Magazinrundschau

Wie man einen Raum betritt

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
29.03.2022. Die New York Times fragt, wie Putin möglich wurde und zitiert peinliche deutsche Diplomaten. Zensoren sind nicht einfach böse, schreibt Ariel Dorfman in der LRB - das Verhältnis von Zensierten und Zensierenden ist wesentlich komplizierter. In Cesky rozhlas erzählt die tschechische Autorin ukrainischer Herkunft Marie Iljaschenko, wie sich der Krieg aus Ferne für sie anfühlt. Für La Règle du Jeu interviewt Bill Clinton Bernard-Henri Lévy.

New York Review of Books (USA), 07.04.2022

Eric Berkowitz' rekapituliert in seinem Buch "Dangerous Ideas" die Weltgeschichte der Zensur, mit der unliebsame Schriften unterdrückt werden, seit Athen die Schriften des Sophisten Protagoras verbrennen ließ. Der chilenisch-amerikanische Schriftsteller Ariel Dorfman verschlingt das Buch geradezu, doch aus eigener Erfahrung ist er nicht einverstanden mit der eindeutigen Gegenüberstellung von zynischen Zensoren und heroischen Autoren: "Zensoren selbst glauben oft gar nicht, als Handlanger von Politikern, Oligarchen oder religiösen Potentaten zu dienen, sondern ihr Land und seine verletzlichen Gruppen - Frauen, Kinder, Arme - väterlich vor Verderbnis zu schützen. Das Verhältnis von Zensoren und denen, die sie unterdrücken, kann komplex sein, wie eine Begegnung illustriert, die ich selbst mit einem dieser Wächter in den späten siebziger Jahren hatte, als ich in Holland im Exil lebte. Eine Sammlung meiner Erzählungen sollte im Aufbau Verlag erscheinen, weswegen meine Frau und ich nach Ost-Berlin fuhren, um letzte Fragen zu klären. Beim Mittagessen erklärte mir der Verleger, dass er eine Geschichte nicht mit in die Sammlung aufnehmen würde. Bevor er sie beim Namen nannte, wusste ich, dass es 'Der Leser' sein würde. Ihr Protagonist Don Alfonso, ein Zensor mit Adleraugen in einer lateinamerikanischen Diktatur, erhält ein Manuskript, dessen Hauptfigur auf ihm selbst basiert und seine geheimsten Wünsche offenbart. Anstatt die Geschichte zu unterdrücken - und damit sein eigenes Spiegelbild zu ersticken -, erlaubt er sie und bringt damit sich selbst in Gefahr. Auch wenn es vielleicht naiv von mir war zu glauben, dass eine solche Erzählung unter einem Regime veröffentlicht werden würde, das die freie Rede im Namen des siegreichen Proletariers unterdrückte, verließ ich mich darauf, dass mein Verleger einen Weg finden würde. Schließlich fehlte es ihm nicht an Mut, er hatte für die Spanische Republik und gegen Hitler gefochten, und ich wusste, dass er auch Literatur respektierte, die nicht die typisch sozialrealistisch war. Aber als ich ihn fragte, was mit der Geschichte nicht stimmte, führte er ästhetische Argumente an: Stilistisch sei sie etwas seltsam, nicht wirklich gut konstruiert. Warum sollte ich ihn beschämen, indem ich behauptete, dass der wahre Grund hinter seiner Entscheidung politisch sei? Er hatte die 'Schere im Kopf' - wie Berkowitz die Phrase über die ostdeutsche Zensur zitiert. Ich zog meine gekappte Sammlung nicht tapfer zurück. Ich wählte den Kompromiss anstelle der Konfrontation, ich entschied mich, nicht den Rest meiner Geschichten einzubüßen, indem ich eine verteidigte. Auch diese Art der Rechnung gehört zur Geschichte der Zensur."

Howard French liest in Padraic Scanlans "Slave Empire" und Sathnam Sangheras "Empireland" nach, wie grundlegend der Sklavenhandel für den modernen britischen Kapitalismus war. Wenn Wirtschaftshistoriker dies lange bestritten, dann, schreibt French, weil sie allein die direkten Profite aus dem Menschenhandel in Rechnung stellten, nicht jedoch die der Plantagenwirtschaft insgesamt.

New Yorker (USA), 04.04.2022

Dass Belgier, Deutsche und Niederländer in ihren Kolonien unmenschlich grausam gehaust hatten, ist bekannt. Aber waren die Briten wirklich die besseren Kolonialherren? Sunil Khilnani hat ein Buch gelesen, dass diese These rundheraus ablehnt: Caroline Elkins hat in "Legacy of Violence" einige der gruseligsten britischen Kolonialverbrechen beschrieben, darunter die Niederschlagung des Mau-Mau-Aufstands in den 1950er Jahren, bei dem wohl um die 300.000 Menschen getötet wurden, die Niederschlagung eines Aufstands von Palästinensern in den späten 1930er Jahren oder die Unterdrückung der Iren. Dabei fiel ihr ein Muster auf: Während britische Politiker von Zivilisation und Recht sprachen, setzten Militärs und Polizisten im ganzen Reich Unterdrückungstechniken ein, gegen die höhere Stellen fast nie einschritten. Elkins zeigt, wie diese Taktiken in der Kampftruppe von Churchill-Freund Henry Hugh Tudor zusammenliefen, so Khilnani: "Aus Irland kamen paramilitärische Techniken und der Einsatz gepanzerter Fahrzeuge, aus Mesopotamien die Erfahrung mit Luftangriffen und dem Beschuss von Dörfern, aus Südafrika der Einsatz von Dobermännern zum Aufspüren und Angreifen von Verdächtigen, aus Indien Verhörmethoden und der systematische Einsatz von Einzelhaft und aus der Nordwestgrenze des Raj der Einsatz von menschlichen Schutzschilden zum Räumen von Landminen. Ein Soldat erinnerte sich an den Einsatz von arabischen Gefangenen: 'Wenn es Landminen gab, dann waren sie es, die sie gelegt hatten. Ein ziemlich schmutziger Trick, aber es hat uns Spaß gemacht.' Andere Praktiken scheinen von den Briten in Palästina selbst entwickelt worden zu sein: nächtliche Überfälle auf verdächtige Gemeinden, ölgetränkter Sand, der Eingeborenen in den Hals gestopft wurde, Käfige unter freiem Himmel, in denen Dorfbewohner festgehalten wurden, Massenabrisse von Häusern. Während sie solche Taktiken an den Palästinensern perfektionierten, so Elkins, eigneten sich die Offiziere Fähigkeiten an, die sie später in Aden (im Süden des heutigen Jemen), an der Goldküste, in Nordrhodesien, in Kenia und auf Zypern einsetzten. Palästina war, kurz gesagt, das führende Atelier des Empires für Zwangsunterdrückung."
Archiv: New Yorker

Magyar Narancs (Ungarn), 27.03.2022

Der Dichter István Pion kommentiert recht gallig, wie Ungarns Regierungschef Viktor Orbán sich vor den Wahlen als großer Vermittler zwischen EU und Russland gebärdete: "Er hätte gern den Wählern vorgegaukelt, dass er in der Zeit vor den Wahlen als Friedensengel am ungarischen und europäischen Himmel herumfliegt, schließlich war er nach eignen Angaben auf 'Friedensmission' bei Wladimir Putin, nach dem Ausbruch des Krieges kommunizierte er das Wort 'Frieden' wie kaum ein anderer. Aber es hat sich herausgestellt, dass er doch nicht als Putto in der erstrahlten Nachmittagssonne mit seinen Flügeln schlägt, sondern zerquetscht auf dem blutgetränkten Boden ausgestreckt liegt: er wurde zu Russlands Fußabtreter in der Tür der Europäischen Union, während die Regierungschefs der anderen Mitgliedsländer die Rolle des Türstehers annahmen."
Archiv: Magyar Narancs

Desk Russie (Frankreich), 25.03.2022

Putin hat im Jahr 2000 stehende Ovationen im Bundestag bekommen, nachdem er in Moskau - höchstwahrscheinlich - Wohnhäuser hat in die Luft gehen lassen, um sich hinterher als Held des Kriegs gegen den Terror feiern zu lassen. Er bekam 2006 die Ehrenlegion, nachdem er in Grosny Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, ruft der ukrainische Autor Mykola Rjabtschuk in Erinnerung. Und er beherrschte die Diskurse: "Besonders demagogisch sind die Behauptungen, der Westen habe die postsowjetischen Republiken, insbesondere die Ukraine, in die NATO und die EU "gelockt". Die Wahrheit ist, dass der Westen diesen Ländern noch weniger Hoffnung auf eine mögliche Mitgliedschaft machte, als er es ursprünglich gegenüber Polen, Ungarn und anderen postkommunistischen Staaten in Osteuropa getan hatte. Und der wichtigste, wenn nicht einzige Grund für diese Zurückhaltung war, Moskau zu gefallen, seine geopolitischen Ansprüche auf eine 'Einflusssphäre' und seine veralteten imperialistischen Gefühle stillschweigend zu bestärken."
Archiv: Desk Russie
Stichwörter: Nato, Einflusssphären

La regle du jeu (Frankreich), 25.03.2022

Es gab immer sechs Gründe, warum Bernard-Henri Lévy nicht gemocht wird: Er ist eitel. Er sah tatsächlich gut aus. Er ist reich. Er ist Jude. Er hat Mut. Er hat Recht. Auf der Website seiner Zeitschrift bringt er ein Gespräch, das er mit Bill Clinton geführt hat - oder nein, umgekehrt: Clinton ist der Frager. Anlass ist Lévys Film "The Will To See". Das Gespräch wurde noch vor dem Ukrainekrieg geführt. Und Lévy sagt über das noch nicht eingetretene Szenario: "Mein Gefühl, aber ich kann mich auch irren, ist, dass Präsident Putin einen großen Fehler machen würde, wenn er sich entschließen würde, in die Ukraine einzumarschieren. Dafür gibt es zwei Gründe. Ich kenne die Gegend, ich habe dort Zeit verbracht, ich hatte das Privileg, in die Spezialeinheiten der ukrainischen Armee aufgenommen zu werden. Sie sind gut. Sie sind patriotisch, bereit, ihr Land bis zum Äußersten zu verteidigen. Und dann, es ist ein Detail, aber nicht nur ein Detail, bin ich mir nicht sicher, ob die russischen Soldaten, die einfachen Soldaten, so einfach auf ihre Cousins in der Ukraine schießen würden. Es wäre ein riesiges Durcheinander, wenn Putins oberster General der Armee den Befehl zum Schießen geben würde, es wäre nicht wie in Tschetschenien, das sich als ein riesiges Verbrechen herausstellte, sondern etwas ganz Anderes."
Archiv: La regle du jeu

Gentlemen's Quarterly (USA), 22.03.2022

Nicolas Cage - einst gefeierter Jungschauspieler, dann seit den Nullerjahren der Absturz in den Direct-to-DVD-Billigfilm. Der Hintergrund: Ein erheblicher Schuldenberg nicht zuletzt bei der US-Steuerbehörde nach grotesken Fehlinvestitionen und schlecht beratenen Privatvergnügungen. Während Brad Pitt und Leonardo DiCaprio ihre Filmografie in den letzten 15 Jahren mit bedachtem Blick kuratierten und nur eine erlesene Handvoll Filme drehten, lieferte Cage im selben Zeitraum annähernd 50 Filme, berichtet Gabriella Paiella in ihrem anekdotenreichen Porträt eines Exzentrikers, der in den letzten Jahren vom Internet in unzähligen Memes als Maskottchen für den Irrsinn der Gegenwart entdeckt wurde. Aber: Der Schuldenberg ist abgebaut, mit "Pig" (mehr dazu hier) hat er zudem ein künstlerisches Comeback im Independentfilm hingelegt (aber: irrsinnig ist er natürlich auch weiterhin - man schaue sich das Magazincover an). Das will er jetzt weiterverfolgen, sagt er: "Er denkt nach über diesen Neubeginn, der ihm zugestanden wurde. Wie er in seinem Blockbuster-Run wohl niemals so etwas wie 'Pig' gedreht hätte, die Performance, die seinen langjährigen Bannfluch in der öffentlichen Wahrnehmung nun definitiv gebrochen hat. Darüber, wie dies nach mehr als hundert Filmen endlich der Film war, bei dem er sich voll gereift fühlte. Er erinnert sich daran, was ein alter Freund ihm mal mit auf den Weg gab: 'Sean Connery sagte immer: Du musst wissen, wie man einen Raum betritt. Wenn Du einen Raum betrittst, dann fällst Du auf. Ich denke, mit diesem Film habe ich den Raum betreten.' Cage möchte weiter Indiefilme drehen: 'Mir machen Filme wie 'Pig' und 'Leaving Las Vegas' mehr Freude als 'National Treasure'', sagt er. Bei Nachfragen, ob 'National Treasure 3' wohl passieren wird, winkt er ab. ... Vielleicht tut er sich nach 'Peggy Sue hat geheiratet' von 1986 auch erstmals wieder mit seinem Onkel Francis Ford Coppola zusammen. Sie sprechen gerade über eine kleine Rolle in Coppolas angekündigtem Epos 'Megalopolis' (mehr dazu hier). 'Ich lege meinen Fokus darauf, einfach extrem selektiv zu sein, so selektiv wie ich es nur sein kann', sagt er. 'Ich möchte jeden Film so drehen, als sei er mein letzter'." Und ein netter Bonus: Nicolas Cage reagiert auf die groteskesten Online-Mythen, die sich um ihn ranken - und bestätigt dabei die eine oder andere Geschichte als wahr:

Cesky rozhlas (Tschechien), 25.03.2022

Der Tschechische Rundfunk hat die Podcast-Reihe "Střepy" (Scherben) begonnen, in der Schriftsteller ihre Gedanken zum Ukrainekrieg äußern. Die tschechische Autorin ukrainischer Herkunft Marie Iljaschenko erzählt darin: "Eines der ersten Dinge, die man mich immer fragt, ist, ob es meiner Familie gut geht. Ich antworte dann, dass in der Ukraine nur noch ferne Verwandte und Freunde von mir leben - und dass sie alle am Leben sind. Die Leute atmen erleichtert auf, denn sie wissen nicht, das ich jetzt alle Ukrainer als meine Familie wahrnehme. Sie wissen nicht, dass ich zwar esse und schlafe, weil, wenn ich zu essen und zu schlafen aufhörte, niemandem damit gedient wäre, aber dass mir jedes zerbrochene Fenster meiner Stadt wehtut. Wenn ich den verkohlten Fernsehturm sehe, fühle ich es in den Knochen und Sehnen und Adern. Ich weiß jetzt, was Psychosomatik ist."
Archiv: Cesky rozhlas

New York Times (USA), 28.03.2022

Wie anfällig sind demokratische Gesellschaften für das Appeasement gegenüber Autokratien und Diktaturen, vor allem, wenn diese etwas zu bieten haben? Wie manipulierbar sind die Öffentlichkeiten in Demokratien? Warum bewundern gewählte Politiker Finsterlinge wie Wladimir Putin, von denen erwiesen ist, dass sie Giftmörder und Kriegsverbrecher sind, oder behaupten zumindest, sie einhegen zu können? Eliot Cohen erzählt in seinem ausführlichen Putin-Porträt eigentlich nicht viel Neues über Putin, aber spricht mit einigen, die mit ihm umgingen, und sie sagen immer wieder über Putin: "Something is definitely different." Als hätte sich Putin geändert und nicht ihre Wahrnehmung Putins, der ihnen nur näher auf die Pelle rückt. Kann man es fassen, was man Cohen etwa von einem hohen diplomatischen Berater Frank-Walter Steinmeiers, Thomas Bagger, zitieren hört? "'Im Nachhinein betrachtet, hätten wir schon vor langer Zeit mit dem beginnen sollen, was wir jetzt in aller Schnelle tun müssen', sagt der ranghöchste deutsche Diplomat Bagger, 'unser Militär zu stärken und die Energieversorgung zu diversifizieren. Stattdessen haben wir mitgemacht und die Ressourcenströme aus Russland noch verstärkt. Und wir haben eine ausgehöhlte Armee mitgeschleppt.' Und er fügt hinzu: 'Wir haben nicht erkannt, dass Putin sich in eine historische Mythologie hineingesponnen hat und in Kategorien eines tausendjährigen Reiches denkt. So jemanden kann man nicht mit Sanktionen abschrecken.'"

Die Oscars haben nicht erst durch die Entgleisung bei ihrer Verleihung am Sonntag ihre Relevanz verloren, das Hollywood-Kino befindet sich schon seit Jahren im Niedergang. Bereits vor der peinlichen Oscar-Nacht schrieb Ross Douthat: "Statt Filme für Erwachsene zu produzieren, bediente die Traumfabrik nur noch die Bedürfnisse von Teenagern: "Die Globalisierung erweiterte den Markt für Hollywood Produktionen, doch das globale Publikum erforderte einen schlichteren Erzählstil, der besser zwischen Sprachen und Kulturen übertragbar war, mit weniger Komplexität, Eigenheiten und kulturellen Spezifika. Das Internet, der Laptop und das Iphone personalisierten die Unterhaltung und machten sie unmittelbar verfügbar, auf eine Weise, die gleichfalls Hollywoods potentielles Publikum erweiterte, aber die Menschen auch an kleinere Bildschirme gewöhnte, an privates und unterbrochenes Schauen, das Gegenteil vom gemeinschaftlichen Kino. Spezialeffekte eröffneten spektakuläre (wenn auch manchmal antiseptisch wirkende) Blick und machten es möglich, Geschichten zu verfilmen, die lange nicht für die große Leinwand tauglich waren. Die Kassenschlager, die mehr noch als ihre Vorgänger der 1980er Jahre auf Effekte zielten, bestärkten eine Fan-Kultur, die den Studios ein kalkulierbares Publikum einbrachten, allerdings zu dem Preis, dass traditionelle Aspekte des Kinos der Jedi-Religion oder dem Marvel-Kult untergeordnet wurden. All diese Verschiebungen begünstigten und wurden begünstigt durch eine weitgreifende 'Verteenagerung' der westlichen Kultur, die Ausweitung des Geschmacks und der Unterhaltungsgewohnheiten der Jugendlichen auf all das, was man heute unter Erwachsensein versteht."
Archiv: New York Times