Magazinrundschau

Penny an der Tür

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
17.05.2022. The Atlantic staunt: Die Rechte hat den Frauen den Krieg erklärt, und die Linke will in der Abtreibungsdebatte das Wort "Frauen" nicht benutzen. Chinesische Studenten sind oft alte Seelen, lernt der New Yorker. Russische Studenten sind oft Kinder, lernt Deník Referendum. Die LRB macht die kaum regulierten Rohstoffmärkte verantwortlich für den globalen Hunger. Die New York Times erzählt, wie man seinen Körper nur mit dem Hirn und ein paar Elektroden im Cortex steuert. Wired untersucht das blockchainbasierte Web3.

The Atlantic (USA), 17.05.2022

Die britische Journalistin Helen Lewis staunt über die amerikanische Bürgerrechtsorganisation ACLU, die 1973 am Prozess Roe v. Wade beteiligt war und sich jetzt auch zur neuen Abtreibungsdebatte geäußert hat: Laut ACLU schadet ein Abtreibungsverbot "unverhältnismäßig stark Schwarzen, Indigenen und People of Colour, der LGBTQ Community, Immigranten, jungen Menschen, armen Menschen und Menschen mit Behinderungen". Eine Gruppe, die nicht vorkommt, obwohl man annehmen könnte, dass sie vor allem "unverhältnismäßig stark" betroffen wäre, sind Frauen. Warum fragt sich Lewis, will ACLU das "biologische Geschlecht aus einem Gespräch herauszustreichen, in dem das biologische Geschlecht unvermeidlich ist? Die Rechte hat den Frauen den Krieg erklärt. Die Linke hat darauf geantwortet, indem sie dem Wort 'Frauen' den Krieg erklärt hat. ... Sprachkämpfe sollten uns nicht von der wahren Ungerechtigkeit ablenken, die durch die mögliche Aufhebung von Roe v. Wade aufgeworfen wird: die Abschaffung des Rechts auf Privatsphäre und körperliche Autonomie für 51 Prozent der Amerikaner. Etwas geht verloren, wenn Abtreibungsrechtler sich scheuen, von Frauen zu sprechen. Wir verlieren die Fähigkeit, über Frauen als mehr als eine zufällige Ansammlung von Organen zu sprechen, Körper, die zufällig menstruieren oder bluten oder gebären. Wir verlieren die Fähigkeit, die gemeinsamen Erfahrungen von Frauen und die Diskriminierung, der sie im Laufe ihres reproduktiven Lebens ausgesetzt sind, miteinander zu verbinden. Indem wir Frauen durch Menschen ersetzen, verlieren wir die Fähigkeit, von Frauen als einer Klasse zu sprechen. Wir zerlegen sie in Teile, in Funktionen, in Waren. Dies geschieht auf vielerlei Weise. Diese Woche habe ich auch gesehen, wie ein Axios-Redakteur einen Reporter der New York Times zurechtwies, weil er von 'Leihmüttern' statt von 'Schwangerschaftsausträgerinnen' geschrieben hat - als ob letztere Formulierung nicht entmenschlichend wäre, nur ein Flüstern entfernt von 'Gefäßen'."

Bei Abtreibungen geht es immer um die Frage, ab wann ein Embryo ein Mensch ist. Für die Abtreibungsgegner ist er ab dem Moment der Empfängnis "beseelt", weshalb Abtreibungen verboten sein sollten. Aber das verstößt gegen die Verfassung, die ausdrücklich keine Staatsreligion kennt, erinnert die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood: "Ein solches Urteil hängt von einem religiösen Glauben ab, nämlich dem Glauben an Seelen. Nicht jeder teilt einen solchen Glauben. Aber alle, so scheint es, laufen nun Gefahr, Gesetzen unterworfen zu werden, die von denjenigen formuliert wurden, die dies tun. Was innerhalb einer bestimmten religiösen Überzeugung eine Sünde ist, soll für alle zum Verbrechen werden. ... Es sollte ganz einfach sein: Wenn Sie an die 'Beseelung' bei der Empfängnis glauben, sollten Sie nicht abtreiben, denn das ist in Ihrer Religion eine Sünde. Wenn Sie nicht daran glauben, sollten Sie - gemäß der Verfassung - nicht an die religiösen Überzeugungen anderer gebunden sein. Sollte die Stellungnahme von [Richter Samuel] Alito jedoch zum neuen Gesetz werden, sind die Vereinigten Staaten auf dem besten Weg, eine Staatsreligion einzuführen. Massachusetts hatte im 17. Jahrhundert eine offizielle Religion. Jahrhundert eine offizielle Religion. Um sie zu schützen, hängten die Puritaner Quäker auf."
Archiv: The Atlantic

New York Magazine (USA), 09.05.2022

Kerry Howley porträtiert die Abtreibungsgegnerin Marjorie Dannenfelser, die seit Jahrzehnten mit ihrer Organisation SBA wahre Terror-Kampagnen gegen Politikerinnen und Politiker anzettelt, wenn die sich nicht entschieden genug auf ihre Seite stellen. Dannenfelser ist eine konvertierte Katholikin, sie glaubt an den Teufel und an das Böse, doch ihr politisches Handwerk hat sie bei dem Demokraten Alan Mollohan gelernt: "1989 leitete er den Pro-Life-Caucus im Repräsentantenhaus. 'Er war gut zu mir', sagt Dannenfelser, 'wie ein Vater. Er kümmerte sich.' Er ließ zu, dass sie langweilige Aufgaben vernachlässigte, um sich ganz auf das zu konzentrieren, was ihr am Herzen lag. Von Mollohan lernte Dannenfelser eine ihrer wichtigsten politischen Lektionen: Beim Ausüben politischer Macht darf man nicht zögern. 'Wenn man auf einen Bären schießt', erklärte er ihr, 'muss man ihn töten'. Zwei Jahrzehnte später, im Jahr 2010, war Dannenfelser Kopf der Susan-B.-Anthony-Liste, eine Gruppe, die ausschließlich daran arbeitet, Abtreibungsgegner im Wahlkampf zu unterstützen. In dem Jahr votierte Mollohan, mittlerweile seit 14 Legislaturperioden Abgeordneter mit makellosem Abstimmungsverhalten, auf eine Art, mit der Dannenfelser nicht einverstanden war. Mollohan glaubte, dass Obamacare staatlich finanzierte Abtreibungen wirksam ausschloss, sie dagegen hielt das entsprechende Dekret von Barack Obama nicht für verlässlich. Nachdem Mollohan für das Gesetz gestimmt hatte, wies Dannenfelser ihr Spendenkomitee an, 78.000 Dollar gegen Mollohan einzusetzen, und ließ im Radio Werbespots senden, in denen es hieß: 'Alan Mollohan hat uns verraten und dafür gestimmt, staatliches Geld für Abtreibungen aufzuwenden', obwohl dies höchstens unklar war. Der Abgeordnete verlor seine Wiederwahl."

New Yorker (USA), 16.05.2022

Peter Hessler zeichnet in einem Brief aus Chengdu, wo er an der Universität Sichuan englische Literatur unterrichtet hat, ein differenziertes Bild seiner Studenten: Angepasst und gleichzeitig enorm erfinderisch, kritisch und gleichzeitig auf Parteilinie, vorsichtig und dann wieder mutig. Einem mörderischen Konkurrenzkampf ausgesetzt und gleichzeitig - das beeindruckt einen vielleicht am stärksten - oft "brutal ehrlich mit sich selbst": "Meine Studenten an der Universität Sichuan waren alte Seelen. Sie wussten, wie die Dinge funktionierten; sie kannten die Mängel des Systems und auch seine Vorteile. Das Umfeld, in das sie eintraten, war im Wesentlichen dasselbe, in dem ihre Eltern gearbeitet hatten: Zum ersten Mal war China über einen Zeitraum, der länger ist als das Gedächtnis eines Universitätsstudenten, sowohl stabil als auch wohlhabend. Wenn sie über die Generation ihrer Eltern und über die Gesellschaft, die sie eines Tages erben würden, schrieben, konnten sie völlig kaltschnäuzig sein: 'Meine Eltern wurden in den 1970er Jahren geboren, und ich glaube, sie gehören heute zur unteren Mittelschicht in China. Sie zeichnen sich durch einen festen Patriotismus und einen lässigen Zynismus aus. Sie unterstützen die Volksrepublik China nachdrücklich, nicht indem sie die chinesische Regierung loben, sondern indem sie ausländische Regierungen kritisieren. Sie weigern sich, Apple-Produkte zu verwenden, lehnen Reisen nach Japan ab und tun Trump als verrückt und bösartig ab. Dennoch bewundern sie China nur selten mit Leidenschaft. Sie sind Zeugen von Korruption in der chinesischen Bürokratie und von Ungerechtigkeit in der Gesellschaft, die sie nicht beseitigen können, und sagen daher immer: Es ist eben so. ... Ich glaube, meine Generation, die im Zeitalter des Internets geboren wurde, ist verwirrt und irgendwie deprimiert über den Konflikt zwischen chinesischen und westlichen Überzeugungen. Im Internet herrscht Propaganda über Freiheit und Vernunft, während in den Schulbüchern Propaganda über Patriotismus und Kommunismus vorherrscht. Die Jugendlichen werden meist von Ersterem angezogen, aber wenn sie Prüfungen ablegen und einen Job anstreben, sollten sie das Letztere im Hinterkopf behalten, und in der Praxis funktioniert das Letztere in China meistens besser.' Solche Worte zu lesen, war herzzerreißend, aber auch inspirierend: Schon die Beschreibung einer Situation, für die es keine einfache Lösung gibt, ist eine Art von Handlungsfähigkeit. Trotz des erdrückenden politischen Klimas und der zermürbenden Gaokao-Routine brachte das chinesische Bildungssystem eine nicht geringe Anzahl von Menschen hervor, die beobachten und analysieren, denken und schreiben konnten."

Stephen Witt stellt den türkischen Waffenproduzenten und Schwiegersohn Erdogans Selçuk Bayraktar vor, dessen Drohnen erfolgreich von der ukrainischen Armee gegen die russische eingesetzt werden, aber auch Kurden töten oder Armenier: "Die TB2 werden nicht nur in der Ukraine und Aserbaidschan eingesetzt, sondern auch von den Regierungen von Nigeria, Äthiopien, Katar, Libyen, Marokko und Polen. Als ich mit Bayraktar sprach, hatte er gerade ein Verkaufsgespräch in Ostasien abgeschlossen, bei dem er seine in Kürze erscheinende TB3-Drohne anpries, die von einem Boot aus gestartet werden kann."

Im neuen Heft erzählt Joshua Yaffa von der russischen Besatzung der ukrainischen Stadt Melitopol. Andrew Marantz beschreibt das Kollaborationstalent des Musikers Jack Antonoff. Ben Taub porträtiert den Fotojournalisten Paolo Pellegrin. Und Alex Ross singt ein Loblied auf das South Dakota Symphony Orchestra.
Archiv: New Yorker

Deník Referendum (Tschechien), 13.05.2022

Setzt der Westen zu Unrecht seine Hoffnungen auf die russische Jugend und die Studenten? Darüber führen Olga Tschadajewa und Jitka Komendová ein eindrückliches Gespräch mit der St. Petersburger Philosophieprofessorin, Künstlerin und Aktivistin Maria Rachmaninowa, die Russland zu Beginn des Krieges verlassen hat, nachdem sie an der Universität nicht mehr offen sprechen durfte. Nach Rachmaninowas Erfahrung sind Studenten ein unbeschriebenes Blatt mit allen möglichen Anlagen - auch für die Freiheit -, doch würden diese Anlagen aktiv von der älteren Generation unterdrückt, die noch dem imperialen, sowjetischen Denken verhaftet sei. Das gegenwärtige russische Regime fördere eine träge Persönlichkeitsstruktur mit ihren schlimmsten Merkmalen: "Infantilität, Verantwortungslosigkeit, Anbetung von Gewalt und eine Selbstgefälligkeit, die die eigene kulturelle oder ethnische Herkunft als einen Ablass nutzt." Die heutigen Studenten, so Rachmaninowa, seien seit ihrer Schulzeit von drei gefährlichen Faktoren geprägt: "Das Erste ist die Überzeugung, dass sie Kinder seien. Die meisten Studenten sprechen so von sich, selbst mit zweiundzwanzig Jahren noch. Das Zweite ist die Überzeugung, dass alle Erwachsenen gleich sind und immer Recht haben. Darin liegt die Gefahr einer Infantilisierung der Bürger, die wir in Russland beobachten können, einer bürgerlichen Hilflosigkeit und Passivität: Irgendwo entscheidet irgendjemand etwas für mich, da kommen ein paar Erwachsene und organisieren alles und machen es richtig, ich kann mich da nicht einmischen. (…) Und das Dritte ist die Überzeugung, dass alles Unerfreuliche potenziell verdächtig ist, gefährlich und beunruhigend, verbunden mit Depression und irgendeiner Art von Psychopathologie. Wenn die Studenten in meinen Kurs kommen und über Themen nachzudenken beginnen, mit denen sich gelehrte Autoren befasst haben, machen sie sich zum ersten Mal bewusst, dass die Welt kein Disneyland mit rosa Ponys ist, sondern dass es Probleme gibt, Orte des Konflikts, Traumata. Für sie ist das ein Schock."

London Review of Books (UK), 16.05.2022

75 bis 100 Prozent ihres Getreides importieren die nordafrikanischen Läner aus Russland und der Ukraine. Seit Beginn des Krieges sind die Weizenpreise noch einmal um fünfzig Prozent gestiegen, die Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen warnen bereits vor einem "Hurrikan des globalen Hungers". Aber sie betonen auch, wie Tom Stevenson berichtet, dass die Versorgungskrise nicht mit dem Krieg begonnen hat, sondern durch ihn nur offensichtlich wurde: "Eine Vielzahl von Ursachen wurde aufgeführt, vom volatilen Wetter bis zu veränderten Ernährungsgewohnheiten in China und Indien. Ein wichtigerer Faktor sind allerdings die Nachwirkungen der Covid-Pandemie auf transnationale Produktion und Schiffsverkehr: Momentan kreisen fünfhundert Schiffe vor dem Hafen von Schanghai. Knappheit herrscht an vielen Enden: Weltweit sind die Bestände an Aluminium, Kupfer, Nickel und Zink um siebzig Prozent gesunken. Aber es sind die kritischen Rohstoffe - Weizen und fossile Brennstoffe -, die das Ausmaß des Problems offenbart haben. Doch bei allen Schäden, die die Pandemie hinterlassen hat, kann sie doch nicht vollständig den Anstieg der Lebensmittelpreise erklären, die dem Krieg in der Ukraine vorangegangen ist. Ein wichtiger Teil der Geschichte spielt auf den kaum regulierten Rohstoffmärkten, die von einer Handvoll Finanzinstitutionen und Unternehmen dominiert werden. Spekulationen haben Lebensmittel in der Finanzkrise 2008 für viele Arme unerschwinglich gemacht. Investmentbanken bestreiten häufig, dass Spekulationen verantwortlich sind für ungewöhnliche Preisschwankungen. Jeff Currie, der führende Rohstoff-Analyst von Goldman Sachs, macht dafür - vorhersehbar - die zu starke Regulierung der Banken verantwortlich, aber auch ein Kapitaldefizit - zu viel Geld gehe in Netflix, zu wenig in Öl, Bergbau und industrielle Landwirtschaft. Aber das ist kaum überzeugend. Große Finanzinstitute und Händler, die auf Preise von Energie und Lebensmitteln wetten, verstärken mit ziemlicher Sicherheit die Preisausschläge. Selbst die Liquidität der großen Rohstoffspezialisten wie Trafigura, Vitol, Glencore und Cargill ist dank ihrer Derivateposition angespannt."

Elet es Irodalom (Ungarn), 13.05.2022

Im Gespräch mit Zoltán Szalay denkt der in der Slowakei geborene und in Warschau lebende Dichter und Literaturhistoriker Zoltán Németh über die Veränderung des Konzepts der ungarischen Literatur nach: "Man kann das gut an der ungarischen Literatur in der Slowakei erkennen. In den neunziger Jahren flammte die Idee einer einheitlichen ungarischen Literatur auf. Politische Grenzen sollten nicht zählen, nur die Poetik. Die ungarischen Schriftsteller nahmen alle an jener Kanonerstellung teil, die sich in Budapest ereignete. Die Leute aus Siebenbürgen hatten daran genauso ihren Teil wie die aus der Slowakei usw. Als sich in Ungarn jedoch 2010 das literaturpolitische System veränderte, wurde jegliche Poetik durch die Frage überschrieben, wer sich wie gegenüber der Macht verhält. Die Idee des Raums einer einheitlichen ungarischen Literatur wurde in Frage gestellt." Németh sieht durchaus Potenzial bei jüngeren Autoren, "doch manchmal habe ich das Gefühl, dass die jungen ungarischen Autoren aus der Slowakei noch zurückgezogener sind als wir früher es waren. Sie begnügen sie mit der Publikation bei Kalligramm (ein Verlag, der meist ungarische Literatur in der Slowakei veröffentlicht - Anm. d. Red.) oder in der Literarischen Rundschau (Irodalmi Szemle - ungarische Literaturzeitschrift in der Slowakei - Anm. d. Red.), obgleich, wenn sie in mehreren Organen erscheinen würden, wäre das eine größere Inspiration für sie. Auch wenn wir nicht (mehr) in einer einheitlichen ungarischen Literatur denken, müssen wir uns irgendwie doch im gemeinsamen Raum der ungarischen Literatur messen lassen." (Hintergrund:  )

La regle du jeu (Frankreich), 16.05.2022

Zwölf Quadratkilometer groß ist das Geländer des Asow-Stahlwerks in Mariupol. Die Zivilisten haben das Gelände inzwischen wohl verlassen. Es harren noch einige hundert Kämpfer des Asow-Regiments aus - durch die Größe des Geländes haben die Russen offenbar Probleme, sie zu stellen. Einige - vor allem schwer Verletzte - durften das Werk verlassen und sollen ausgetauscht werden, war heute zu lesen. Bernard-Henri Lévy hat zuvor per Zoom mit Ilja Samoilenko, dem Vizekommandeur der Einheit gesprochen - ein Dokument des düstersten Pathos. Lévy gibt das Gespräch in Frage-Antwort-Form wieder.
- "Da die Belagerung so hermetisch ist, warum geben sich die Russen nicht damit zufrieden, Sie verdursten und verhungern zu lassen? Sie müssen doch nur warten?
- "Weil sie uns töten wollen. Und zwar alle. Und einen nach dem anderen. Wir haben Fälle von Kameraden, die sie gefangen genommen haben. Sie haben sie hingerichtet, unter Missachtung der Kriegsgesetze. Ihre Mütter haben ein Foto von ihnen erhalten, das mit ihrem eigenen Handy aufgenommen wurde. Einen von ihnen haben sie erstickt, den Kopf in einer Plastiktüte, mitten in einem Roggenfeld."
Ich frage, ob ich diese Bilder haben kann.
- "Wir werden sie Ihnen zusenden. Aber eines müssen Sie verstehen. Unser Widerstand treibt sie in den Wahnsinn. Ohne uns hätten sie am 9. Mai in Mariupol den Sieg erklärt. Wir sind der Stein in Putins Schuh."
Archiv: La regle du jeu

Rolling Stone (USA), 14.05.2022

Nataliya Gumenyuk berichtet aus der jüdischen Gemeinde in Dnipro, mit rund einer Million Einwohnern die größte ukrainische Stadt nahe der Front und "humanitäres und logistisches Drehkreuz, das drei ukrainische Kriegsregionen unterstützt". Als wichtigstes jüdisches Zentrum in der Ukraine ist Dnipro auch Hauptquartier für die Hilfe für die jüdische Bevölkerung des Landes geworden. "Jahrelang hat Wladimir Putin in seinen öffentlichen Reden die Ukrainer beschuldigt, Nazis an die Macht zu bringen. Die aktuelle Invasion wurde unter dem Vorwand der 'Entnazifizierung' angekündigt. Als Russland 2014 die Krim und den Donbass besetzte, versuchten die ukrainischen Juden - Rabbiner, Künstler, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Politiker jüdischer Herkunft - zunächst, diese Behauptungen zu entkräften, indem sie sich mit ihren Bekannten in Russland auseinandersetzten. 2022 fanden viele die Behauptungen Putins so lächerlich, dass sie sie lieber ignorierten, als sich mit ihnen auseinanderzusetzen, weil die Rhetorik des Kremls oft die eigenen Krankheiten auf andere projiziert. Aber hier in Dnipro ist die blühende jüdische Gemeinde ein täglicher Gegenbeweis für Putins falsche Behauptungen."
Archiv: Rolling Stone

La vie des idees (Frankreich), 13.05.2022

Die Politologin Clémentine Fauconnier hat über Wladimir Putins Partei "Einiges Russland" geforscht. Im Gespräch mit Florent Guénard erzählt sie, wie diese Partei durch zahllose Manipulationen bei den Wahlen immer wieder eine "Supermehrheit" erreichte. Flankiert wurden diese Manipulationen durch Verfassungsänderungen und eine immer rigidere Gesetzgebung, die die Zivilbevölkerung einschränkte. Viele jüngere und qualifizierte Russen verließen das Land schon vor dem Krieg. Die Zwangsmaßnahmen wurde lange Zeit jedoch "durch die Aufrechterhaltung gewisser Freiheiten - insbesondere bis vor kurzem im Internet - als auch durch ein wirtschaftliches Wachstum, das die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbesserte, ausgeglichen. Seit Putins Rückkehr ins Präsidentenamt im Jahr 2012 ist die repressive Dimension immer stärker in den Vordergrund gerückt. Die dramatische Verschärfung, die durch den Ausbruch des Krieges in der Ukraine verursacht wurde, wirft die Frage auf, ob der russische Staat in der Lage ist, die Gesellschaft wirklich so stark zu kontrollieren, da es insbesondere an wirklichen Führungsstrukturen und einer mobilisierenden Ideologie fehlt."

Prospect (UK), 12.05.2022

Eine große Mehrheit der Russen glaubt Putins Propaganda. Für sie ist der Westen eine "abstrakte Hochburg des Bösen", schreibt Anastasia Kirilenko, Journalistin bei der im Exil veröffentlichten russischen Webseite The Insider, was auch damit zu tun habe, dass kaum jemand den Westen kenne: 76 Prozent der Russen waren noch nie im Ausland. "Diese schockierenden Zahlen lassen sich mit der Armut erklären. Moskau und St. Petersburg, wo 12 Prozent der Russen leben, können sich eines europäischen Lebensstandards rühmen. Aber andere Regionen sind so arm wie die ärmsten Länder der Welt. Aus diesen Gebieten, in denen verzweifelte Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, melden sich junge Männer in Scharen freiwillig zum Kampf in der Ukraine. Das so genannte Untersuchungskomitee Russlands hat Dutzende von Fällen über 'biologische Labors in der Ukraine', 'Kriegsverbrechen in der Ukraine', die von Ukrainern begangen wurden, über die Vorbereitung von Atomwaffen in der Ukraine und so weiter eröffnet. Das Komitee hat sogar sein eigenes Fernsehprojekt Za Pravda (Für die Wahrheit) ins Leben gerufen, in dem behauptet wird, die Ukraine sei ein künstlicher Staat. ... Parallelen zur Sowjetzeit drängen sich auf. Damals gab es eine Burdenko-Kommission zur 'Wahrheit über Katyn', die 'Untersuchungen' veröffentlichte, die zu dem Schluss kamen, dass die Deutschen 20.000 gefangene polnische Offiziere in Katyn in Smolensk, nahe der russischen Grenze zu Weißrussland, erschossen haben. Tatsächlich wurden die Erschießungen von der UdSSR im April 1940 nach dem Hitler-Stalin-Pakt durchgeführt. In diesem Sinne hat Russland vor kurzem 'Tribunal' gegen die 'Ukrainer, die das Massaker in Bucha verübt haben', angekündigt. Damit soll die örtliche russische Bevölkerung davon überzeugt werden, dass die Gräueltaten an den Menschenrechten nicht von ihrer heldenhaften Armee verübt worden sein können. Auf diese Weise werden 144 Millionen Menschen darauf vorbereitet, einen größeren Krieg mit dem Westen zu unterstützen, dem vorgeworfen wird, Russland zu Unrecht für ukrainische Verbrechen verantwortlich zu machen."
Archiv: Prospect

New York Times (USA), 15.05.2022

Das neue New York Times Magazine befasst sich mit Körpermodifikationen. Und so woke man hier inzwischen auch ist: Besteht die Wahl fürs Coverbild zwischen einem Hirnimplantat, dem neuen Penis eines Transmannes oder einem aufgespritzten weiblichen Hintern wählt die Redaktion... Ganz genau. Ferris Jabr besucht für seine Reportage Menschen, die durch eine Krankheit oder einen Unfall körperlich so schwer beeinträchtigt sind, dass sie technische Hilfsmittel nur übers Gehirn steuern können. Die Forschung zur Verbindung menschlicher Gehirne mit Technik beschränkt sich allerdings bisher auf einige Freiwillige. Einer von ihnen ist Dennis DeGray, der seit einem Unfall gelähmt ist und sich für ein Projekt der Stanford University zwei 4 mal 4 Millimeter große Elektroden in den Cortex implementieren ließ, die die Impulse hunderter Neuronen in ein elektrisches Signal umwandeln: "Die Algorithmen wurden von David Brandman entwickelt, der damals als Doktorand der Neurowissenschaften mit dem Team aus Stanford im Rahmen der Gruppe 'BrainGate' zusammenarbeitete. Er entwickelte sie so, dass sie schnell verschiedene Muster neuronaler Aktivität mit verschiedenen beabsichtigten Handbewegungen verknüpfen und sich alle zwei bis drei Sekunden aktualisieren, wobei sie theoretisch jedes Mal genauer werden. Wären die Neuronen in DeGrays Schädel Klaviernoten, dann wären seine unterschiedlichen Absichten mit einzigartigen Kompositionen vergleichbar. Der Versuch, seine Hand zu heben, entspräche beispielsweise einer neuronalen Melodie, während der Versuch, die Hand nach rechts zu bewegen, mit einer anderen übereinstimmte. Wenn der Decoder lernte, DeGrays Bewegungen zu erkennen, würde er Befehle senden, um den Cursor in die jeweilige Richtung zu bewegen. Brandman bat DeGray, sich eine Bewegung vorzustellen, mit der er den Cursor intuitiv kontrollieren könnte. Während er auf den Computerbildschirm starrte und seine Gedanken nach einem möglichen Beginn absuchte, erinnerte sich DeGray an eine Szene aus 'Ghost', in der der verstorbene Sam Wheat (gespielt von Patrick Swayze) unsichtbar einen Penny an der Tür entlang gleiten lässt, um seiner Freundin zu beweisen, dass er noch immer in spektraler Form existiert. DeGray stellte sich vor, wie er den Cursor genauso zum Ziel bewegte wie diesen Penny. Auch wenn er physisch unfähig war, seine Hand zu bewegen, versuchte er es trotzdem mit aller Kraft. Brandman war begeistert, als er sah, dass der Dekoder genauso schnell funktionierte, wie er erhofft hatte. In 37 Sekunden erlangte DeGray Kontrolle über den Kursor und erreichte den ersten leuchtenden Punkt. Innerhalb weniger Minuten erreichte er dutzende Ziele hintereinander."
Archiv: New York Times
Stichwörter: Woke, Algorithmen

The Comics Journal (USA), 12.05.2022

Ende April ist der Comiczeichner Neal Adams gestorben, der in den siebziger Jahren maßgeblich dazu beitrug, den Superheldencomic zu modernisieren - dass Batman heute nicht mehr ein naiver Unterhosenstrampler ist, hat er maßgeblich Adams zu verdanken. Das Comics Journal hat in seinem Archiv gewühlt und ein episches Interview mit Adams aus dem Jahr 1982 ausgegraben. Unter anderem geht es um das Verhältnis zwischen Comic- und Filmindustrie. Der moderne Blockbuster war damals erst wenige Jahre alt. Im Rückblick aus einer Zeit, in der das Kino von Superheldenfilmen geradezu belagert scheint, erweist sich Adams in seiner Einschätzung als erstaunlich hellsichtig und unterstreicht nochmal beeindruckend die Tatsache, dass in der weitgehend parallel ablaufenden Geschichte von Comic und Film häufig nicht etwa der Comic das Derivat des Films darstellte, sondern sich der Film immer wieder am Comic orientiert hat (dass Godard sich seinen Jump-Cut aus Comics abgeschaut hat, wissen Sie ja sicher). Damals arbeitete Adams gerade an einem eigenen Film, den er, wie er sagt, als Comic allerdings nicht hätte umsetzen können, "weil er einfach nicht aus den Vollen der Imaginationskraft schöpfen kann. Das hat mit den Budgetproblemen zu tun. Wissen Sie, ich verstehe das Comic-Publikum. Das Comic-Publikum fühlt sich nicht von den Sachen unterhalten, die bei einem TV-Publikum gut ankommen. Man setzt keine Seifenoper in Comicform um, weil es einfach viel besser ist, sich so etwas im Fernsehen anzusehen. Der einzige Bereich, in dem wir als Comickünstler überleben können, ist jener, an dessen Darstellung Film und Fernsehen scheitern. In gewisser Hinsicht sollten Leute wie George Lucas uns eigentlich richtig Angst einjagen, weil er tatsächlich in der Lage war, viel von unserem Zeug auf die Leinwand zu bringen. Aber nur als Beispiel: Würde man 'Star Wars' auf ein Comicheft eindampfen, dann ist es nun einmal Fakt, dass dieses 'Star Wars'-Heft beileibe nicht so interessant wäre wie die 'Avengers' oder die 'Fantastic Four'. In diesen Bereich der Imaginationskraft ist es noch nicht vorgedrungen. Dort, wo wir unsere Fantasie bis an die Grenzen des Vorstellbaren erweitern, liegt unser Erfolg. Offensichtlich haben wir diese Grenze jetzt noch nicht erreicht - und wir werden sie auch noch lange nicht erreicht haben." Im selben Jahr 1982 revolutionierte übrigens Alan Moore mit seinem "Swamp Thing"-Zyklus - und mit seiner Vorstellungskraft - den Mainstream-Comic. Und heute, da das digitale Kino keine Grenzen mehr kennt, darbt die Comicindustrie in einer seit Jahren anhaltenden Krise.

Magyar Narancs (Ungarn), 12.05.2022

Der Historiker und Politikwissenschaftler Péter Tálas beschreibt die Bedeutung der EU-Sanktionen gegenüber Russland für eine künftige internationale Ordnung: "Bekanntlich ereignete sich eine sprichwörtliche Revolution in der Russlandpolitik der Europäischen Union, aber insbesondere in der Russlandpolitik von Deutschland, das die EU anführt. Dies zeigt sich in der Absage von North Stream 2, der drastischen Steigerung der Verteidigungsausgaben, der Unterstützung der harten wirtschaftlichen Sanktionen, der Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine oder dem Beenden der Energieabhängigkeit von Russland. Die EU - zusammen mit den USA - verordnete die stärksten Sanktionen aller Zeiten gegenüber Russland, was manche als den Einsatz einer 'taktischen Atombombe' bezeichnen. Für die Zukunft der Europäischen Union bleibt jedoch eine ganz entscheidende strategische Frage zu beantworten: Nämlich, ob die wirtschaftlichen Sanktionen des Westens tatsächlich den Kriegsverlauf entscheiden können. Wenn die Antwort Ja lautet, dann wird dieses Instrument das Machtpotential der EU wesentlich erhöhen, was wiederum auch die internationale Einschätzung der Union verbessern dürfte. Denn eigentlich hängt davon ab, ob die EU aus strategischer Sicht zu den Siegern oder Verlieren des Russisch-Ukrainischen Krieges zählen wird. Ob ihr eine ernsthafte Hoffnung bleibt, als eigenständiger Machtpol in der sich verändernden Weltordnung aufzutreten, oder ob sie eine der untergeordneten Verbündeten der USA bleibt."
Archiv: Magyar Narancs

Wired (USA), 10.05.2022

Dezentrale Daten, Antikapitalismus, Partizipation und immense Freiheiten: Die Versprechen, mit denen das blockchainbasierte Web3 für sich wirbt, klingen fast schon nostalgisch stimmend nach jenen, mit denen schon das ursprüngliche Netz und das Web 2.0 an den Start gegangen sind, nur zu einem bitteren Erwachen (Überwachung, Datensilos, Machtkonzentration) zu führen. Was ist also vom Web3 zu halten, fragt sich Gilad Edelman in seiner Reportage. Blockchain, also die Technologie, die Kryptowährungen ermöglicht, gestattet es ja, Daten dezentral über das Netzwerk hinweg zu speichern, statt lediglich zentrale Datenserver in einem dezentralen Netzwerk miteinander zu verbinden. Das Problem dabei: Bis solche Technologien in den Bereich der Anwenderfreundlichkeit geraten, ist es noch ein langer Weg. "Die Nutzer-Unfreundlichkeit von Krypto-Techniken belegt das ganze Ökosystem mit dem erheblichen Druck, genau das zu tun, für was es nicht angelegt ist: zu zentralisieren." In einem Blogbeitrag schrieb der Kryptographer Moxie Marlinspike, "dass die meisten Menschen sich nach Bequemlichkeit sehnen, weshalb sich letzten Endes immer zentralisierte Dienste auf dezentralen Strukturen setzen. In den Anfangstagen von Web 1.0 dachten einige noch 'wir werden alle unsere eigenen Webserver haben, unsere eigenen Mailserver für unsere eigene E-Mail', schreibt er. ... Dieses Muster wiederholt sich bereits im Hinblick auf Web3. Dass eine App auf unserem Handy mit der Blockchain kommuniziert, gestaltet sich noch als sehr schwerfällig, wenn es überhaupt möglich ist. Also sind fast alle Web3-Apps auf eine von zwei Firmen angewiesen - Infura und Alchemy -, um dies zu bewerkstelligen. Ähnlich verhält es sich mit den digitalen Geldbeuteln, die die meisten Leute nutzen, um ihr digitales Vermögen zu verwalten. Anders gesagt: Nahezu jedes Web3-Produkt muss sich auf einen Mittelsmann verlassen, um einem zu sagen, was auf der Blockchain vor sich geht. Das setzt ein gehöriges Maß an Vertrauen voraus für ein System, das mal darauf angelegt war, Vertrauen obsolet zu machen."
Archiv: Wired
Stichwörter: Blockchain, Web3, Antikapitalismus