Magazinrundschau

In gegenseitiger Verklärung

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
31.08.2021. Foreign Affairs fragt, ob Osama bin Laden seinen geostrategischen Zielen näher gekommen ist. Hlidaci pes fragt: Können die Deutschen auch digital? Bookforum sieht mit Bohumil Hrabal und Vladimír Boudnik Bilder in der Materie. En attendant Nadeau ist beeindruckt von Georgi Demidows Erzählungen aus dem Gulag. Im Merkur freut sich Diedrich Diederichsen, dass an den Intersektionen der neuen Theorien die richtigen Karrieren beendet werden.

Foreign Affairs (USA), 13.08.2021

Dieser Artikel kommt seltsam deplatziert und doch genau zum richtigen Zeitpunkt. Geschrieben wurde er vor den jüngsten Ereignissen in Afghanistan, und in ihren Einschätzungen wäre die Autorin Nelly Lahoud heute vielleicht ein bisschen weniger forsch als in den Monaten, als sie ihn schrieb. Berechnet war der Artikel wohl zum Jahrestag des 11. September, und so oder so ist er äußerst faszinierend zu lesen, denn Lahoud hat Brief- und Mailwechel Osama bin Ladens ausgewertet, die die Geheimdienste vor kurzem freigegeben hatten. Bin Laden hat eine Menge angerichtet, aber ist letztlich gescheitert, liest sich Lahouds Resümee: "Die letzten zwei Jahrzehnte haben gezeigt, wie wenig dschihadistische Gruppen am Ende erreichen." Aber am Anfang schildert Lahoud Bin Ladens Ziele, und ihr erster Absatz liest sich im Licht des Rückzugs ein wenig unheimlicher, als sie gedacht haben mag: "Obwohl bin Laden religiös inspiriert war, waren seine Ziele geopolitischer Natur. Al-Qaidas Ziel bestand darin, die gegenwärtige Weltordnung der Nationalstaaten zu untergraben und die historische Umma wiederherzustellen, die weltweite Gemeinschaft der Muslime, die einst durch eine gemeinsame politische Autorität zusammengehalten wurde. Bin Laden glaubte, dieses Ziel durch einen 'entscheidenden Schlag' erreichen zu können, der die Vereinigten Staaten dazu zwingen würde, ihre Streitkräfte aus den mehrheitlich muslimischen Staaten abzuziehen, so dass die Dschihadisten dort von gleich zu gleich gegen autokratische Regimes kämpfen könnten." Ähem, und sind sie diesem Ziel nicht nähergekommen?
Archiv: Foreign Affairs

London Review of Books (UK), 30.08.2021

Thomas Meaney führt mit einer verstörenden Zusammenstellung von Zitaten vor Augen, wie Idealismus, ahnungslose Entschlossenheit und zynisches Kalkül Afghanistan in einen zwanzigjährigen Krieg stürzten, an dessen Ende eine Viertelmillion Tote stehen und die Rückkehr der Taliban an die Macht. Er selbst kommentiert darunter recht kühl: "Den afghanischen Ortskräften droht jetzt das Schicksal von Vietnams Hmong oder Algeriens Harkis. Die Frauen und Mädchen des Landes sind wie eh und je die Spiel-Chips der Kriegslobby. Ihnen droht Gewalt aus allen Richtungen, auch weil der Westen sie instrumentalisiert hat - als Rechtfertigung für die Invasion und als Argument für die fortgesetzte Okkupation, nur um zu offenbaren, wie unbedeutend die langfristige Zukunft der afghanischen Frauen für die amerikanischen Ziele ist. Die Verbesserung ihrer Gesundheit und Bildung unter der amerikanischen Besatzung - wie auch unter der sowjetischen - ist unbestreitbar. Aber diesen Fortschritt in einem Potemkinschen Staat zu befeuern, heißt Menschen zur Schlachtbank zu führen."
Stichwörter: Afghanistan, Algerien, Ortskräfte

Hlidaci pes (Tschechien), 30.08.2021

Wie immer ist der "Blick von außen" aufschlussreich, und so führt Robert Břešťan ein interessantes Gespräch mit dem Diplomaten und Übersetzer Tomáš Kafka, der direkt nach der Wende als Kulturattaché und nun seit 2020 als Botschafter Tschechien in Deutschland vertritt. Sein erster Aufenthalt war "vor dreißig Jahren, kurz nach der deutschen Wiedervereinigung und auch nach dem deutschen Fußball-WM-Sieg, als auch Franz Beckenbauer sagte, die Deutschen seien das glücklichste Volk auf der Erde. Ich habe recht schnell festgestellt, dass dem nicht so ist", so Kafka. "In Wahrheit waren die Westdeutschen mehr oder weniger unzufrieden mit dem Tempo der Wiedervereinigung und der Bereitschaft der Ostdeutschen, sich anzupassen. Und die Ostdeutschen hatten das Gefühl, dass überall eine Art Dankbarkeit von ihnen erwartet wird und dass von ihrer Art zu leben kaum etwas übrigbleibt." Als er aber 2020 wieder nach Deutschland kam, sei noch eine "Ära goldener Zeiten" zu spüren gewesen, "die plusminus mit der Wahl Angela Merkels begonnen hatte. Da waren die Deutschen vielleicht wirklich eine der glücklichsten Nationen der Welt." Dieses Selbstvertrauen habe dann aber recht schnell zu schwinden begonnen, denn Corona habe in Deutschland eine Menge verborgener Mängel aufgedeckt. "Ich würde sagen, die Deutschen waren die Champions der Analog-Ära, aber jetzt in Zeiten der Digitalisierung zeigt sich auf einmal, dass Deutschland nicht sehr weit fortgeschrittten ist. Ebensowenig im Bereich Energie und Klima, wo die Deutschen immer Avantgarde sein wollten." Jetzt hinke man auf einmal hinterher, und es beginne eine neue Ära des Grübelns. Was die deutsch-tschechischen Beziehungen betrifft, erkennt Kafka insgesamt eine positive Entwicklung. Aus dem "Verhandeln" sei "Dialog" geworden. "Wir haben gelernt, offen miteinander zu reden und kennen uns - vielleicht auch dank des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds - inzwischen ganz gut."
Archiv: Hlidaci pes

Bookforum (USA), 12.07.2021

Eine so assoziative, dichte - und gar nicht so lange - Kritik liest man kaum noch. Der Dichter Paul Franz nähert sich Bohumil Hrabals Memoir über den Künstler und Freund Vladimír Boudnik mit Werner Herzogs Film "Die große Ekstase des Bildschnitzers Steiner" von 1974. Steiner, ein Meister des Skisprungs, sieht die Skulptur verborgen in der Materie, aus der sie nur befreit werden muss. Ähnlich ging es dem tschechischen Künstler Vladimír Boudnik, den Hrabal in "Der freundliche Barbar" porträtierte. "Vladimír, der Anfang der 1950er Jahre eine Zeit lang als Untermieter von Hrabal am Stadtrand von Prag lebte, als beide in einem Stahlwerk arbeiteten, ist jede Art von Nüchternheit zuwider. Wie Walter Steiner sieht Vladimír Bilder in der Materie. Vladimír erklärt, was er 'Explosionalismus' nennt, ein künstlerisches Dogma, das eine neue Synthese zwischen Geist und Materie anstrebt, und sagt jedem, der ihm zuhört, dass 'nicht jeder ein Künstler sein kann, aber jeder kann ein Bild vollenden, das er in einem Riss in der Wand sieht'. Sein tiefster Wunsch ist es jedoch, mit den Materialien in gegenseitiger Verklärung zu verschmelzen, wie Hrabal es beschreibt: 'Rohmaterial, das direkt in die Zone der Transzendenz injiziert wird'. Das Bild ist das eines Einspritzmotors. Transzendenz bedeutet in diesem Fall Geschwindigkeit und Verbrennung."

Leider ist der "Freundliche Barbar", der 1989 von Petr Koliha verfilmt wurde, nicht auf Youtube zu finden (nur diese zwei Minuten), dafür Werner Herzogs Film:



Gefunden haben wir auch - dank 3 quarks daily - die Verfilmung von Hrabals "Liebe nach Fahrplan", auf Tschechisch, mit englischen Untertiteln und in hervorragender Qualität:

Archiv: Bookforum

En attendant Nadeau (Frankreich), 28.08.2021

Der Name Georgi Demidow ist in Deutschland noch völlig unbekannt. Die Genfer Editions des Syrtes, ein auf russische Literatur spezialisiertes Verlagshaus, bringen jetzt den ersten Band einer mehrbändigen Ausgabe von Demidows Schriften aus dem Gulag heraus. In einem fingierten Prozess als "trotzkistischer Terrorist" verurteilt, verbrachte Demidow 14 Jahre in den Gulags von Kolyma und West-Sibiriens. Warlam Schalamow hat ihn in zwei Erzählungen als Ingenieur Kripejew verewigt und schilderte ihn als einen der mutigsten Menschen, die ihm je begegnet waren. Später zerstritten sie sich, möglicher Weise auch darüber, wie der Gulag literarisch zu bewältigen sei. Dabei ähnelten sich ihre Herangehensweisen teilweise, schreibt David Novarina: Denn beide Autoren wählten die Form kürzerer erzählerischer Texte. Allerdings schildert er Demidows Novellen als im traditionelleren Sinne literarisch: Anders als Schalamow habe Demidow den Glauben an das Funktionieren literarischer Formen nicht aufgegeben: Die Novelle bleibe bei ihm eine Erzählung, die von einer "unerhörten Begebenheit" handelt. Den Tod allerdings "hätte der Gulag-Überlebende niemals beschönigt. Demidow erwähnt den Friedhof eines Bergbaulagers: 'In einer Baracke der Sterbenden, die ganz nah am Friedhof lag, fand man Suppenreste mit Bruchstücken menschlicher Knochen. Die morgendlichen Appelle hatten aber niemals eine Unterzahl angezeigt. Es handelte sich also nicht einfach um Kannibalismus, sondern um das Essen von Toten.' Der Macht von Demidows Zeugenschaft kann man sich kaum entziehen." Novarina beteuert auch gleich: "Wer auch immer einen leichten Schrecken oder einen inneren Widerstand verspürt, wenn er er diesen Erzählungsband öffnet, wird bald gefangen sein von den klug konstruierten Erzählungen Demidows."

Merkur (Deutschland), 01.09.2021

Diedrich Diederichsen, Herold der Intersektionalität im deutschen Pop-Journalismus, wischt alle Zweifel an ihrer Richtigkeit vom Tisch, rückt ihre KritikerInnen in die Nähe der Querfront und erkennt die Vorzüge der aktuellen Debatte auch darin, dass sie Karrieren beendet: "Das Kulturleben der ganzen Welt, man erkennt das an den (überwiegend visuellen) Kunstformen, die tatsächlich auf der ganzen Welt präsent sind und diskutiert werden, macht eine massive, und es ist vielleicht nicht einmal falsch zu sagen: revolutionäre Veränderung durch, die auf zwei bis drei Ebenen läuft, die miteinander verschränkt sind. Auf einem Makrolevel stellt sich in allen kulturellen Bereichen die Frage, was von ihnen legitimerweise übrigbleiben kann, wenn sie im weiteren Sinn ganz dekolonisiert sein werden. Welche Vorstellungen von Geschichte, Fortschritt, Zukunft, Modernität, Ökologie würden eine Revision der eurozentrischen Philosophie und Geschichtsschreibung überleben? Auf einem Mesolevel betrifft das die Zusammensetzung, Firmenpolitik, Hierarchien, Karrierewege und Autoritäts- und Legitimitätsbegriffe der kulturellen Institutionen - denn das ist ja meistens der wahre Hintergrund von normativen, als 'Darf man noch?' übersetzten Fragen; dass diese Debatten institutionelle Konsequenzen haben, die sie früher, als sie an verschiedenen gegenkulturellen und minoritären Orten auch schon geführt wurden, nicht hatten."
Archiv: Merkur

Elet es Irodalom (Ungarn), 27.08.2021

Der Philosoph Gáspár Miklós Tamás schreibt über die Lage der grünen Bewegungen in Europa: "Mit dem Ende der neuen Linken (seit Anfang der 1980er Jahren) verschwand auch der utopische Inhalt der Umweltproblematik. Obwohl es offensichtlich ist, dass nach den Faschismen und später post-stalinistischen Regimen und religiösen (meist islamistischen) Fundamentalismen am Ende auch die parlamentarisch-marktwirtschaftlichen Systeme zum Scheitern verurteilt sind. Einzigartig dabei ist, dass es ohne Alternativen, ja gar ohne alternativen Gedanken passiert. Die heutigen grünen Bewegungen bieten keine alternativ organisierten Gesellschaften an, sondern versuchen die (bisher gescheiterten) Staatsgebilde davon zu überzeugen, dass diese die notwendigen Maßnahmen einführen, obgleich sie, die Grünen nicht mal in der Lage sind, Wahlen zu gewinnen - was wiederum bedauerlich ist. (...) Der Römischer Bericht 'Die Grenzen des Wachstums' ist beinahe 50 Jahre alt. Eine Wirkung auf die Politik hatte er nicht. Der letzte Zweig der neuen Linken, nämlich die grünen Bewegungen (welche den Bricht ernst nahmen) lavieren von Kompromiss zu Kompromiss und sind der Lieblingskoalitionspartner von konservativen Parteien. Und die am Rande der Vernichtung stehenden (oder sich auf den letzten Verrat vorbereitenden) westlichen sozialdemokratischen Parteien haben die 'demokratische Planung' längst aufgegeben."

New Criterion (USA), 01.09.2021

Es gab mal eine Zeit, da bezog sich Pop noch auf die "hohe" Kultur, und sei es, um sich über sie lustig zu machen: "Roll over Beethoven". Heute hat man längst davon abgelassen. Die Ignoranz, die regiert, ist allumfassend, schreibt der Lyriker und Journalist Adam Kirsch, der auf eine seltsame Art an der Unterscheidung zwischen "U"und "E" festhält, als hätte sich nicht längst erwiesen, dass auch populäre Künste zu komplexen Aussagen fähig sind. Dennoch steht für Kirsch Dostojewski bis heute himmelhoch über den Doors, und er versucht eine Art dandyistisches Manifest zu formulieren: "Kultur" sei heute "Gegenkultur": Er fordert von ihren Anhängern ein Bekenntnis, das "einen bewussten Akt der Ablehnung des Mainstreams mit sich bringt. Die Populärkultur - Fernsehsendungen, Popsongs, Memes - ist die erste Sprache eines jeden Amerikaners, die wir uns aneignen, ob wir wollen oder nicht. Die Hochkultur zu verstehen und zu schätzen zu lernen, ist wie das Erlernen einer zweiten Sprache, was bewusste Anstrengungen erfordert (und Amerikaner tun das bekanntermaßen nicht gerne )."
Archiv: New Criterion
Stichwörter: Hochkultur, Kanon, Gegenkultur