Magazinrundschau

Bettfedern aus dem Off

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
28.06.2022. Der New Yorker lernt auf einem Schrottplatz, wie man das Geräusch eines Kusses nachmacht. Die Deutschen sind in ihrer Ukrainepolitik so berechenbar wie ein Betrunkener, ätzt Tablet. The Nation vermisst die Zeit als schwules Begehren noch verboten war. Eurozine skizziert die strafbewehrte russische Erinnerungspolitik. Die New York Times wirft einen Blick auf das amerikanische Verlagswesen, das diverser werden soll.

New Yorker (USA), 04.07.2022

Im New Yorker macht uns Anna Wiener vertraut mit der Welt der Foley-Künstler (Geräuschemacher), das sind besondere Tonleute, die maßgeschneiderte Soundeffekte für Film, Fernsehen und Videospiele herstellen. "'Ich sage immer, es gibt Soundeffekte, wie Schritte, und dann gibt es Musik', sagte der Regisseur David Lynch, dessen Filme für ihr einfallsreiches, stimmungsvolles Sounddesign bekannt sind. 'Und dann gibt es Soundeffekte, die wie Musik sind. ... Sie beschwören ein Gefühl herauf.' Traditionell umfassen 'harte Effekte' Umgebungsgeräusche wie Verkehr oder Regen oder die mechanischeren, brennenden Geräusche von Explosionen und Schüssen; sie werden normalerweise aus Bibliotheken entnommen oder elektronisch erzeugt. Foley-Effekte sind speziell auf einen Film zugeschnitten und werden mit den Bewegungen der Figuren synchronisiert. Dazu gehören Geräusche, die entstehen, wenn jemand durch einen Raum geht, sich im Bett umdreht, einen Topf umrührt, tippt, kämpft, tanzt, isst, fällt oder küsst. Die Grenze zwischen diesen beiden Arten von Effekten ist fließend: Foley-Künstler nehmen das Geräusch einer Hand auf, die einen Türknauf dreht, aber nicht das Geräusch des Mechanismus, der sich darin dreht. Die Geräusche sind subtil, aber suggestiv, sie fangen Bettfedern aus dem Off ein oder das Schlurfen eines ungeschickten Eindringlings. In den letzten hundert Jahren hat die Technologie die Aufnahme, Bearbeitung und das Engineering von Geräuschen verändert, aber die Techniken der Geräuschkulisse sind hartnäckig analog geblieben. Hinter jedem noch so komplexen Foley-Effekt stehen ein oder zwei Menschen, die in einem schalldichten Raum ihre Körper verrenken. Die Foley-Künstler arbeiten seit jeher zu zweit. (Bestimmte Geräusche sind so komplex, dass sie die Arbeit von vier Händen erfordern.) Roden und Roesch sind zwei der Meister ihres Fachs. Der Regisseur David Fincher sagte mir, dass Foley 'eine sehr seltsame Berufung' ist und 'eine dunkle Kunst', die für das Filmemachen grundlegend ist. 'Man versucht, schöne Geräusche zu machen, die einmal ihren Zweck erfüllen und dann wieder verschwinden', sagte Fincher. 'Die Leute, die das wirklich, wirklich gut können, sind rar gesät.'"

Hier gibt John Roesch eine kleine Einführung in sein Metier:



Das Projekt der Aufklärung begann mit der Trockenlegung von Sümpfen: Bis zum 17. Jahrhundert starben die Menschen in Europa am Sumpffieber wie die Fliegen. Aber vielleicht kann man auch vom Guten zu viel tun. Das glaubt jedenfalls die Schriftstellerin Annie Proulx, die das Verschwinden der Sümpfe auch als ökologische Katastrophe betrachtet: "Viele Menschen haben nur eine vage Vorstellung davon, dass Feuchtgebiete die Erde säubern. Tatsächlich sind sie Kohlenstoffsenken, die CO2 absorbieren, und sie sind unübertroffen im Herausfiltern von menschlichen Abfällen, Material von verrotteten Kadavern, Chemikalien und anderen Schadstoffen. Sie füllen unterirdische Grundwasserspeicher auf und erhalten die regionalen Wasserressourcen, indem sie die Auswirkungen von Dürren und Überschwemmungen abfedern. Insgesamt stabilisieren die wässrigen Teile der Erde ihr Klima. ... In den achtziger Jahren war etwa die Hälfte der amerikanischen Feuchtgebiete ausgerottet worden. ... Die Naval Station Norfolk in der Region Hampton Roads zum Beispiel - ein natürlicher Reedekanal mit tiefem Wasser in der Chesapeake Bay, der von den Flüssen James, Nansemond und Elizabeth gespeist wird - schwillt jetzt in einem noch nie dagewesenen Ausmaß an. Der Umweltjournalist Jeff Goodell besuchte die Station und schrieb: 'Auf der Basis gibt es keinen Hochstand, keinen Rückzugsort. Es fühlt sich an wie ein Sumpf, der ausgebaggert und zugepflastert wurde - und genau das ist es auch.'"

Weiteres: Andrew Marantz geht der Frage nach, ob amerikanische Konservative wirklich ausgerechnet Viktor Orbán als Vorbild sehen. David Remnick porträtiert die Gospelsängerin Mavis Staples. Anthony Lane sah im Kino Baz Luhrmanns Elvis-Biopic. Louis Menand erzählt, wie Picasso sich in Amerika durchsetzte. Und Alex Ross berichtet vom Ojai-Musikfestival.
Archiv: New Yorker

Tablet (USA), 27.06.2022

"Deutschland bemüht sich sehr, langweilig zu sein, aber es kann nicht verhindern, dass es in der ganzen Welt ein ungewöhnliches Maß an Verärgerung hervorruft", schreibt ein vom Hin und Her der Bundesregierung im Ukraine-Krieg entnervter Jeremy Stern. "Siehe zum Beispiel das Auftreten von Bundeskanzler Olaf Scholz in den letzten zwei Wochen, in denen er sich für den Kandidatenstatus der Ukraine als künftiges Mitglied der Europäischen Union stark machte, dann seinen außenpolitischen Berater entsandte, um klarzustellen, dass die Ukraine nicht mit einer EU-Mitgliedschaft rechnen sollte, 'nur weil sie angegriffen wird', und dann eine offensichtlich unrealistische Forderung nach einem größeren deutschen Stimmgewicht im Europäischen Rat und einer stärkeren Vertretung im Europäischen Parlament als Bedingung für die ukrainische Mitgliedschaft stellte. Mit anderen Worten: Deutschland unterstützt den ukrainischen EU-Beitritt, und der Grund dafür, dass er wahrscheinlich nicht zustande kommt, ist, dass Deutschland ihn blockieren wird - ein mittlerweile bekanntes Manöver, bei dem sich viele der Staaten, die zwischen Deutschland und Russland festsitzen, ungläubig die Augen reiben. Der Versuch, Berlins Entscheidungen und ihre Beziehung zu einer grundlegenden Politik zu verstehen, ist für viele wie der Versuch, einen Betrunkenen zu verstehen, der ständig einschläft. Allein im letzten Monat hat Scholz den Verkauf von Schützenpanzern an die Ukraine blockiert, während er darauf bestand, dass 'Putin diesen Krieg nicht gewinnen darf', und sie nach Griechenland umgeleitet, so dass Athen stattdessen für die Lieferung älterer Fahrzeuge an Kiew verantwortlich sein könnte." Auf die Ukraine komme es dabei zu allerletzt an, glaubt Stern. Vielmehr gibt es "'unser Verhältnis zu Russland [in der] Zukunft' zu bedenken, wie Scholz' außenpolitischer Berater die Deutschen letzte Woche nach der Kiew-Reise des Kanzlers erinnerte. 'Das ist ein mindestens ebenso spannendes und relevantes Thema'. Die Amerikaner können sich fragen, was dies alles für den Status Deutschlands als Mitglied des westlichen Bündnisses bedeutet. Was sie nicht mehr können, ist überrascht sein."

Außerdem: Was ist eigentlich mit der pro-jüdischen Linken passiert, fragen sich Samuel J. Abrams und Jack Wertheimer.
Archiv: Tablet

Esprit (Frankreich), 27.06.2022

Wer in Russland schreibt, dass der Zweite Weltkrieg im Jahr 1939 angefangen hat, riskiert Gefängnis. Allenfalls einige Blogger wagen das noch, schreibt Nicolas Werth, ein Historiker des stalinistischen Terrors (Mitautor des berühmten "Schwarzbuchs des Kommunismus") in Esprit, auf Englisch in Eurozine nachzulesen. Inzwischen wird die historische "Wahrheit" nach schlimmster Orwell-Manier in Verfassungsartikeln festgeschrieben. Darüber hinaus erließ das Regime "eine ganze Reihe von Erinnerungsgesetzen. Das bekannteste ist Artikel 354.1 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation, der die 'Leugnung oder Rehabilitierung des Nationalsozialismus' unter Strafe stellt. Auf den ersten Blick ähneln seine Klauseln den in anderen demokratischen Ländern verabschiedeten Gedenkgesetzen, doch in Wirklichkeit ist sein Anwendungsbereich viel weiter gefasst, da er auch die 'Verbreitung falscher Informationen über die Aktivitäten der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs', die 'Verbreitung respektloser Informationen über die militärischen Ruhmestaten Russlands' und die 'Verunglimpfung von Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges' unter Strafe stellt." Stalinistische Verbrechen werden nicht unbedingt geleugnet, so Werth, aber entpersonalisiert, etwa durch Gesetze, die Akten unzugänglich machen. Und die Organisation Memorial, deren monumentale Arbeit Werth in seinem Artikel würdigt, ist verboten.
Archiv: Esprit

The Nation (USA), 18.07.2022

Als Benjamin Moser aufwuchs, begriff er, dass er schwul war, er begriff auch, wie gefährlich, ja tödlich das sein konnte - Aids forderte bereits die ersten Opfer -, aber in gewisser Weise liebte er genau das, erzählt er. Wie aber konnte ein so aufregender Lebensstil plötzlich banal werden? "Ich liebte Schwulenpornos wegen der Handlung. Der Anreiz, die Spannung, die Ungezogenheit kamen von diesen verbotenen Blicken, von dem Moment, in dem ich mich fragte, wie das wohl ausgehen würde. Wenn man die Zeitschrift oder das Video in einem Laden wie Lobo kaufte, wusste man natürlich, wie es ausgehen würde. Aber man wusste auch, wie ein Jane-Austen-Roman ausgehen würde, und das machte das Buch nicht weniger spannend. Pornos waren nicht das wahre Leben. Es war eine Ästhetisierung - und wie alle erfolgreichen Ästhetisierungen realer als das wirkliche Leben. ... Der Liebesroman war wirksam, weil wir uns nach der perfekten Liebe sehnten. Und Schwulenpornos waren wirksam, weil jeder, der diese geheimen Veröffentlichungen kaufte, die Erfahrung verstand, nicht hinsehen zu dürfen, nicht hinzusehen, hinzusehen, und dann - schließlich, endlich - jemanden zu haben, der zurückschaut. Das war für Schwulenpornos das, was die Heiratsverschwörung für Jane Austen war. Als das Verbot des Hinsehens zu verschwinden begann, löste sich diese Handlung auf. Wie ihre heterosexuellen Gegenstücke wurden die schwulen Produktionen zu Feiern des schönen Körpers: Pornografie, aber, obwohl die Modelle alle Männer waren, nicht ganz das, was ich unter Schwulenpornografie verstand. ... Je älter ich wurde, desto eher ließ sich Homosexualität mit einer Karriere bei Morgan Stanley oder im Außenministerium vereinbaren. Es war eine Art Fortschritt, nehme ich an. Und das einzige Opfer, das es verlangte, war unsere besondere Art zu schauen: unsere Blicke."
Archiv: The Nation

London Review of Books (UK), 27.06.2022

Eigentlich ist Palmenöl, wie es ursprünglich in Westafrika gewonnen und verwendet wird, ein durchaus aromatisches Öl. Erst industrielle Prozesse machen es zu einer farb-, geruchs- und geschmacklosen Zutat, die inzwischen in der Hälfte aller Supermarktprodukte enthalten ist, vom Toilettenreiniger bis zur Nuss-Nougat-Creme. Bee Wilson liest zwei Bücher zur Geschichte des Palmöls, die sie beide empfehlen kann, wobei ihr Jonathan E. Robins' "Oil Palm: A Global History" grundlegender erscheint als Jocelyn C. Zuckermans engagiertes "Planet Palm: How Palm Oil Ended Up in Everything":  "Die brutale und ausbeuterische Art, mit der sich William Lever den Zugang zu Ölpalmen in Belgisch-Kongo sicherte, war kennzeichnend für die moderne Palmölindustrie. 1911 unterzeichnete er einen Vertrag über 1,8 Millionen Hektar Ölpalmenland. Es ist erstaunlich, dass der Konzern Unilever immer noch den Namen eines Mannes trägt, der in einem Brief an einen seiner Direktoren schrieb, dass 'es eine bekannte Tatsache ist, dass das Gehirn des Afrikaners nicht mehr in der Lage ist, neue Eindrücke zu verarbeiten, wenn er das Erwachsenenalter erreicht hat'. Er nannte die Palmöl-Siedlung Leverville und sagte, die Palmenhaine dort seien 'der prächtigste Anblick, den ich je in irgendeinem Teil der Welt gesehen habe'. Aber die Kongolesen, die dort arbeiteten, hatten kein prächtiges Leben. Wie andere ausländische Palmöl-Magnaten verwandelte Lever die wilden Palmenhaine Afrikas in sterile Plantagen, die von einem neuen, von ihm gegründeten Unternehmen verwaltet wurden: Die Huileries Congo Belge (HCB). Als Sidney Edkins 1911 dorthin kam, um dort zu arbeiten, stellte er fest, dass in der Region 'kaum ein Dorf zu sehen war', weil die Zwangsarbeit 'die bestehende Bevölkerung in einem Radius von fünfzig Meilen beiderseits der Piste praktisch ausgerottet hatte'. ... Robins schreibt: 'Europas ökonomische Besessenheit bedeutete, die Erträge eines jeden Hektars so hoch wie möglich zu treiben; die Afrikaner dagegen passten sich dem Land an, um den Ertrag ihrer Arbeit zu maximieren'."

Thomas Meaney nimmt Lea Ypis weithin gefeiertes Buch "Frei" kritisch unter die Lupe. Schwer zu sagen ist, was ihm weniger behagt, die Biografie einer Tochter aus der Upperclass, deren familie unter Königen, Faschisten, Stalinisten und Neoliberalen gleichermaßen reüssierte, oder die universal-sozialdemokratische Theorie, die Ypi daraus formt. Ihr Buch beginnt mit dem Knallersatz "Ich habe mich nie gefragt, was Freiheit bedeutet, nicht bis zu dem Tag, als ich Stalin umarmte". Wie Meaney weiß, wurde er ihr Albanien besonders übel genommen: "Es gab in den neunziger Jahren keine Stalin-Statue in Durrës, nur eine kleine Büste und der wurde nie der Kopf abgeschlagen. Ypi reagierte, indem sie sich über die albanischen Fact-Checker lustig machte, die einer ermüdenden 'Korrespondenztheorie der Wahrheit' anhingen und stattdessen Walter Benjamins Essay 'Ausgraben und Erinnern' lesen sollten."

New York Magazine (USA), 20.06.2022

In einer Reportage über "Teenager Gerechtigkeit" erzählt Elizabeth Weil anhand mehrerer Beispiele, wie eine gute Sache - sexuellen Missbrauch ernst zu nehmen - im hysterischen Klima einer Highschool völlig außer Kontrolle gerät: Schüler werden gecancelt, Schandlisten veröffentlicht, ohne Sachverhalte nachzuprüfen, Demos abgehalten und die Schulleitung angegriffen: "In der öffentlichen Vorstellung entwickelten sich die Verbrechen der Jungs schnell und steil. Aus 'Du bist ein Mistkerl' wurde 'Du bist ein Angreifer', was sich bald in 'Du bist ein Vergewaltiger' verwandelte. In Wahrheit, so [die Schülerin] Jenni, war es den meisten Menschen egal, was die Angeprangerten getan hatten. 'Jemand sagt: Oh mein Gott, ich habe gehört, dass er ein schlechter Mensch ist - sprich nicht mit ihm. Und dann haben die Leute Angst, auf der falschen Seite zu stehen. Also tun sie es einfach. Sie denken nicht darüber nach. Sie sagen einfach: Oh, ich kenne ihn nicht, also werde ich wohl nicht mit ihm reden.'" Der Gruppendruck ist enorm, und vergeben wird nicht. Eine dumme Handlung (betrunken auf einer Party ein Nacktfoto seiner Freundin zu zeigen) oder dumme Bemerkung (über die 'Affenohren' eines schwarzen Jungen zu spotten) reicht aus, jemand für den Rest der Highschool zu ächten, wie ein Mädchen erzählt. "Trotz aller öffentlichen und privaten Entschuldigungen, die sie abgegeben hatte, trotz all der Monate der Therapie und des Lesens war sie immer noch 'dieses rassistische Kind' und würde es wahrscheinlich auch bleiben, bis sie in zwei Jahren ihren Abschluss machte. 'Es gibt keinen Raum für Wachstum', sagte sie und aß die Quesadilla, die sie zum Mittagessen mitgebracht hatte. 'Wenn man etwas falsch macht, ist man ein schlechter Mensch.' Es gab keine Gemeinschaft, die, während sie einen zur Rechenschaft zog, Raum zum lernen gab; keine Annahme, dass man sich ändern kann - und wird. Wer könnte eine solche Adoleszenz überleben?"

In einem zweiten Artikel erklärt uns Brock Colyar, als non-binäre Person nicht mit dem falschen geschlechtsspezifischen Pronom angesprochen werden zu wollen. Leute sollen aber auch nicht fragen und überhaupt nerve es, dass jetzt alle so politisch korrekt sind, dass Non-Binäre plötzlich Teil einer Massenbewegung geworden sei.

The Atlantic (USA), 01.08.2022

Nachdem Roe vs. Vade in den USA gekippt wurde, fordern einige Abtreibungsgegner eine stärkere Unterstützung der Schwangeren auf staatlicher Ebene. Elaine Godfrey traf einige von ihnen: eine junge Frau, die sich dank der finanziellen Unterstützung einer Non Profit Organisation entschied, ihre Schwangerschaft doch auszutragen, ist überzeugt, dass es sinnlos gewesen wäre, das Urteil zu kippen, wenn nun nicht die nötigen staatlichen Unterstützungen und Programme für Schwangere folgen. Charlie Camosy, ein Pro-Life Kolumnist für den Religion News Service setzt sich konkret für verlängerte Elternzeit, höheren Mindestlohn und erweiterte medizinische Versorgung ein: "Die Anhänger von Camosy hoffen, dass das Ende von Roe den amerikanischen Abtreibungsgegnern hilft, sich aus ihrer parteipolitischen Schublade zu befreien und für eine familienfreundliche Gesetzgebung einzusetzen. Dies nicht zu tun, wäre heuchlerisch, argumentieren sie. Einige Republikaner der Anti-Abtreibungsbewegung könnten bereit sein, der Forderung nach Staatsausgaben nachzugeben, vor allem, seit Donald Trump die Republikaner in eine viel populistischere Richtung gedrängt hat; die Aufhebung von Roe könnte diese Diskussion aufheizen. 'Pro Life Republikaner haben nun die Möglichkeit, offener die Sozialprogramme zu unterstützen', sagt Camosy. Wenn das alles ein wenig zu rosig klingt, dann, weil es das wahrscheinlich auch ist. 'Die Regierung, die am besten regiert, regiert am wenigsten', lautet das GOP-Sprichwort. Die Orte in Amerika mit den strengsten Abtreibungsgesetzen sind auch die, an denen das Misstrauen gegenüber staatlichen Eingriffen groß ist. Weitere Millionen in staatliche Dienstleistungen zu investieren, wäre dort ein politischer Reinfall."
Archiv: The Atlantic

Bloomberg Businessweek (USA), 24.06.2022

Der Aktienkurs von Spotify ist seit letztem Jahr von über 300 Dollar auf 100 Dollar gefallen, schreibt Lucas Shaw. Seit Jahren hofft das Streaming-Unternehmen, Geld mit Podcasts zu machen. Dem Corona-Skeptiker Joe Rogan, der auf Spotify enorm populär ist, bezahlte das Unternehmen kurzerhand hundert Millionen Dollar. Aber Rogan brachte nur Ärger: "Spotify ist ins Podcasting eingestiegen, um sich aus dem unrentablen und wettbewerbsintensiven Geschäft des Musik-Streamings zu befreien. Die Verträge mit Plattenlabels verpflichten das Unternehmen, mehr als 70 Prozent jedes eingehenden Dollars abzuführen. Aus diesem Grund hat die Wall Street das Geschäftsmodell lange Zeit in Frage gestellt. Podcasting bietet Spotify exklusives Material, das andere Tech-Giganten dazu zwingt, den Dienst anzubieten - und schafft eine Einnahmequelle, an die die Musiklabels nicht herankommen. Dennoch: Trotz all der Investitionen entfielen nur 7 Prozent der gesamten Hörstunden im ersten Quartal 2022 und 2 Prozent des Umsatzes im letzten Jahr auf Podcasting, gab das Unternehmen im Juni bekannt." Shaw schreibt Spotify dennoch nicht ab. So massiv sind die Investitionen des Unternehmens, dass es mit der der Schwachsinnifizierung seiner Inhalte schon irgendwann Erfolg haben wird.
Stichwörter: Spotify, Streaming, Corona

Radio Free Europe (USA), 22.06.2022

Im Spätsommer 1998 wurde dem Petersburger Journalisten Anatoly Levin-Utkin mit einer Metallstange der Schädel eingeschlagen. Die Mörder brachten seinen Laptop an sich. Levin-Utkin  war vielleicht der erste Journalist überhaupt, der einen investigativen Artikel über einen gewissen Wladimir Putin schrieb. Andrei Soshnikov and Carl Schreck schildern die Umstände. Kurz vor dem Mord war Putin von Boris Jelzin trotz seines geringen Dienstgrades zum Chef des Geheimdienstes FSB ernannt wordebn. Es "war es eine Art Heimkehr. 'Ich begann als Junior-Agent ... in der St. Petersburger KGB-Direktion. Das war vor 23 Jahren oder so. Ich wiederhole: Diese Mauern sind mein Zuhause', sagte Putin auf einer Pressekonferenz nach seiner Ernennung. Als Leiter des St. Petersburger Komitees für Außenbeziehungen unter Bürgermeister Anatoli Sobtschak war Putin ein einflussreicher lokaler Beamter, dessen Beteiligung an lukrativen und undurchsichtigen Geschäften die Aufmerksamkeit lokaler Gesetzgeber auf sich zog, die zu einem bestimmten Zeitpunkt auch seinen Rücktritt forderten." Natürlich lässt sich keine Beteiligung Putins an Levin-Utkins Tod nachweisen. Aber nützlich ist die Serie von Radio Free Europe über Putins frühe Jahre schon.

New York Times (USA), 22.06.2022

Viele der hippsten Positionen im amerikanischen Verlagswesen werden jetzt mit schwarzen Frauen besetzt. Jüngstes Beispiel ist Lisa Lucas, die neue Chefin von Pantheon. Das hat auch ganz nüchterne Gründe, schreibt Marcela Valdes: "Eine Umfrage nach der anderen zeigt, dass die beiden Gruppen von Amerikanern, die am ehesten Bücher lesen, jene sind, die einen Bachelor-Abschluss haben, und jene, die mehr als 75.000 Dollar im Jahr verdienen. Für die Verleger sollte diese Nachricht Champagnerkorken knallen lassen. Immerhin hat sich der Anteil der Amerikaner über 25, die einen Bachelor-Abschluss haben, seit 1970 mehr als verdoppelt. Demografisch gesehen sehen diese Absolventen jedoch anders aus als in den 1970er Jahren - sie sind häufiger Frauen und gehören zu den Schwarzen, Asiaten oder Latinos - aber da die Verlage keine Zielgruppe unter ihnen aufbauten, haben sie sie möglicherweise Millionen von Kunden verloren." Valdes gibt in ihrem ellenlangen Artikel (eine Stunde Lesezeit) auch einen sehr guten Überblick über die Geschichte des schwarzen Verlagswesens in den USA.
Archiv: New York Times
Stichwörter: 1970er