Magazinrundschau

Gut, aber nutzlos

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
07.09.2021. Der New Yorker lässt sich von der Verhaltensgenetikerin Kathryn Paige Harden in die Gen-Lotterie einweihen. Rest of the World erklärt, wie fatal die sozialen Medien für religiöse Minderheiten wie die Ahmadiyya in Pakistan sind. In Atlantic geißelt Anne Applebaum den neuen Puritanismus. Vice fragt erstaunt, warum sich so wenige Amerikanerinnen für die neuen Abtreibungsgesetze interessieren. Die London Review erklärt, warum Tony Blair so verantwortlich für den Niedergang Nordenglands nach dem Kohleausstieg ist wie Margaret Thatcher. Eurozine zählt die Polizei in der Türkei.

New Yorker (USA), 07.09.2021

Gideon Lewis-Kraus stellt die Verhaltensgenetikerin Kathryn Paige Harden vor, die in einen Zweifronten-Krieg zwischen rechten und linken Wissenschaftlern und Social-Media-Kriegern geraten ist. Harden möchte mit ihrem Buch "The Genetic Lottery: Why DNA Matters for Social Equality" die Diskussion über Genetik auf eine neue Grundlage stellen. Genetische Unterschiede gibt es, sagt sie, und es ist wichtig, sie zu verstehen, gerade wenn man Ungleichheit bekämpfen will: "Die ultimative Behauptung von 'The Genetic Lottery' ist ein außerordentlich ehrgeiziger Akt von moralischem Unternehmertum. Harden argumentiert, dass eine Anerkennung der Rolle des einfachen genetischen Glücks - neben all den anderen willkürlichen Lotterien der Geburt - uns als Gesellschaft eher dazu bringen wird, dafür zu sorgen, dass jeder die Möglichkeit hat, ein Leben in Würde und Komfort zu genießen. Sie schreibt: 'Ich denke, wir müssen die falsche Unterscheidung zwischen 'Ungleichheiten, für deren Beseitigung die Gesellschaft verantwortlich ist' und 'Ungleichheiten, die durch biologische Unterschiede verursacht werden' aufheben.' Sie zitiert Forschungsergebnisse, die zeigen, dass die meisten Menschen viel eher bereit sind, Umverteilungsmaßnahmen zu unterstützen, wenn Chancenunterschiede als willkürlich ungerecht - und tiefgreifend - empfunden werden. ... Die Perspektive der 'Genblindheit', so glaubt sie, 'hält den Mythos aufrecht, dass diejenigen von uns, die im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts 'erfolgreich' sind, dies in erster Linie durch unsere eigene harte Arbeit und Anstrengung erreicht haben, und nicht, weil wir zufällig die Nutznießer von Geburtsunfällen - sowohl umweltbedingten als auch genetischen - waren.'" Dennoch wird sie von vielen linken Wissenschaftlern kritisiert, die befürchten, die Genforschung könne der Eugenik die Türen öffnen.

Weitere Artikel: Amia Srinivasan erzählt die Geschichte des Feminismus anhand der am heißesten umstrittenen Fragen über die Rolle des Kapitalismus, der Pornografie, Sex Positivity und - als Schwerpunkt - Transfrauen (das Recht auf Abtreibung spielt in ihrem Essay interessanterweise überhaupt keine Rolle). Anand Gopal schickt eine Reportage über afghanische Frauen, die sich gegen den Westen wenden. Dexter Filkins fragt, ob das Kriegsrecht mit seinen Regeln nicht paradoxerweise die Grausamkeit des Krieges verschärft hat.
Archiv: New Yorker

Vice (USA), 02.09.2021

Viele Amerikanerinnen können immer noch nicht so recht glauben, dass die neuen Abtreibungsgesetze in Texas und anderen Bundesstaaten auch sie betreffen könnten, lernt Carter Sherman. "In den letzten zehn Jahren war die Reaktion auf den koordinierten Angriff der Konservativen auf die Abtreibung bestenfalls gedämpft, obwohl es den Abtreibungsgegnern gelungen ist, seit 2011 mindestens 566 Abtreibungsbeschränkungen zu erlassen. Viele dieser Einschränkungen sind lästig und verstricken sich in der Art von verwirrender Bürokratie, die die Menschen reflexartig wegschauen lässt." Dennoch wundert sich Sherman, wie wenig das Thema ernst genommen wird. "Als Alabama 2019 ein Gesetz zum Verbot fast aller Abtreibungen verabschiedete, ging ein Aufschrei durch das Land. Tausende von Dollar flossen in Fonds, die Menschen helfen sollten, für Abtreibungen zu bezahlen. Rihanna twitterte sogar ein Foto der weißen, männlichen Abgeordneten, die das Verbot befürwortet hatten. 'Das sind die Idioten, die Entscheidungen für FRAUEN in Amerika treffen', schrieb die Sängerin. Der Tweet erhielt fast eine halbe Million Likes. Doch als Arkansas und Oklahoma in diesem Jahr fast identische Gesetze verabschiedeten, schwiegen die Popstars, wie auch der Rest der Öffentlichkeit, weitgehend. Als langjährige Berichterstatterin zu reproduktiven Rechten bin ich es gewohnt, dass die Menschen Abtreibungsbeschränkungen achselzuckend hinnehmen, aber ich war dennoch erstaunt über das Abgleiten von Empörung im Jahr 2019 zu Gleichgültigkeit im Jahr 2021. Obwohl das texanische Verbot jetzt einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, haben viele Menschen erst realisiert, was passiert ist, nachdem der Oberste Gerichtshof es hat passieren lassen, nachdem es zu spät war, um zu verhindern, dass Mob-Justiz zum Gesetz des Landes wird."

Sehr lesenswert dazu in The Nation: Richterin Sonia Sotomayors Minderheitenvotum gegen die Entscheidung der Mehrheit im Supreme Court, das Gesetz in Texas durchgehen zu lassen.
Archiv: Vice

Magyar Narancs (Ungarn), 01.09.2021

Der Schriftsteller und Humorist Zoltán Kőhalmi spricht im Interview mit Orsolya Karafiáth über gute und schlechte Witze sowie über Witze in Not. "Ich fordere bei jedem Witz das Niveau ein. Internetkunst, wie jede Volkskunst spült nicht zwangsläufig das Beste an die Oberfläche, aber es ist trotzdem ein Grundprinzip von mir, dass man in jeder Situation lachen muss. Selbst im größten Weltbrand sind Witze entstanden und sehr oft waren die Witze das Einzige, was den Geist der Menschen vor der Zerrüttung bewahrte. Offensichtlich ist es keine Kämpfereinstellung, keine Revolutionsanführer-Attitüde, doch eine Überlebenstechnik. Es ist nicht die Verantwortung des Humoristen, wer den durch ihn kreierten Witz wie und wofür verwendet. (...) In jedem guten Witz steckt Schmerz und mir waren stets jene Witze wertvoll, die in Notsituationen entstanden sind."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Volkskunst

London Review of Books (UK), 06.09.2021

Den Ausstieg aus der Kohleindustrie hat Britannien schon hinter sich. Florence Sutcliffe-Braithwaite bespricht eine Reihe Neuerscheinungen zum Thema und betont, dass die Deindustrialisierung nicht zwangsläufig zur Degradierung von Arbeitern und ihren Rechten führen musste. Es war die Politik von Margaret Thatcher und Tony Blair, die den Wandel in den nordenglischen, schottischen und walisischen Bergbauregionen so brutal werden ließ: "Tony Blair machte 1995 Schluss mit dem Bekenntnis der Partei zu einer staatlichen Kohleindustrie; im selben Jahr wurde privatisiert, was von ihr noch übrig war. Beynon und Hudson behaupten, dass New Labour jede Vorstellung vom 'Staat als Akteur in der Ökonomie' aufgegeben hatte und kritisieren scharf die Industriepolitik der Partei, die für die Kohlegebiete wenig mehr tat als Anreize für multinationalen Konzerten zu schaffen, ihre Produktionsstätten, Lager und Service-Center in die Regionen zu verlegen. Das Umwerben multinationaler Konzerne war auch zuvor schon Regierungsstrategie gewesen, doch der technologische und globale ökonomische Kontext unterschied sich: Die Fertigung erforderte mittlerweile viel weniger Arbeiter als in der Hochzeit des Fordismus, die Gewerkschaften waren geschwächt und New Labour tat wenig, um dies zu ändern. Vielmehr sollten niedrige Löhne und ruhig gestellte Belegschaften internationale Konzerne anziehen. In den achtziger, neunziger und nuller Jahren verlegten die Unternehmen tatsächlich Produktion und Dienstleistungen an gewinnträchtigere Orte. 1987 schloss Caterpillar seine alte Fabrik in Uddingston, nur vier Monate nachdem die britische Regierung dem Unternehmen acht Millionen Pfund Beihilfe für einen neuen Standort angeboten hatte. New Labours zweite Strategie bestand in der Schaffung von Wachstumszentren - Agglomeration war das Schlagwort -, aber das half den Kohleregionen wenig, denn solche Hubs formieren sich in der Regel um Städte herum. Die Folge für die Kohleregionen war, dass qualifizierte, gut bezahlte Arbeitsplätze mit anständigen Bedingungen ersetzt wurde durch weniger qualifizierte und schlechter bezahlte, prekäre Jobs. Kohlegruben und Fabriken wurden ersetzt durch Call Center, Logistiklager und Outlet-Zentren."

Weiteres: Jan-Werner Müller erklärt das Humboldt-Forum zum preußischen Disneyland. Andrew Cockburn wirft einen neuen Blick auf die Kuba-Krise.

Eurozine (Österreich), 06.09.2021

In einem Beitrag des Magazins beklagt Tugba Özer die Zunahme von Polizeigewalt in der Türkei und sucht nach Erklärungen: "Polizeigewalt hat in der Türkei Tradition, aber sie nimmt zu. Diejenigen, die für Gerechtigkeit, Gleichheit und Demokratie auf die Straße gehen, sind es gewohnt, von der Polizei drangsaliert zu werden … Die AKP verstärkt die Polizeikräfte seit den 'Erfolgen' des autoritären Regimes während der Gezi Proteste … Nach einer Erhebung von Eurostat zwischen 2016 und 2018 hat die Türkei die meisten Polizeibeamten pro Kopf in der EU. Menschenrechtsorganisationen stufen die Türkei als Polizeistaat ein. Frauen die gegen Femizid, Arbeiter oder Kurden, die für ihre Rechte auf die Straße gehen wollen, LGBTQ+ Menschen, die ums Überleben kämpfen - all diese marginalisierten Gruppen sind von der Gewalt betroffen … Die türkische Regierung versucht in der Krise verzweifelt, ihre Macht zu erhalten. Zu ihren Mitteln gehören die Abkehr von der Istanbul Konvention und Gewalt gegen LGBTQ+ Menschen. Mit ihrem Vorgehen gegen politische Oppositionelle und jeder Form von Dissidenz, hofft die führende Partei religiöse und konservative Wähler zu gewinnen. Es scheint, als wäre die Regierung Erdogan bei abnehmendem Wählerzuspruch inzwischen bereit, auch drastischere Mittel zu ergreifen. Aber trotz aller Furcht vor der Gewalt bleibt die Straße der entscheidende Ort für den Kampf für Rechte und Demokratie."
Archiv: Eurozine
Stichwörter: Lgbtq, Kurden, Femizide, Polizeigewalt, Akp

Rest of World (USA), 07.09.2021

Die Ahmadiyya ist eine Religionsgemeinschaft in Pakistan, die im späten 19. Jahrhundert auf dem indischen Subkontinent entstand und derzeit über vier Millionen Mitglieder in Pakistan zählt. Sie betrachten sich selbst als Muslime, erzählt Alizeh Kohari, von der Mehrheitsgesellschaft werden sie allerdings nicht als solche anerkannt, wie der 25-jährige Siraj, selbst Ahmadi, im Gespräch von seinen Kollegen erfahren musste, die einen Teenager dafür bewunderten, dass er den wegen Blasphemie angeklagten 57-jährigen Ahmadi Tahir Ahmad Naseem im Gerichtssaal erschossen hatte. "Die meisten Ahmadis in Pakistan führen ein Schattendasein und halten sich bedeckt. Viele geben sich außerhalb der Gemeinschaft nie zu erkennen: Jeder Ahmadi kennt schließlich jemanden, der aus der Universität, von der Arbeit oder aus dem Land gejagt wurde, nachdem er geoutet wurde. In Pakistan steht es unter Strafe, wenn ein Ahmadi aus dem Koran liest oder lehrt oder seine Gebetsstätte als 'Moschee' bezeichnet. Der Teenager, der Naseem getötet hat, wurde als Held gefeiert: Ein Provinzparlamentarier änderte sein Facebook-Profilbild zu dem Teenager, der mit Rosenblättern beworfen wurde; Polizeibeamte posierten mit ihm auf der Ladefläche eines Polizeiwagens - einige lächelten, einer hielt den Daumen hoch." Besonders fatal für die Ahmadis sind inzwischen die sozialen Medien, so Kohari in ihrer Reportage. "Die Verschleierung der eigenen Ahmadi-Identität auf Facebook kann eine Herausforderung sein. Ahmadi-Nutzer beschreiben die Erschöpfung, die sie empfinden, wenn sie den ständigen Aufforderungen von Facebook, immer mehr zu teilen, ausweichen müssen: Sie entfernen die Markierung von Fotos, löschen Einladungen zu Veranstaltungen und Seiten, vermeiden es, sich bei Freunden anzumelden, und nehmen nicht an Livestreams teil. Yawar zum Beispiel erinnert sich, dass er sein Facebook-Profil kurz vor seinem Umzug nach Karatschi gesäubert und alle Informationen gelöscht hat, die ihn verraten könnten. Wenn er sein Zuhause besuchte, war er besonders vorsichtig: keine Selfies bei der Eid-Gemeinde, zum Beispiel. 'Man weiß ja nie, wer was mitbekommt.' Jahrelang wussten seine engsten College-Freunde nicht, dass er Ahmadi war."
Archiv: Rest of World

Le Monde (Frankreich), 05.09.2021

Lorraine de Foucher erzählt in einem Longread die todtraurige Geschichte der Shaïna Hansye, die im Alter von 15 Jahren mit Messerstichen schwer verletzt und bei lebendigem Leib verbrannt wurde, weil sie schwanger war. Es ist eine der Geschichten, die in den Vorstädten von Paris spielen. Shaina, deren Eltern aus Mauritius stammen, war ein normales Mädchen, das sich gerne schminkte. Sie wurde von Jungs aus der Banlieue zum ersten Mal im Alter von 13 Jahren vergewaltigt. Dann galt sie unter den Jugendlichen als die leicht zu habende "Nutte" des Viertels. Sie freundete sich mit dem 17-jährigen Omar O. an, der sie schwängerte und im Verdacht steht, sie ermordet zu haben. O. kam in Untersuchungshaft in ein Jugendgefängnis. Dort soll er derart mit seiner Tat geprahlt haben, "dass ein anderer Mitgefangener seiner Freundin am Telefon davon erzählt hat - das Gespräch wurde von der Gefängnisverwaltung aufgezeichnet. 'Was ist der schwerste Fall bei euch?', fragt sie. 'Ein Kerl, er hat ein Mädchen umgebracht und alles, er hat sie verbrannt (...). dieser Penner sitzt hier! Alles nur, weil er sie ohne Kondom gefickt und geschwängert hat. Sie war eine Hure. (...) Und er brüstet sich damit. Wenn er eine zweistellige Strafe bekommt, werden wir sehen, ob er damit prahlen wird...'. Derselbe junge Mann bestätigte dem Untersuchungsrichter, dass Omar O. ihm gesagt hatte, dass er 'lieber dreißig Jahre bekommen würde, als der Vater eines Hurensohns zu sein'. Die Verteidigung des Angeklagten beharrt, dass Häftlinge 'aussagen könnten, um Straferleichterung zu bekommen'." Dieser Fall, so Foucher, hat in Frankreich kaum Aufsehen erregt.
Archiv: Le Monde
Stichwörter: Paris, Banlieue, Femizide

The Atlantic (USA), 01.10.2021

Es ist gut, dass sich die gesellschaftlichen Codes verändert haben, dass die westlichen Gesellschaften weniger sexistisch, weniger rassistisch geworden sind, betont Anne Applebaum in einem großen Essay, in dem sie nichtsdestotrotz den neuen Puritanismus geißelt, der Amerikas Medien und Universitäten beherrscht und der sie an die Zeit erinnert, als Osteuropa sowjetisiert wurde - nicht durch Zang und Gewalt, sondern durch enormen Gruppendruck. Applebaum zeichnet ein Bild von einem entfesselten Online-Mob einerseits und einer illiberalen Universitätsbürokratie anderseits, die sich überbieten in Konformismus, Karrierismus und Ignoranz gegenüber rechtsstaatlichen Prinzipien. Und sie lässt etliche Personen zu Wort kommen, die in den vergangenen Jahren ihre Stelle verloren haben: "Die Leute hören auf, mit einem zu reden. Man wird toxisch. 'In meinem Department gibt es Dutzende von Kollegen, doch im vergangenen Jahr habe ich mit keinem einzigen gesprochen', sagt ein Akademiker. 'Ein Kollege, mit dem ich zehn Jahre lang mindestens einmal pro Woche zu Mittag gegessen habe, weigerte sich überhaupt noch mit mir zu reden, ohne eine einzige Frage zu stellen.' Ein anderer rechnet vor, dass von den etwas über zwanzig Mitarbeitern in seinem Department noch 'zwei mit ihm sprechen, 'einer von ihnen hat keinen Einfluss, der andere geht bald in Rente'. Ein Journalist erzählte mir, dass sich seine Bekannten, nachdem er gefeuert worden war, in drei Gruppen teilten. Die erste Gruppe, die der 'Helden', die auf ein faires Verfahren bestand, bevor man das Leben eines Menschen beschädigt, und die zu ihren Freunden stehen, war sehr klein. Dann gibt es die zweite Gruppe der 'Schurken', die glaubt, man habe sein Leben verwirkt, sobald nur eine Anschuldigung gemacht wird'. Einige alte Freunde oder Menschen, die er für Freunde hielt, schlossen sich sogar den öffentlichen Angriffen an. Aber die Mehrheit gehörte zur dritten Gruppe: 'Gut, aber nutzlos. Sie glauben nicht unbedingt das Schlechteste von einem und sie würden Dir gern ein faires Verfahren wünschen, aber naja, genaues wissen sie ja nicht. Sie haben schon Mitgefühl, aber einfach keine Zeit, Dir zu helfen. Oder zu viel zu verlieren.'" Einen Ausweg hat Applebaum auch nicht zu bieten, dafür die düstere Prognose, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die Methode des public shaming von rechten Agitatoren übernommen wird.

Hunderttausende Afghanen und Afghaninnen haben das Land mittlerweile aus Angst um ihr Leben verlassen, vor allem natürlich die Gutausgebildeten, notiert Yasmeen Serhan mit Unbehagen, denn dieser Exodus bedeutet nicht nur einen schweren Schlag für die Taliban: "Es ist auch ein schwerer Schlag für die Afghanen selbst. Ohne all diese Ärzte, Ingenieure, Akademiker und öffentlichen Angestellten werden viele Institutionen und grundlegende Dienste, die das Land am Laufen halten, nahezu sicher zusammenbrechen."
Archiv: The Atlantic

Deník Referendum (Tschechien), 03.09.2021

Der Künstler Pavel Karous bedauert, dass aus Prag nach und nach Gebäude des sogenannten Brutalismus verschwinden, und ruft zum Protest gegen den aktuell drohenden Abriss des Verwaltungsgebäudes des Militärbauwesens in der Prager Neustadt auf. Das Gebäude in der Boženy Němcové (Foto im Artikel), das in den 70er-Jahren nach den Plänen des Architekten Jan Hančl entstand, sei trotz seines brutalistischen Stils "sensibel in das Umfeld der älteren Gebäude eingefügt" und befinde sich in einem guten Zustand. Nachdem der Besitzer, der das Gebäude jahrelang mit Reklameflächen verhängte, wegen dieser Verhüllung einen Rechtsstreit gegen den Architekten verlor, will er es jetzt ganz abreißen lassen. Und offenbar ist selbst das Amt für Denkmalschutz, das es für schützenswert hält, dagegen machtlos. Dabei sei die jetzt offenbarte Struktur nicht nur ein architektonisches, sondern auch technisches Zeugnis der damaligen Bauweise, so Karous. Und er erinnert daran, Prag stehe "eben nicht nur wegen seiner landschaftlichen Lage, seiner gotischen, barocken und historisierenden Bauwerke auf der Liste des UNESCO-Kulturerbes, sondern auch wegen seiner symbiotischen Durchmischung mit den Schichten der frühen und späten Moderne. Diese Spätmoderne werden wir jetzt wegen der kommerziellen Interessen ein paar mächtiger Einzelner unwiederbringlich verlieren."

Harper's Magazine (USA), 07.09.2021

Garret Keizer erkennt in der Dummheit eine Macht, gerade so mächtig wie das Gute und das Böse, und fragt sich, wie ihr zu begegnen sei: "Die weit verbreitete Dummheit, die der Populismus und COVID-19 in den Vordergrund gerückt haben, geht weit über die seit der Gründung der USA bekannte Verachtung für Intellektuelle hinaus … Was bringt Menschen dazu, die Dummheit zu umarmen, auch wenn es sie umbringt? Jeder, der an eine Volksregierung glaubt, sollte sich die Frage stellen. Als natürlicher Verbündeter autoritärer Regime bedroht die Dummheit die Demokratie doppelt: indem sie ihre Initiativen behindert und indem sie den Glauben untergräbt, dass diese Initiativen möglich und sinnvoll sind. Wozu 'alle Macht dem Volk', wenn das Volk dumm ist? Möglich, dass einige die Dummheit anbeten, weil sie nicht alleine sein wollen. Idiotie liebt Gesellschaft. Als ich an der Schule unterrichtete, verstand ich die rührende Inklusivität des Drogendaseins. Aussehen, Noten, Fitness spielten keine Rolle, Hauptsache du warst drauf. Wer von uns hat sich noch nie in der Gemeinschaft Gleichgesinnter gesonnt. Nachdenklichkeit dagegen kann eine sehr einsame Sache sein, umso mehr, wenn sie mit Mut gepaart ist (Nietzsche gegen Twitter: 'Du suchst Follower? Suche Nullen!'). Wenn COVID-19 irgendwas so deutlich ans Licht gebracht hat wie die sinnlose Missachtung wissenschaftlicher Beweise und die Gleichgültigkeit gegenüber der Gesundheit anderer, dann ist es die ergreifende Unfähigkeit mancher Menschen, allein zu sein und Menschenmengen zu meiden. Nicht in einer vollen Bar, Fitnessstudio, Restaurant sein zu können, bedeutet für diese Leute quasi das Ende … Wenn wir akzeptieren, dass Dummheit aus einem Realitätsverlust resultiert, und anerkennen, dass Realität am besten durch das kreative Zusammenspiel von Geist und Materie behauptet, das wir Arbeit nennen, dann könnte ein Schritt zur Befreiung von kollektiver Dummheit sein, Vollbeschäftigung zu erreichen."
Stichwörter: Populismus, Covid-19, Behinderte

Elet es Irodalom (Ungarn), 03.09.2021

Die aus Siebenbürgen stammende Lyrikerin und Schriftstellerin Anna T. Szabó eröffnete am 2. September in Budapest die diesjährige Buchwoche. Élet és Irodalom publiziert ihre Eröffnungsrede: "Dies ist das Fest des Papiers und der Druckfarbe, des Buches und der Tinte, der Fiktion und der Erinnerung, der Liebe und der Freiheit. Das Fest der kleinen und großen wahren Geschichten und nicht der fetischisierten Geschichte. Dinge, an die man sich erinnern und die man aufzeichnen kann, haben wir reichlich. Wenn auch nicht jedermann Geschichte schreiben kann, Geschichten aufschreiben kann jeder. Geschichte setzt sich aus persönlichen Geschichten zusammen, aus Leser werden Schreiber, Schriftsteller oder Tagebuchschreiber. Jeder stellt die eigene Geschichte für die Interpretation und das gegenseitige Verständnis zur Verfügung. Bibliothek und Archiv sind ebenso wichtig. Wir brauchen unsere aller Geschichten, so sollen wir diese mutig aufschreiben - für unsere Zeitgenossen, für unsere Nachfahren oder einfach für uns selbst, damit kein einziges Leben spurlos verschwinden kann."
Stichwörter: Szabo, Anna T., Jedermann

Bloomberg Businessweek (USA), 02.09.2021

Fola Akinnibi untersucht, was aus den modellhaften Polizeireformen in Cincinnati geworden ist, die nach den Morden an schwarzen US-Bürgern durch Polizeibeamte im Fokus der Aufmerksamkeit standen: "Im April 2001 erschoss ein Beamter den 19-jährigen Timothy Thomas, der sechste Fall dieser Art in einem halben Jahr. Das brachte das Fass für die schwarzen 40 Prozent der Einwohner zum Überlaufen, sie gingen auf die Straße, Hunderte wurden festgenommen … Die Folge war die Implementierung des 'Collaborative Agreement', einer Reihe von Reformen der Polizeibehörde. Die wichtigste war die Order an Beamte, keine kleinen Dealer und Kleinkriminelle mehr zu verhaften und stattdessen die Ursachen für solche Kriminalität zu ergründen. Die Reformen waren nicht umunstritten, und die Umsetzung dauerte Jahre, aber für eine Weile funktionierte  es. Zwischen 2008 und 2014 gingen die Festnahmen wegen kleiner Delikte um 41,9 Prozent zurück, die Gewaltanwendung um 70 Prozent. Noch gewichtiger war die Verbesserung des Verhältnisses zwischen den Bürgern und der Polizei. Doch in den letzten Jahren scheinen die alten Verhältnisse zurückzukehren. Ein Bericht von 2017 stellt fest, dass das CPD sich vom 'Collaborative Agreement' verabschiedet hat. Viel Aktivisten sind jetzt für eine Kürzung der Mittel für die Behörde … Der Aufstieg und Fall der gemeinschaftlichen Polizeiarbeit in Cincinnatti zeigt, wie leicht Lokalpolitik und Polizeibehörden Reformen blockieren können, selbst wenn sie funktionieren."

Hlidaci pes (Tschechien), 06.09.2021

Der Handel mit illegalen Pflanzenschutzmitteln gehört offenbar zu den einträglichsten Zweigen des organisierten Verbrechens, und besonders in Tschechien greifen Landwirte ahnungslos zu den gefälschten Produkten. Robert Břešťan unterhält sich darüber mit Miluše Dvoržáková vom tschechischen Pflanzenschutzverein, die sich auf Zahlen des EU-Amtes für geistiges Eigentum beruft. Das Problem sei: Während etwa in Frankreich auf den Handel mit illegalen Pestiziden bis zu sieben Jahre Haftstrafe und eine Geldbuße bis 750.000 Euro drohen, sei in Tschechien noch keine rechtliche Grundlage für den Strafbestand geschaffen. Manche dieser Produkte "haben eine völlig wirkungslose Zusammensetzung, andere enthalten unerlaubte, für Natur und Mensch schädliche oder sogar krebserregende Substanzen." Die Landwirte griffen dazu, weil sie bis zu 40 Prozent billiger seien. In Tschechien wurde zum Beispiel ein gefälschtes Produkt sichergestellt, "das im Unterschied zum Original ein Lösungsmittel enthielt, mit dem Frauen nicht in Kontakt kommen dürfen, weil es ungeborenes Leben schädigen kann. Die Warnhinweise entsprachen aber nur dem Originalprodukt, das dieses Lösungsmittel nicht enthielt." Für die Hobbygärtner wiederum gebe es Pflanzenschutzmittel auf dem Markt, die Glyphosat enthielten. Übrigens: "In deutschen Gartencentern gibt es diese Mittel nicht zu kaufen, weshalb Gärtner aus Deutschland und Österreich sie sich hinter der Grenze in Tschechien besorgen. Schauen Sie sich's an, wie viele Fälschungen da im Angebot sind."
Archiv: Hlidaci pes

Wired (USA), 31.08.2021

Wer hat Pixar gegründet? Steve Jobs würden wohl die meisten sagen. Das stimmt allerdings nur so halb bis viertel. Jobs hatte lediglich viel Geld in die Hand genommen, um ein bereits seit den 70ern arbeitendes, zwischenzeitig auch bei George Lucas untergekommenes Team aufzumotzen, das dann unter dem Namen Pixar Filmgeschichte schrieb. Einer von den kaum bekannten Köpfen hinter der Pixar-Erfolgsgeschichte ist Alvy Ray Smith, dessen Geschichte Steven Levy erzählt. Smith war ein LSD-Hippie, der sich irgendwann der Computerei widmete. Das in den Siebzigern noch ziemlich unsinnliche Computern wollte er irgendwie mit Kunst verknüpfen. So selbstverständlich wir heute mit Pixeln und grafischen Objekten hantieren, so mühsam musste dies damals in Zeiten von Speicherarmut und niedriger Rechenleistung überhaupt erst erarbeitet und entwickelt werden. Aber Alvy Ray Smith und Ed Catmull "hatten begriffen, dass sich dies ändern würde - im Zuge dessen, was später als Mooresches Gesetz bekannt wurde -, und dass sie drauf und dran waren, ihr Feld soweit zu befeuern, dass es einmal das Kernstück der Computerei und des Entertainments bilden würde. ... Das voll ausgestattete Team machte sich daran, kurze animierte Filme zu produzieren. Ihre Gegner waren damals die 'Jaggies', die blockartigen Kanten, die man an schlecht gerenderten Objekten sehen kann. Das Gegengift zu diesen Jaggies war eine Technik, die sich Anti-Aliasing nennt, die rohe Computerkraft benötigte und clevere Techniken, um dichtere Grafiken zu produzieren. Die extra Speicherpower führte Smith und Catmull zu einem zentralen Konzeptvorteil: dem Alphakanal. Neben den grundlegenden Farbkanälen Rot, Grün und Blau, mit denen sich in verschiedenen Mischverhältnissen komplette Farbpaletten erstellen lassen, fügten sie ein Element hinzu, dass die Transparenz eines Pixels bestimmte. Indem sie die Durchsichtigkeit eines Objekts im Laufe der Zeit justierten, konnten sie seine Bewegung verwischen und die unangenehmen Stakkato-Bewegungen korrigieren, die frühe Versuche digitaler Animation verhunzten. Als die Leute erst einmal damit begonnen hatten, den Alphakanal zu nutzen, schien er auf absurde Weise naheliegend. 'Wenn Du heute jemandem sagst, dass Alvy den Alphakanal erfunden hat, wissen die Leute überhaupt nicht, was das sein soll, weil der Alphakanal so fundamental in alles integriert ist, was mit Grafik geschieht', sagt Glenn Entis, damals ein Student an der NYIT, der später die Grafikfirma hinter 'Shrek' und 'Madagascar' gründete."
Archiv: Wired