Magazinrundschau
Listen aller Mädchen und Frauen
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
17.08.2021. Der Krieg in Afghanistan ist vorbei. Für uns. Für viele Afghanen hat er gerade erst angefangen. Nach 20 Jahren Aufbauarbeit, mit Geld in der Höhe (auf heutige Verhältnisse umgerechnet) des Marshallplans für Deutschland - wie konnte das alles in einem derartigen Desaster enden? Der New Statesman, Spectator, Unherd, der New Yorker und Atlantic suchen nach Antworten.
New Statesman (UK), 15.08.2021

Ido Vock knabbert noch an der Tatsache, dass amerikanische Regierung und die Medien die Realität derart unterschätzt haben, dass sie noch am 12. August glaubten, Kabul könnte sich noch drei Monate gegen die Taliban halten: "Die Regierung Biden wird sich auch fragen lassen müssen, ob der Abzug einer historisch niedrigen Truppenstärke - nur rund 3.500, was einem Höchststand von rund 110.000 im Jahr 2011 entspricht - den Zusammenbruch des afghanischen Staates wert war. Die Verbündeten der USA, die in Afghanistan waren, werden sich fragen, ob es richtig war, dem amerikanischen Beispiel zu folgen und ihre Truppen ebenfalls abzuziehen."
Lynne O'Donnell erzählt von ihrer Flucht aus der Provinz Balkh, die von einer Gouverneurin regiert wurde (sie, ihr Ehemann und der Fotograf Massoud Hossaini flohen mit O'Donnell). Dabei kamen sie auch durch Bamiyan, dessen frisch ernannten Gouverneur O'Donnell interviewte: "Er ließ in unser Gespräch fallen, dass die Taliban, die einen Bezirk in einem abgelegenen Tal kontrollieren, Listen aller Mädchen und Frauen verlangt hatten und sie mit jungen bewaffneten Aufständischen verheiraten wollten. Die Geschichte, die Massoud und ich berichteten, bestätigte die erschreckenden Gerüchte, die seit Beginn des Vormarsches der Taliban im Mai im Umlauf waren. Es gab enorme Gegenwehr. Taliban-Sympathisanten und Trolle beschuldigten uns der Lüge, der Erfindung, der Fake News - und das, obwohl wir über ein halbes Dutzend Quellen sowie Video- und Fotomaterial von unseren Gesprächspartnern verfügten."
Spectator (UK), 16.08.2021

Gut, dass wir raus sind, findet Mary Dejevsky. Vielleicht gab es triftige Gründe zu bleiben, "aber sie kommen fast ausschließlich von einer Seite: im Wesentlichen von der Elite. Hört man sich die Vox-Pops, die Telefonanrufe an, liest man die Kommentare unter dem Strich in den Zeitungen und in Teilen der sozialen Medien, so erhält man eine ganz andere Botschaft. Zusammengefasst lautet diese, dass die Mission immer zum Scheitern verurteilt war. Dass niemand, wie fortschrittlich oder motiviert er auch sein mag, in der Lage war, das afghanische Volk seinem Willen zu unterwerfen; dass der Versuch, Afghanistan zu einem demokratischen Staat nach westlichem Vorbild umzugestalten, ein Irrweg war; dass das Vereinigte Königreich Afghanistan schon vor langer Zeit hätte verlassen sollen, wenn es überhaupt jemals dort hätte sein sollen, und dass, ja, der Preis zu hoch war ... Wieder einmal, so scheint es, gibt es eine Kluft zwischen der Elite und dem Rest - eine Kluft, die für die Machthaber nahezu unsichtbar zu sein scheint. Sie ähnelt der Kluft, in die David Cameron im Zusammenhang mit dem Brexit gestürzt ist".
Unherd (UK), 16.08.2021

New Yorker (USA), 16.08.2021

Robin Wright sieht das Gewicht der USA in der Welt für lange Zeit, wenn nicht gar für immer verspielt: "Amerikas Großer Rückzug ist mindestens so demütigend wie jener der Sowjetunion 1989, ein Ereignis der zum Ende des kommunistischen Reiches beitrug."
The Atlantic (USA), 16.08.2021

Aber wurde wirklich gar nichts erreicht? Die Rückkehr der Taliban ist eine Katastrophe die afghanischen Frauen, schreibt Lynsey Addario. Und trotzdem gibt es Hoffnung: "Heute gibt es eine neue Generation afghanischer Frauen, die sich nicht mehr daran erinnern können, wie es war, unter den Taliban zu leben. 'Sie sind voller Energie, Hoffnung und Träume', sagte mir Shukriya Barakzai. 'Sie sind nicht so wie ich, wie ich es vor 20 Jahren war. Sie sind viel aufmerksamer. Sie kommunizieren mit der Welt. Es ist nicht [das] Afghanistan, das in einem Bürgerkrieg verbrannt wurde. Es ist ein entwickeltes, freies Afghanistan, mit freien Medien, mit Frauen."
George Packer, der Freunde und Kollegen in Afghanistan hatte, ist schlicht verzweifelt über den unglaublichen Bürokratismus, dem afghanische Helfer unterzogen werden, bis sie ein Visa und alle Papiere für die Aus- und Einreise beisammen haben. Hätte man nicht wenigstens das hinbekommen können? "Vielleicht waren die Bemühungen um den Wiederaufbau des Landes von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Aber dass wir die Afghanen im Stich gelassen haben, die uns geholfen, auf uns gezählt und ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, ist eine endgültige Schande, die wir hätten vermeiden können. Die Regierung Biden hat es versäumt, die Warnungen zu Afghanistan zu beherzigen, sie hat nicht mit der gebotenen Dringlichkeit gehandelt - und ihr Versagen hat Zehntausende von Afghanen einem schrecklichen Schicksal überlassen."
Elet es Irodalom (Ungarn), 13.08.2021

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