Magazinrundschau

Sie waren alle meine Freunde

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
14.06.2022. Eurozine erzählt die Geschichte ethnischer Minderheiten in der Ukraine. Im Interview mit Wired stellt Ukraines Präsident Selenski die dritte Armee seines Landes vor. In Pritomnost denkt Jacques Rupnik darüber nach, was Mittel- und was Osteuropa ist. Die New York Times erklärt die Arbeitsweise von Ruangrupa. In Words without Borders betrachtet Olga Tokarczuk die Entwicklung des neuen Menschen. Der New Yorker porträtiert die neue Hoffnung der lateinamerikanischen Linken: Chiles 36-jährigen Präsidenten Gabriel Boric. Die kalifornische Linke dagegen verspielt gerade jede Hoffnung, die in sie gesetzt wurde, beobachtet The Atlantic.

Eurozine (Österreich), 14.06.2022

In Eurozine stellt Olesya Yaremchuk einige der ethnischen Minderheiten in der Ukraine vor, die durch den Krieg auch in ihrer Vielfalt zerstört wird: Krimtataren, die Nachfahren von Estlandschweden, die 1782 von der Insel Dagö in die Südukraine kamen, weil Katharina II. sie als Bauern angefordert hatte, türkischsprachige Mescheten, die von den Sowjets von Georgien nach Usbekistan deportiert worden waren, bevor sie vor den Pogromen dort in die Donetsk-Region flohen. Und die Griechen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die "Stadt Mariens", Mariupol, erbauten, nachdem die Russen sie von der Krim deportiert hatten. Viele von ihnen starben bei der Vertreibung, ebenso nach 1937, als Stalins Geheimdienst NKVD sie beschuldigte, gegen die Sowjetunion zu spionieren. "Nach Angaben des Historikers Ivan Dzhukha wurden bis Mai 1938 mehr als 20.000 Griechen wegen 'konterrevolutionärer Aktivitäten' in der Sowjetunion verhaftet. 93 Prozent von ihnen wurden erschossen. Heute ist Russland dabei, die nord-asowischen Griechen zum dritten Mal zu vernichten. ... Die Geister der Sowjetunion erheben sich aus ihren Gräbern und vergiften unser Land, indem sie Flüsse aus Blut hinterlassen. Die Verbrechen der Sowjetunion wurden nicht aufgearbeitet, auch nicht die Verbrechen gegen nationale Minderheiten in der UdSSR. Wir hatten keine Nürnberger Prozesse. Böse Taten blieben ungesühnt. Die Menschen wurden wie eine Ware behandelt, die sortiert wird. Die Russen haben in diesem Jahr bereits Zehntausende von Menschen aus den besetzten Gebieten Asow, Donbas, Slobozhanshchyna und Sivershchyna gewaltsam nach Russland deportiert. Es finden Vertreibungen wie im Zweiten Weltkrieg statt. Wie lange muss man das noch herausschreien?"
Archiv: Eurozine

Rolling Stone (USA), 12.06.2022

Wenn man sich dem Kriegsgeschehen in der Ukraine nähert, wie Mac William Bishop, der sich für den Rolling Stone an die vorderste Front begeben hat und mit Soldaten spricht, nähert man sich auch der Wahrheit. Er trifft zum Beispiel den Soldaten Sasha, Kommandeur einer kleinen Einheit, der sich ihm nach längeren Schweigen bei einer Autofahrt eröffnet: "'Ich habe einen der Männer in meiner Einheit fast zu Tode geprügelt', erzählt er. 'Wir waren in Schützengräben an der Front. Er hat sein Handy benutzt.'
Sasha atmet schwer.
'Die Russen verfolgten sein Signal und lokalisierten unsere Position. Er hat 15 Minuten lang seine Mutter angerufen, dann 15 Minuten lang seine Frau... und dann fast zwei Stunden lang seine Freundin. Sie haben uns die ganze Nacht bombardiert. Deshalb habe ich ihn geschlagen.'
Später erzählt er uns mehr über die Front.
'Wir haben bei unserer ersten Patrouille sechs Männer verloren', sagt er. "'Sechs von zehn. Sie waren alle meine Freunde.'
Er bricht zusammen und weint."
Archiv: Rolling Stone

Wired (USA), 02.06.2022

Geoffrey Cain hat sich in Kiew mit Wolodimir Selenski getroffen. In dem Gespräch geht es insbesondere um digitale Infrastrukturen: Die via Satellit dank SpaceX bewerkstelligten Internet-Zugänge etwa sind "sehr effektiv. Sie halfen uns sehr, vor allem wenn Städte und Ortschaften blockiert waren. So konnten wir mit den besetzten Gebieten Kontakt halten. Manchmal verloren wir die ganze Kommunikation mit diesen Orten. Doch verliert man den Kontakt zu den Leuten, dann bedeutet dies den totalen Kontrollverlust, einen umfassenden Realitätsverlust. Glauben Sie mir: Die Leute, die es aus den besetzten Gebieten raus schafften und keine SpaceX-Anbindung hatten, erzählten uns, dass die Russen ihnen gesagt haben, dass die Ukraine nicht mehr existiert - und manche glaubten das sogar. ... In den ersten Kriegstagen widmeten wir einen beträchtlichen Teil unserer Zeit der Logistik für den Kampf im Cyberspace. Ich denke, darin liegt die Zukunft - und ich glaube, hier entstand unsere dritte Armee. Wir haben heute wahrscheinlich verschiedene Armeen: die Volksarmee, das bewaffnete Heer der Ukraine und die IT-Armee. Die IT-Armee setzte sich energisch für den Cyberschutz unserer Institutionen ein, die harten Angriffen ausgesetzt waren. Die Angreifer wollten die Nationalbank und das Abgeordnetenkabinett zu Fall bringen. Sie wollten alles niederreißen, damit wir keine Löhne und Renten mehr zahlen können, damit das Licht und die Kommunikation ausfallen, sodass die Leute nicht mehr hören könnten, was ich ihnen sage, was wir alle zu sagen haben, was es an aktuellen Informationen gibt. Unsere IT-Armee hat hier ganze Arbeit geleistet."
Archiv: Wired

Pritomnost (Tschechien), 30.05.2022

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine, so schreibt der in Prag geborene französische Historiker Jacques Rupnik in einem Essay, berührt auch die alte Frage, was Mittel- und was Osteuropa sei. 1983 hatte Milan Kundera in seinem Essay "Die Tragödie Mitteleuropas" mit seiner These vom "entführten Westen" eine Debatte angestoßen. "Mitteleuropa ist kulturell im Westen, politisch im Osten, geografisch in der Mitte", schrieb Kundera damals, zu Kommunismuszeiten. Nach 1989 habe sich, so Rupnik, Mitteleuropa von einer kulturellen zu einer politischen Idee gewandelt - "von der Kundera-Phase zur Havel-Phase". Die ganze Region hatte dieselbe politische Agenda (Desowjetisierung, Demokratisierung, regionale Zusammenarbeit, die "Rückkehr nach Europa"), auch wenn nicht klar gewesen sei, wer genau dazugehören sollte. 1990 initiierte der italienische Außenminister De Michelis mit der sogenannten "Pentagonale" eine Verbindung der einst zum Habsburgerreich gehörenden norditalienischen Region mit Österreich, der Tschechoslowakei und Jugoslawien. "Später kam Polen hinzu, dann eine lange Reihe von sechzehn Ländern mit immer unklarerem Mitteleuropa-Bezug. Als sich Ende der 90er-Jahre auch Makedonien dem in 'Zentraleuropäische Initiative' umbenannten Projekt anschloss, fragte ich Václav Havel, was das für das Projekt bedeute", erzählt Jacques Rupnik. "Er antwortete mir: 'Es gibt Institutionen, die vor lauter Höflichkeit zugrundegehen.' Darum legte Havel auch auf eine engere Auslegung des Mitteleuropa-Begriffs Wert, die 1991 in der Visegrád-Gruppe Ausdruck fand und 1994 in dem von Havel angeregten Treffen der V4-Präsidenten mit ihren Kollegen aus Slowenien, Österreich und Deutschland. "Die Einreihung der beiden letztgenannten Länder spiegelte die Vorstellung eines West- und Mitteleuropas mit germanischen Elementen wider, auch wenn der deutsche Staatspräsident Richard von Weizsäcker den Begriff 'Mitteleuropa' im Bewusstsein seiner historischen Konnotation mit einer verkappten deutschen Einflusssphäre wohlweislich vermied." Drei Dissidenten, die zu Präsidenten geworden waren - Havel, Lech Wałęsa und Árpád Göncz - hatten die V4 mit klaren Zielen gegründet: an die Zusammenarbeit der Dissidenten Mitteleuropas anzuschließen, eine Rückkehr von Vorkriegsnationalismen zu verhindern und die demokratische Transformation in Hinblick auf die europäische Integration voranzutreiben. Im Unterschied zum kriegsversehrten Südosteuropa und Balkan sei die mitteleuropäische eine Erfolgsgeschichte gewesen, so Rupnik. Nachdem sich die V4-Gruppe in den letzten Jahren mit illiberaler Demokratie und Populismus (Robert Fico in der Slowakei, Andrej Babiš in der ČR) in eine Gegenrichtung bewegt hat und "die Ideologen der regierenden Fidesz in Ungarn und der PiS in Polen deutlich mehr Nähe zu den nationalistischen Ultrakonservativen in Russland zeigten als mit der durchschnittlichen Ausrichtung Westeuropas", habe Russlands Krieg gegen die Ukraine wiederum alles verändert, und die V4 erweise sich nun als ein Nebenopfer des Krieges: "Früher hat Russland die Mitteleuropäer vereint, jetzt trennt es sie. Spätestens seit 2014, als Ungarn und Polen unterschiedlich auf die ukrainische Maidan-Revolution und die russische Annexion der Krim reagierten, glommen die Differenzen auf. Die Invasion vom 24. Februar hat diese Spaltung erneut offenbart - mit wesentlichen Folgen. Die bemerkenswerteste ist das Verschwinden des radikalen Euroskeptizismus in Mitteleuropa." Rupnik schließt seinen Essay: "Erneut werden wir daran erinnert, dass Lwiw einst Lwiw, Lwów und Lemberg zugleich war und ein Teil der Ukraine in Mitteleuropa lag. Heute neigt die Ukraine dem Westen zu, und ihr nächster Westen ist Mitteleuropa - während Mitteleuropa sich in seiner Expansion nach Osten neu zu entdecken versucht."
Archiv: Pritomnost

New York Times (USA), 14.06.2022

Im Magazine widmet Samanth Subramanian einen ausführlichen Artikel den Kuratoren der diesjährigen Documenta, der indonesische Gruppe Ruangrupa und ihrer Arbeit: "In ihrer 22-jährigen Geschichte hat sich die Gruppe von dem Ideal der Kunst als Objekt verabschiedet. Im Indonesischen bedeuten die Wörter ruang und rupa 'Raum' und 'Form', und so preist der zusammengewürfelte Name der Gruppe nicht das Produkt, sondern den Prozess: den physischen Raum, in dem Menschen zusammenarbeiten, Dinge Gestalt annehmen und Kunst gemacht wird. Ruangrupa als 'Künstlerkollektiv' zu bezeichnen, ist eine gängige, aber vielleicht irreführende Kurzformel. Nicht jeder Ruangrupan ist ein herkömmlicher Künstler; einer hat als Journalist gearbeitet, ein anderer hat eine Ausbildung als Ökologe gemacht, ein dritter ist Akademiker. Das Kollektiv hat keine definierte Mitgliedschaft, die über einen Kern von zehn Personen hinausgeht, und diese zehn - Architekten, Grafiker, ein Performance-Künstler - arbeiten nicht miteinander, um das zu schaffen, was wir normalerweise als Kunst bezeichnen. ... Statt dessen propagiert Ruangrupa die Kunst der Zusammenarbeit. Es ist ein Kollektiv, das Kollektivität lehrt. Für seine Projekte wirbt Ruangrupa um Komplizen: Künstler natürlich, aber auch Menschen, die sonst am Rande der Kunstwelt gestrandet sind, wie Slumbewohner oder Fabrikarbeiter. Diesen sozialen Beziehungen und dem Gemeinschaftsgefühl entlockt Ruangrupa eine Ästhetik. Der künstlerische Wert des Bedruckens von T-Shirts, der Verkleidung eines Viertels mit Wandmalereien oder der Herausgabe von Zines liegt in den kollektiven Entscheidungen, die getroffen werden - in dem Prozess, in dem festgelegt wird, welches Design auf welchem Stoff am besten funktioniert, wie hoch die Wandmalereien sein sollen, welche Texte veröffentlicht werden sollen." Bedeutet das nicht, dass die Kunst schon vorbei ist, wenn die Documenta eröffnet? Immerhin: Ab Samstag kann man es selbst überprüfen.
Archiv: New York Times

Magyar Narancs (Ungarn), 08.06.2022

Die Schriftstellerin und Dichterin Krisztina Tóth spricht im Interview mit Orsolya Karafiáth anlässlich der Veröffentlichung ihres neuen Romans über die Möglichkeiten, eine ganze Gesellschaft zu manipulieren: "Ich wollte darüber nachdenken, wohin wir gerade steuern. Tendenzen beobachten, mit den Gedanken spielen, welchen Ausgang diese Prozesse haben könnten. Der Populismus ist eine allgemeine Erscheinung, ebenso wie der Versuch, mittels Propaganda Gräben in der Gesellschaft für sich zu nutzen. Wenn man unbedingt eingrenzen möchte, dann würde ich sagen, dass dies eine ost-mitteleuropäische Geschichte ist. Doch wir sollen nicht eingrenzen! (…) Mir ging es vor allem um die Manipulation. Wie man Massen von Menschen beeinflussen kann (…) Wir sehen, dass dies gerade auf der Ebene der Gesellschaft passiert, wobei die Machtapparate eine missbräuchliche Beziehung mit ihren Bürgern haben. Sie führen ernsthafte Bewusstseinsveränderungen herbei, um Begierden und Affekte zu beherrschen."
Archiv: Magyar Narancs

New Yorker (USA), 13.06.2022

John Lee Anderson porträtiert Chiles neuen Präsidenten, den gerade mal 36-jährigen Gabriel Boric, als undogmatischen Hoffnungsträger einer neuen lateinamerikanischen Linken. Der in Patagonien aufgewachsene und üppig tätowierte Boric ist im Zuge der Protestbewegung bekannt geworden, die das Referendum für eine Veränderung der alten, noch unter Augusto Pinochet verabschiedete Verfassung in Gang gesetzt hatte: "Trotz Boric' Neigung zu einer kraftvollen Sprache, vermeidet er die Rhetorik der harten Linken. Seiner Ansicht nach 'war der Nullsummen-Diskurs der vergangenen Jahrzehnte eher Gift als Dünger'. Schon bevor Boric geboren wurde, hatte Fidel Castro mit seinem absolutistischen Denken über Macht und Politik einen immensen Einfluss auf Lateinamerikas Linke. Die Politiker, die sich am engsten an Castros Beispiel anlehnten, taten dies mit kläglichem Ergebnis: Hugo Chávez und Nicolás Maduro in Venezuela und Daniel Ortega in Nicaragua. Andere linke Politiker in der Hemisphäre, wie Andrés Manuel López Obrador in Mexiko und Alberto Fernández in Argentinien geben sich revolutionär, doch ihr politisches System scheint vor allem damit beschäftigt zu sein, ihre Macht abzusichern. Von den noch lebenden Löwen der Linken haben nur zwei ihren Nimbus bewahrt: Pepe Mujica, der frühere Guerilla, der bis vor zehn Jahren Präsident von Uruguay war und danach auf seine Finca zurückkehrte, und Lula da Silva in Brasilien, der mit den Wahlen im Oktober an die Macht zurückkehren könnte. Boric sagt: 'Wir haben jetzt die Möglichkeit, die Linke neu zu erfinden.' Und er weiß, dass die entscheidende Grenze in der Region nicht zwischen Links und Rechts verläuft, sondern zwischen Demokratie und populistischem Autoritarismus. Boric - jung und unbelastet von der Vergangenheit - scheint der Politiker zu sein, der am besten die Befreiung von der Ideologie propagieren kann."
Archiv: New Yorker

London Review of Books (UK), 09.06.2022

Nach neun Monaten geht in Paris in diesen Wochen der Prozess um die Terrorattentate von Paris zu Ende, bei denen im November 2015 insgesamt 130 Menschen umgebracht wurden. In einem gerafften Protokoll resümiert Madeleine Schwartz den hoch aufgeladenen Prozess derart gelangweilt, dass man sie aus dem Gerichtssaal in eine Top-Gun-Vorstellung schicken möchte. Niemand bietet die richtige Unterhaltung: Die Richter sind ihr zu ironisch, die Zeugen zu politisiert, die belgischen Polizisten zu unfähig, die Verteidiger zu eitel, die Nebenkläger zu rechts. Auf die Nerven geht ihr aber auch der Hauptangeklagte Salah Abdeslam, dessen Sprengstoffgürtel vor dem Stade de France nicht explodierte. Er will sich im letzten Moment umentschieden haben, verteidigt aber Sklaverei und Todesstrafe im Namen des Islams. Immerhin die überlebenden Zeugen aus dem Bataclan lässt Schwartz gelten, vielleicht weil ihre Aussagen ein so ungünstiges Licht auf Frankreich werfen. Zum Beispiel Sophie, 38 Jahre: "Ich erinnere mich, wie sie grinsten, während sie auf die Leute schossen, die ihnen in die Augen gesehen hatten. Ich erinnere mich an den Jungen, der neben mir starb. Wir legten ihn auf uns, um uns zu schützen... Wir sahen Männer mit Waffen und flehten, nicht getötet zu werden. Sie sagten, wir sollten verschwinden. Hinterher wurde mir klar, dass das wahrscheinlich schon Polizei oder Militär war. Ich erwischte ein Uber, das schon besetzt war. Der Fahrer und der Passagier retteten mein Leben ... Ich fuhr zum Hôpital Sainte-Anne. Ich war dort bis drei Uhr morgens. Mein Fall wurde nicht als ernst betrachtet. Ich wurde am nächsten Morgen um neun Uhr operiert. Davor kam ein Polizist. Er moserte, dass ich nicht das Armband trug, das mich als Opfer auswies. Er war ziemlich aggressiv. Die Pflegerinnen mussten ihn wegschicken. Ich blieb zwölf Tage im Krankenhaus. Nach der zweiten Operation wurde mir gesagt, dass ich zwei Kugeln im Körper hatte. Eine war in meiner Wade explodiert, die andere in meinem Becken. Ich musste entscheiden, ob ich sie drin lassen wollte oder entfernen lassen. Ich ließ sie drin. Vier Tage später hatte ich Geburtstag. Ich fühlte mich schuldig, dass ich noch am Leben war. Ich fuhr zu meiner Mutter in die Provence. Als ich nach Paris zurückkehrte, hatte ich Angst, getötet zu werden. Ich rief die psychiatrische Hotline an. Sie legten auf, weil ich zu sehr weinte. Sie sagten, ich solle mich wieder melden, wenn ich mich beruhigt hätte. Ich ging zu einem Therapeuten, der schlief ein, während ich sprach. Als er wieder aufwachte, fragt er mich nach meinen Großeltern. Das war der Beginn von drei Jahren psychologischem Chaos. Ein Psychiater empfahl mir Chaplin-Filme. Ein anderer begann jede Sitzung mit Ausführungen über das französische Gesundheitssystem. Die nächste brach zusammen, als ich erklärte, warum ich da sei. Ich musste sie trösten."

Merkur (Deutschland), 01.06.2022

Der Historiker Jan Plamper trägt Episoden aus seinem Leben als international aufstrebender Forscher zusammen, der er in Petersburg, London oder Berlin mit Putins immer düsterer werdendem  Machtsystem in Berührung kam: "2010. American Academy am Berliner Wannsee, Abendessen zu Ehren einer US-Kollegin. Eine gut vernetzte Mitarbeiterin der Academy erzählt, dass sie im selben Tennisclub wie der russische Botschafter spielt. Bei der Verteilung der Rollen im Doppelspiel kam es neulich zu folgender Szene: Der Botschafter sagte seiner Frau, sie habe freie Wahl, da sie ja den höheren KGB-Rang besitze. Hahaha. Als ein ebenfalls anwesender deutscher Kollege das hört, schaudert es ihn. Er bleibt bei der nächsten Einladung zum Neujahrsball der russischen Botschaft, der immer opulenter und Fixpunkt im Leben der Berliner High Society geworden ist, daheim. 2010. Die Stories über einen Mit-Zivi in Russland Anfang der 1990er werden immer wilder. Damals kiffender Skater oder skatender Kiffer, Zyniker, hat er mehr schlecht als recht Jura studiert - allein die Fachwahl ein Treppenwitz in den Augen aller, die ihn in den Neunzigern kannten. Dann als Anwalt bei Gazprom und anderen kremlnahen Unternehmen angeheuert. Gerade soll er in Toulouse gewesen sein, um für Präsident Medwedew bei Airbus eine Spezialmaschine abzunehmen: mit vergoldeten Wasserhähnen auf dem Klo."

Aleida Assmann liest beeindruckt Christiane Hoffmanns Buchs "Alles, was wir nicht erinnern", für das die Journalistin und mittlerweile Regierungssprecherin den Weg ihres Vaters zurückverfolgte, der einst als Kind aus Schlesien fliehen musste: "Anders als das Vergessen könnte dieses Buch mit seiner Erinnerungsarbeit und seinem nachträglichen Durcharbeiten dazu beitragen, den Fluch der Flucht zu bannen und kommende Generationen von dieser Geschichte zu befreien. Aus diesem dialogischen Erinnern könnte ein neuer Heimat- und Verlust-Diskurs entstehen, der unterschiedliche Geschichten anerkennt und dabei immer auch das Gemeinsame im Blick behält: die Verletzlichkeit aller Menschen und den Wunsch nach Sicherheit als universales Grundbedürfnis." Nur im Print findet sich eine deutsche Übersetzung von Kwame Anthony Appiahs Essay über Frantz Fanon aus der New York Review of Books.
Archiv: Merkur

Words without Borders (USA), 06.06.2022

In Words without borders denkt die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk über einen Begriff nach, der die heutige Komplexität der menschlichen Welt erfassen könnte. Sie beschreibt den paradoxen Zustand der Welt, die durch globale Vernetzungen und dauernd anwachsenden Wissensstand einerseits schrumpft und immer einheitlicher zu werden scheint. Andererseits paddeln die Menschen oft hilflos in der schier unendlichen Datenmenge des Internets. Diese gegenläufige Gleichzeitigkeit verändert das Bild vom Menschen, meint sie: "Es verändert sich durch die Klimakrise, die Epidemie und die Entdeckung der Grenzen wirtschaftlicher Entwicklung, aber auch durch unsere neuen Reflexionen im Spiegel: Das Bild des weißen Mannes, des Eroberers im Anzug oder mit Safarihelm, verblasst und verschwindet, an seiner Stelle sehen wir Gesichter, ähnlich wie sie Giuseppe Arcimboldo malte - organisch, hochkomplex, unverständlich und hybrid. Gesichter, die eine Synthese aus biologischen Zusammenhängen, Anleihen und Referenzen sind. Heute sind wir weniger ein Biont als vielmehr ein Holobiont, das heißt eine Gruppe verschiedener Organismen, die in Symbiose zusammenleben. Komplexität, Multiplizität, Vielfalt, gegenseitige Beeinflussung, Metasymbiose - das sind die neuen Perspektiven, aus denen wir die Welt betrachten. Vor unseren Augen verschwindet ebenso ein wichtiger Aspekt des alten Systems, der bisher grundlegend schien - die Aufteilung in zwei Geschlechter. Heute zeigt sich immer deutlicher, dass das menschliche Geschlecht eher einem Kontinuum mit einer Bandbreite an Merkmalen gleicht als dem alten polaren Antagonismus zwischen zwei Geschlechtern. Jeder kann hier seinen einzigartigen und eigenen Platz finden. Was für eine Erleichterung!" Um diesen Prozess, den sie ihn ihrem sehr langen Essay beschreibt, zu erfassen, schlägt sie das Wort "Ognosia" vor.

The Atlantic (USA), 08.06.2022

Nellie Bowles schildert die Stadt San Francisco als die Hölle der guten Vorsätze. Da wäre zum Beispiel der Staatsanwalt Chesa Boudin, der so liberal war, dass ihn sogar die liberalen Einwohner der Stadt absetzten - zu sehr war die Kriminalität in der Stadt gestiegen. Hinzukommen das Fentanyl, das die Zahl der Drogentoten in die Höhe schießen lässt, die Wohnungskrise, die auch von alternativen Gärtnern angetrieben wird, weil sie gegen jedes Bauprojekt Einspruch erheben, die Elternsprecher an den wegen Corona geschlossenen Schulen, denen es nicht reicht, wenn ihr Vorsitzender queer ist, er muss queer und of Color sein und das They/Them-Pronomen benutzen. Zuletzt gibt es Widerstand, der sich etwa in der Abwahl Boudins manifestierte. Und dennoch bleiben Szenen wie diese in Erinnerung: "Vor zwei Jahren sah eine Freundin von mir einen Mann, der blutend die Straße entlang taumelte. Sie erkannte ihn als jemanden, der regelmäßig in der Nachbarschaft draußen schlief, und wählte die Notrufnummer. Sanitäter und Polizisten trafen ein und begannen mit der Behandlung des Mannes, doch Mitglieder einer Obdachlosenorganisation wurden aufmerksam und schritten ein. Sie sagten dem Mann, dass er nicht in den Krankenwagen steigen müsse, dass er das Recht habe, die Behandlung zu verweigern. Das tat er dann auch. Die Sanitäter gingen, die Aktivisten gingen. Der Mann saß allein auf dem Bürgersteig und blutete immer noch. Ein paar Monate später starb er einen Block weiter. "
Archiv: The Atlantic