenden, wohltuenden Plattitüden" Dieser Strang "behauptet, dass Afrikaner nicht nach westlichen Maßstäben für gute Regierungsführung, Sicherheit und Bürgerrechte beurteilt werden sollten, weil Afrikaner angeblich kulturell darauf konditioniert sind, sich an kleinen Dingen zu erfreuen, glücklich zu sein, selbst wenn sie von Problemen geplagt werden, und bescheidenere Ambitionen zu haben als Westler. In der alten Kolonialzeit war dies der Mythos vom 'fröhlichen Afrika', der in dem Buch 'Mistaking Africa' von Curtis Keim und Carolyn Somerville ausführlich erläutert wird."

Außerdem: Ryan Brunette erklärt den Unterschied zwischen dem Aufstand der Peronisten in Argentinien 2001 und dem der Zuma-Anhänger in Südafrika. Benjamin N. Lawrance und Vusumuzi R. Kumalo erzählen die Geschichte des südafrikanischen Autors Dugmore Boetie, der vor der Apartheid nach Botswana (damals Bechuanaland) floh.

NeoText (USA), 07.08.2021

Amerikanische Comics sind bekanntlich extrem arbeitsteilige Produkte: Gefeiert wird meist der Autor, aber daneben gibt es noch den Zeichner, der die Angaben des Autors umsetzt, den Tuscher, der die Zeichnungen ins Reine überträgt, den Letterer, der die Sprechblasen füllt, und ganz am Ende der Produktionskette noch den Koloristen, der die bis dahin nur schwarzweiß vorliegenden Comics überhaupt erst bunt werden lässt. Beziehungsweise sollte man von "der Koloristin" sprechen, denn insbesondere in den Achtzigern war diese oft übergangene Kunst fest in Frauenhand, schreibt Tom Shapira in einer dankenswerter Weise von zahlreichen visuellen Beispielen unterfütterten Würdigung: Julia Lacquement, Tatjana Wood, Adrienne Roy, Michele Wrightson, Richmond Lewis und Lynn Varley hebt er besonders hervor. "Die eine Sache, die alle von ihnen so gut beherrschten, die sie von jenen, die vor ihnen und nach ihnen arbeiteten, abgrenzte und abhob, war die emotionale Resonanz ihrer Arbeit. Realismus war nicht ihr Ziel, zumindest nicht obligatorisch. Ihre Farben dienten konstant dazu, den emotionalen Ton einer Szene zu setzen." Doch während heutzutage keiner mehr ernsthaft auf die Idee käme, etwa schwarzweiße Filme nachträglich zu kolorieren, "erhalten Koloristinnen nicht dieselbe Menge an Respekt. Tatjana Woods lyrische, viszerale und rohe Arbeit an 'Swamp Thing' in den Achtzigern wurde für die Neuausgabe in der 'Absolute Edition' durch eine neue Kolorierung ersetzt, von etwas, das so sämig und schwer ist, dass es die gezeichneten Linien überdeckt und die feine Arbeit der Zeichner und Tuscher ertränkt, in deren Dienst zu stellen sie sich so viel Mühe gemacht hatte. In gewisser Hinsicht spielt es dabei keine Rolle, ob das Werk dadurch verbessert wird (was nicht der Fall ist) - Geschichte ist Geschichte, man löscht sie einfach nicht aus, nur um einem zeitgenössischen Geschmack zu entsprechen." Hier eine von Tatjana Woods berühmtesten Kolorierungen - Swamp Thing in voller, lyrischer Pracht (und hier ein Vergleich der alten - rechts - und neuen Farben - links):


Weitere lesenswerte Artikel dieses wirklich tollen Popkultur-Magazins: Jane Frank würdigt die morbide Kunst von Zdzislaw Beksiński. Sven Mikulec spricht mit Jonathan Hertzberg darüber, entlegene Filme ausfindig zu machen, zu restaurieren und in Nobel-Ausgaben auf BluRay zu veröffentlichen. Chloe Maveal verneigt sich vor dem Comiczeichner José Ortiz und feiert den (auf dem gleichnamigen französischen Underground-Comicmagazin basierenden) Animationsfilm "Heavy Metal". Cole Hornaday erinnert an die im orientalischen Exotismus liegenden Ursprünge der Marvel-Comicfigur Doctor Strange. Und Joseph Gibson erinnert an Pere Portabellas experimentell-essayistischen Dokumentarfilm "Cuadecuc, Vampir", der am Rande der Dreharbeiten zu Jess Francos "Nachts, wenn Dracula erwacht" mit Christopher Lee entstanden ist.
Archiv: NeoText

New York Times (USA), 04.08.2021

In einer fulminanten Reportage (ausgedruckt über dreißig enge Word-Seiten) spiegelt Sarah A. Topol das Schicksal Taiwans in der Protagonistin Nancy Tao Chen Ying, einer Menschenrechtsaktivistin, die sich von Taipeh aus für die Demokratiebewegung in Hongkong einsetzte. Meist bestand ihr Engagement aber trauriger Weise darin, dass sie Mitstreitern aus Hongkong, die ins Exil gehen mussten, die Reise und das Ankommen auf der Insel ermöglichte. Topol erzählt nebenbei die Geschichte Taitwans und spricht die scharfen Widersprüche innerhalb der taiwanesischen Gesellschaft selbst an, die sich aus Festlandschinesen und Einheimischen zusammensetzt und fünfzig Jahre lang von Japan regiert wurde. So ergibt sich ein komplexes Bild und eines von einer Gesellschaft, die möglicherweise bald Opfer einer brutalen Gleichschaltung durch Peking wird. Denn alle fragen sich längst, ob nach Tibet, Xinjiang und Hongkong nun Taiwan dran ist. Schon jetzt "haben die meisten Neuankömmlinge aus Hongkong das Gefühl, dass sie in Taiwan nicht außer Chinas Reichweite sind. Aktivisten wurden bei ihren Reisen nach Taipeh verfolgt, ihre Reisen wurden in der KP-treuen Presse Hongkongs auf den Aufmacherseiten ausgebreitet. Bekannte Exilanten und Aktivisten wurden in Taiwan mit roter Farbe überschüttet. Aegis, ein Restaurant, das Hongkonger unterstützt und anstellt, wurde überfallen. Ein Mann schüttete Hühnerexkremente und Federn über Küche und Mitarbeiter."
Archiv: New York Times
Stichwörter: Taiwan, China, Hongkong, Xinjiang, Kp