Magazinrundschau

Idee von einem neuen Leben

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
15.03.2022. Der New Yorker lernt in Kiew Diversanten und Saboteure aufzuspüren. Putin ist nicht Stalin, stellt Simon Sebag Montefiore im New Steatesman klar. Im Guardian erkennt Keith Gessen die Schönheit der radikalen Demokratie, die der Ukraine von den Kosaken überliefert wurde. HVG blickt mit György Palfi auf ein Europa, in dem der Humanismus verloren geht. The Nation fragt nach dem Sinn der Museen. Der Filmdienst erkennt, dass es beim Sammeln nicht um Besitz, sondern um Austausch geht.

New Yorker (USA), 21.03.2022

In einer Reportage schildert Joshua Yaffa sehr eindrücklich das Kriegsgeschehen in der Ukraine aus den verschiedenen Gebieten, in die er sich gewagt hat, vor allem aus der umzingelten Hauptstadt: "Im Lauf der Zeit habe ich Kiew mit seiner vorrevolutionären Architektur, seinen fröhlichen Menschen und fabelhaften Restaurants lieben gelernt, ganz zu schweigen von der Techno-Musikszene, die wohl zu den besten des Kontinents gehört. Jetzt trauten sich nur noch wenige Menschen auf die Straße; wer es nach der Ausgangssperre tat, wurde automatisch als pro-russische Diversanten oder Saboteure betrachtet. 'Wir machen Jagd auf diese Leute', sagt Witali Klitschko, Kiews Bürgermeister und ehemaliger Boxweltmeister im Schwergewicht, und behauptet, in einer einzigen Nacht seien sechs Diversanten getötet worden. Ein ukrainischer Freund scherzte, dass ich in Schwierigkeiten käme, wenn ich an einem Kontrollpunkt der Territorialen Verteidigung angehalten und nach dem Wort gefragt würde, das zu einer Art Code für das Aufspüren feindlicher Agenten geworden war: paljaniza, der Name eines weichen Weißbrots. Das Wort geht ukrainischen Sprechern leicht über die Lippen, ist aber für Russen schwer auszusprechen... An einer Überführung unweit des Kiewer Zoos kam ich zu einer Stelle, an der ukrainische Soldaten in der Nacht zuvor russische Truppen in einen Hinterhalt gelockt hatten, als diese versuchten, in ein Waffenlager tief in der Stadt einzudringen. Zwei ausgebrannte Militärfahrzeuge standen auf der Straße, und Metall- und Glassplitter zogen sich über eine halbe Meile hin. Körperteile lagen verstreut auf der Straße."

Ruth Franklin arbeitet sich noch einmal durch Peter Handkes Werke, kann aber nichts finden, was in ihren Augen zu seinen Gunsten spräche: "Seine Verteidiger argumentieren, dass man einzelne aus dem Zusammenhang gerissene Sätze leicht missverstehen könne, weil Handke 'dialektisch' schreibe. Als ich anfing 'Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina' zu lesen, war ich genau darauf vorbereitet. Doch das Buch war sogar noch ärgerlicher, als ich mir hätte vorstellen können. Handke behauptet schlichtweg, dass er Menschen, denen er begegnet, selten eine Frage stellt, er verlässt sich stattdessen auf seine Vorstellung und seine Annahmen."
Archiv: New Yorker

New Statesman (UK), 14.03.2022

Putin ist nicht Stalin, betont der britische Historiker und Stalin-Biograf Simon Sebag Montefiore, und das nicht nur weil Stalin sowohl in seinen Verbrechen als auch in seinen Verdiensten größer war. Die Gemeinsamkeiten erschöpfen sich recht schnell: "Stalin und Putin teilen die Ansicht, dass eine auf Zwang gestützte Autokratie die beste Art sei, Russland zu regieren. 'Russen brauchen einen Zar', befand der Marxist Stalin. Das glaubt auch Putin, der für sich gern den Mystizismus und Pomp zaristischer Großartigkeit in Anspruch nimmt. Beide teilen eine Obsession für die Geschichte. Immer wenn Putin Historiker trifft, fragt er, wie die Geschichte ihn beurteilen werde. Als der frühere amerikanische Botschafter in der Sowjetunion, W. Averell Harriman, Stalin zur Einnahme Berlins gratulierte, erwiderte er: 'Ja danke, aber Alexander I. nahm Paris.' Doch die Unterschiede fallen ebenso ins Auge. Stalin war ein Georgier, geboren unter dem Namen Dschugaschwili. Der in Leningrad geborene Putin betonte in den ersten Tage seiner Invasion in die Ukraine: 'Ich bin Russe.' Stalin war ein fanatischer marxistischer Internationalist; Putin glaubt an den Exzeptionalismus der 'Russischen Welt', die mit dem Übertritt von Wladimir dem Großen zum orthodoxen Glauben im Jahr 988 ihren Anfang nahm. Er verachtet die marxistische Ideologie und glaubt, dass mit Lenins Revolution das russische Imperium zertrümmert wurde. Der Kommunismus steht ihm fern, er setzt auf einen Kreml-KGB-Kapitalismus. Stalin, der sich nicht für Geld interessierte und nur eine Reihe von Uniformen besaß (auch wenn er gern in komfortablen Villen residierte), wäre abgestoßen von der Vulgarität der Yachten und Flugzeuge der russischen Superreichen."
Archiv: New Statesman

Guardian (UK), 11.03.2022

Sehr lesenswert ist Keith Gessens kurze Geschichte der Ukraine, die auch durchaus kritisch die Expansion der Nato beleuchtet, ohne damit Putins Angriffskrieg zu rechtfertigen. Schön vor allem, wie Gessen der Ukraine das Recht zugesteht, eine imperfekte Demokratie zu sein: "Die Ukraine erlebte unter den Geburtswehen einer Nation. Viele der postsowjetischen Staaten hatten ihre Probleme - korrupte Eliten, ethnische Minderheiten, eine Grenze mit Russland. Die Ukraine hatten von all dem immer noch ein bisschen mehr. Weil sie groß und industrialisiert war, gab es viel, das man stehlen konnte. Weil sie mit Odessa einen großen Hafen am Schwarzen Meer hatte, gab es einen leicht zugänglichen Seeweg, über den man stehlen konnte. Als die ukrainische Armee 2014 gebraucht wurde, zeigte sich, dass ein Großteil ihrer Ausrüstung aus diesem Hafen hinausgeschmuggelt worden war. Zu all dem kam, dass die Ukraine vielleicht nicht unbedingt gespalten war, aber doch auch nicht unmittelbar als ein geeintes Gesamtes zu erkennen war. Weil das Land so oft erobert und geteilt worden war, war sein geschichtliches Gedächtnis fragmentiert. In den Wortes eines Historikers: 'Verschiedene Gegenwarten hatten unterschiedliche Vergangenheiten.' Ursprünglich waren die Kosaken Kämpfer, die der Leibeigenschaft entkommen waren. Ihr politisches System war eine radikale Demokratie. Darin lag durchaus etwas Schönes. Doch in Sachen moderner Staatlichkeit hatte dies Nachteile. In einer kurz nach der Unabhängigkeit der Ukraine verfassten, mittlerweile berüchtigten Analyse sagte die CIA voraus, dass das Land wahrscheinlich auseinanderfallen würde. Zwei Jahrzehnte lang tat sie es nicht. Auf Gedeih und Verderb war die Demokratie tief in der politischen Kultur der Ukraine verwurzelt, und während in Russland die Macht noch nie an eine Opposition übergegangen war, tat sie es in der Ukraine andauernd."

Außerdem bringt der Guardian einen Auszug aus Oliver Bulloughs Aufsehen erregendem Buch "Butler to the World", das nacherzählt, wie sich die britische Regierung den den Oligarchen andiente und sie gegen Cash mit Immobilien, Ritterschlag und Aufenthaltsrechten ausstattete. Hier geht es um den ukrainischen Geschäftsmann Dmitry Firtash, der dank eines Deals mit Gasprom quasi über Nacht zum Multimilliardär geworden war, sich dann aber doch lieber nach London abseilte.
Archiv: Guardian

Eurozine (Österreich), 14.03.2022

"Ich bin der Gefangene eines Weges, den ich nicht gewählt habe", zitiert Andreas Kossert in einem Essay über das Weggehen den französischen Schriftsteller Léon Werth und macht klar, dass Fliehen Verlust bedeutet, nicht Verzicht (wir rückübersetzen aus dem Englischen): "Am Ende kommen alle Geflüchteten und Vertiebenen irgendwo an. Sie halten an dem fest, was ihnen gehört, gegen die reservierte oder offen feindselige Gesellschaft, die sie empfängt, egal ob im Transit oder bei der Aufnahmeprozedur, Lagerhierarchien, Unterkünften und neuen sprachlichen oder kulturellen Umgebungen. Das erfordert emotionale Anstrengung, denn ihre Flucht und das Zurückgelassene, bleibt bei ihnen, auch wenn sie versuchen, ein neues Leben aufzubauen. Ankommen ist immer ein fortlaufender Prozess. Aber es ist vielsagend, wie materialistisch unsere Idee von einem neuen Leben ist. Wenn Menschen flüchten, können sie meistens nicht mehr retten als ihre Leben und ihre körperliche Unversehrtheit."
Archiv: Eurozine
Stichwörter: Werther

HVG (Ungarn), 15.03.2022

In György Pálfis Film "In Ewigkeit" herrscht seit Jahren Krieg in Europa. Als Pálfi den Film vor sieben Jahre drehte, wollte er eine ferne albtraumhafte Zukunft imaginieren. Wegen fehlender staatlicher Unterstützung kommt der Film ausgerechnet jetzt in die ungarischen Kinos, wie Bálint Kovács schreibt: "Der Film zeigt, wie Ungarn wäre, wenn in Europa seit Jahren Krieg herrschen würde. Und diese Vision erscheint heutzutage wesentlich realistischer als vor einem Monat oder gar vor einem Jahr … Und es ist die Wahrheit: In der Welt von 'In Ewigkeit' hat das Leben keinen Wert. In seinem letzten Film, im 'Turiner Pferd' drehte Béla Tarr die Schöpfung mit einer monumentalen Apokalypsen-Vision um; bei Pálfi geht es um weniger, aber um etwas Gnadenloseres: er dreht den Humanismus zurück."
Archiv: HVG
Stichwörter: Humanismus, Bali, Apokalypse

Ceska Televize (Tschechien), 11.03.2022

Der Satiriker, Drehbuchautor und Putinkritiker Wiktor Schenderowitsch, der bereits Anfang des Jahres Russland verlassen hat, meint im Gespräch mit dem Tschechischen Fernsehen, sogar Stalin habe trotz seiner Grausamkeit mehr Rationalität besessen als derzeit Putin. Schenderowitsch stellt in Tschechien gerade die Verfilmung seines Theaterstücks "Vidět Salisbury" ("Seeing Salisbury") vor, das den Giftanschlag auf den ehemaligen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter Julia durch Agenten des russischen Geheimdienstes zum Thema hat. Schenderowitsch sieht für Russland eine mühsame jahrzehntelange Aufarbeitung voraus: "Anders ist es nicht möglich. Es ist nicht möglich, weiterzugehen, ohne Schuld einzugestehen, ohne dass wir uns bewusst machen, was geschehen ist. Deutschland hat einige Jahrzehnte dafür gebraucht. Die Zeit mit Hitler dauerte ein Jahrzehnt, doch die mit Putin dauert schon jetzt wesentlich länger, weshalb uns ein sehr schmerzhafter, schwerer Weg erwartet. Das Wichtigste ist, dass dieser Weg überhaupt beginnt, denn leider hat er noch nicht begonnen, und ich würde sogar sagen, dass wir den Boden noch nicht erreicht haben."
Archiv: Ceska Televize
Stichwörter: Tschechien, Giftanschläge

The Nation (USA), 11.03.2022

Schon in den 1920er Jahre beschäftigte sich der deutsche Kunsthistoriker Alexander Dorner mit der Frage nach dem Sinn von Kunstmuseen, in einem 1938 veröffentlichten Essay mit dem Titel "Why Have Art Museums" warf er der Museumswelt vor, sich den Eliten anzudienen. Dorners Fragen bleiben aktuell, schreibt Barry Schwabsky. Museen und ihre Kuratoren müssen sich mehr denn je ihrer Verantwortung stellen: Peter-Klaus Schuster, ehemaliger Direktor der Staatlichen Museen zu Berlin, stellte in dem kürzlich erschienenen Buch "Living Museums: Conversations With Leading Museum Directors" des Kurators Donatien Grau vom Metropolitan Museum, fest, dass sich "Museen nicht mehr hinter einer Autorität verstecken können, nicht einmal hinter ihrer eigenen...' Er kommt zu dem Schluss, dass Museen 'in der Lage sein müssen, im Detail zu rechtfertigen, was wir tun und warum wir es tun'. Die Schwierigkeit, das zu tun, spiegelt sich vielleicht in der Tatsache wider, dass, wie Artnet kürzlich berichtete, 22 amerikanische Museen derzeit neue Direktoren suchen, aber laut der früheren Leiterin des Queens Museum, Laura Raicovich, stellten sie fest: 'Die Leute wollen im Moment wahrlich keine Direktoren sein, weil die Jobs emotional nicht aushaltbar sind.' Der Verlust an Autorität kann verschiedene Formen annehmen. Ich habe mich zwar hauptsächlich auf Museen für zeitgenössische und moderne Kunst konzentriert, aber die Krise geht weit darüber hinaus und betrifft auch Einrichtungen, die sich mit anderen Kunstepochen befassen, und vielleicht vor allem solche, die sich als 'enzyklopädische' Museen verstehen. Bei letzteren setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass ihre Sammlungen zu einem großen Teil mit Mitteln zusammengetragen wurden, die heute offensichtlich anrüchig, ja sogar kriminell sind - kurz gesagt, enstanden durch (manchmal legalisierte) Plünderung und Eroberung. (…) Wie spät oder wenig bisher auch immer restituiert wurde, Rückgaben können nur begrüßt werden. Ich würde mir wünschen, dass die ehemaligen Bewahrer der zurückgegebenen Objekte erkennen, dass sie von einer moralischen Last befreit wurden. Aber hier gibt es eine tiefere Konsequenz: Die europäischen und nordamerikanischen Institutionen sollten nicht länger nach ihrer lang gehegten Fantasie der Universalität streben."
Archiv: The Nation
Stichwörter: Restitution, Museen, Plünderung

Film-Dienst (Deutschland), 13.03.2022

In einem seine Gedanken behutsam verfertigenden Essay meditiert Patrick Holzapfel über Herausforderungen und Risiken des Filme-Sammelns - ob nun im Sinne historischer Archive mit institutioneller Anbindung oder privat, wenn digital versierte Hardcore-Cinephile noch die entlegensten Ecken des Internets leersaugen und stapelweise Festplatten horten. Illusionen lässt er gar nicht erst aufkommen: "Der Großteil der Filmgeschichte ist verloren oder wird verlorengehen", jegliches Archivieren bildet immer nur den Stand des Überlieferten ab - und jede Entscheidung für einen Film ist immer auch eine gegen einen anderen. Auch den Gestus mancher Kritiker, die Übersehenes als Neu-Entdeckung anpreisen, beobachtet er skeptisch. "Was man vielmehr überwinden müsste, sind die festgefahrenen Lesarten der Geschichte. Das geht immer noch am besten, wenn man sich mit der Geschichte befasst", wie es ihm eine während des ersten Lockdowns leidenschaftlich geführte, aber seitens des Silicon Valley natürlich längst geschlossene Facebook-Gruppe von Online-Cinephilen vor Augen führte, die sich gegenseitig ihre Archive illegal zugänglich machten. "Wie man dazu steht, sei offengelassen; dass diese Gruppe aber eine schon seit Jahren gängige Praxis in einer kollektiveren Form sichtbar machte (inklusive zahlreicher Berichte in der internationalen Presse) und gängige Modi des individuellen oder institutionellen Sammelns hinterfragte, steht außer Zweifel. Hier wurde das Sammeln seinem Wortstamm nach als kollektive Tätigkeit verstanden. Statt Besitz ging es um Austausch. Dieser Austausch sichert das objektlose Fortleben dieser Arbeiten." Netzwerke wie diese "bleiben eine Form von Piraterie; sie beherbergen aber ein quasi utopisches Versprechen, in der sich Filme, wie Jean-Luc Godard es zum Beispiel schon lange fordert, von den Zwängen geistiger Urheberschaft lösen. ... Im besten Fall befruchten sich die beiden Felder, wie sie es wahrscheinlich sowieso schon lange tun, denn kaum eine ernsthafte Filmkuratorin wird heute ohne illegale Kanäle arbeiten. Anders ist die eigentliche Filmgeschichte auch gar nicht zugänglich."
Archiv: Film-Dienst