Magazinrundschau

Danach kommt Minsk

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
27.09.2022. Weniger Verfassungsrecht, mehr Politik fordert Harper's. The Intercept geißelt die Korruption der afghanischen Eliten. The Atlantic fühlt sich trotz der allgegenwärtigen Waffen in ukrainischen Städten entspannter als in amerikanischen. Guernica betrachtet den Basar auf den Wandteppichen der afghanisch-kanadischen Künstlerin Hangama Amiri. In La vie des idees gibt der in Südkorea lebende Politologe Christophe Gaudin eine faszinierende Lektion in kultureller Differenz. Quietus feiert die CD. Wo sind die Feministinnen Tschechiens, ruft H7O.

Harper's Magazine (USA), 01.10.2022

Verfassungsrecht soll den Staat in Schach halten. Das kann zum Problem werden, wenn am Ende die Verfassungsrichter Politik machen und nicht mehr das gewählte Parlament. Auch Amerika braucht keinen liberaleren Obersten Gerichtshof, sondern schlicht weniger Verfassungsrechtsprechung, empfiehlt Ian MacDougall. Er plädiert für eine Reform, die die Politik wieder mehr ins Recht setzt und es Gerichten zumindest schwerer macht nationale Gesetze einfach aufzuheben: "Dies ist kein risikoloses Unterfangen. Manche mögen das Gespenst des 'Liberalismus der Angst' der politischen Philosophin Judith Shklar heraufbeschwören: die richterliche Oberhoheit als Kontrolle gegen die schlechten Dinge, die ein ungezügelter Staat tun kann. Aber die Gerichte werden einen fähigen Autokraten nicht aufhalten. In Ländern, die in jüngster Zeit in den Autoritarismus abgerutscht sind, haben die Gerichte entweder gelernt, den Tyrannen zu lieben, oder sie wurden von ihm unterdrückt. Wenn Verfassungsrecht ein effektives Regieren verhindert, schafft es zudem ideale Bedingungen für den Aufstieg populistischer Autokraten. Das größere Risiko besteht heute nicht darin, dass der Kongress gelegentlich Gesetze verabschiedet, die vielen von uns nicht gefallen. Es besteht darin, dass fünf wohlhabende Anwälte den Kongress daran hindern, auf die Bedürfnisse des Landes zu reagieren. Andere mögen sich fragen, wer, wenn nicht der Oberste Gerichtshof, die Rechte von Minderheiten gegen die Tyrannei der Mehrheit sichern wird. In Wahrheit erkennen die Gerichte nur relativ wenige Rechte an; die meisten der Rechte, die wir genießen, ergeben sich nicht aus der Verfassung, sondern aus Bundesgesetzen. Um nur einige wenige zu nennen: Wahlrecht, Arbeitsrecht, Behindertenrecht, Rechte gegen Diskriminierung bei der Arbeit, bei der Wohnungssuche und bei der Vermittlung von Sozialwohnungen. Wie der Rechtswissenschaftler Jamal Greene in 'How Rights Went Wrong' darlegt, hat der Kongress die institutionelle Fähigkeit, verschiedene Werte und Interessen abzuwägen und miteinander in Einklang zu bringen, und nicht nur zu entscheiden, welche Interessen alle anderen übertrumpfen sollen. Wenn es um gesetzlich verankerte Rechte geht, besteht die Hauptaufgabe der Gerichte seit den achtziger Jahren darin, diese zu untergraben, indem sie die Befugnisse des Kongresses beschneiden und manchmal sogar an sich reißen."

Intercept (USA), 25.09.2022

Elyas Nawandish, selbst jahrelang Reporter in Afghanistan, unterhält sich mit Asadullah Akbari, einem ehemaligen Colonel der Afghanischen Nationalarmee, der kurz nach dem Sieg der Taliban von den Amerikanern nach Florida ausgeflogen wurde. Akabari erzählt von seinen Erfahrungen und nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er die Schuld an der Niederlage zuweist: 'Ich war 18 Jahre alt, als ich zur Armee ging. Ich habe in Afghanistan nie glückliche Tage erlebt, nur Krieg, Blut, Kämpfe und Zusammenstöße. Und am Ende haben unsere Führer das Land verraten', sagte er mir. ... Akbari ist der Meinung, dass das Scheitern des Krieges nicht in erster Linie den Amerikanern zuzuschreiben ist, die sich in jedem Jahr seit 2001 hätten zurückziehen und die afghanische Regierung genauso schnell hätten zusammenbrechen lassen können. Vielmehr war er das Produkt einer korrupten afghanischen politischen Klasse, die noch immer nicht für ihr Versagen zur Rechenschaft gezogen wurde. Jüngste Berichte über ehemalige afghanische Beamte, die teure Luxusautos fahren und verschwenderisch in arabischen Golfstaaten, der Türkei und im Westen leben, überraschen ihn nicht. Sie sind nur die Krönung der Bemühungen gewöhnlicher Afghanen, die in einem tragischen zwei Jahrzehnte dauernden Versuch, ihr Land mit internationaler Unterstützung wieder aufzubauen, ihr Leben gelassen haben. Die Korruption und Misswirtschaft der afghanischen Eliten, die in vielen Fällen von ihren US-Partnern unterstützt wurden, haben das Land in eine neue Ära des Leidens unter den Taliban gestürzt. Akbari und ich träumen beide davon, eines Tages zurückzukehren. Im Moment können wir nur versuchen, aus dem zu lernen, was schief gelaufen ist."
Archiv: Intercept
Stichwörter: Aghanistan, Krönung, Florida

Lidove noviny (Tschechien), 19.09.2022

Das legendäre Theater Rote Fackel im russischen Nowosibirsk hat kurzfristig die Premiere von Karel Čapeks Stück "Die Weiße Krankheit" abgesagt, wie die Lidové noviny berichtet. Eigentlich sollte die Inszenierung diesen September starten. "Manchmal werden Themen in einer bestimmten Zeit plötzlich irrelevant", habe der Regisseur Gleb Tscherepanow die Absage begründet - was nur die enorme Relevanz dieses Theaterstücks beweist. Der tschechische Dramatiker Karel Čapek schrieb das Stück im Jahr 1936 und nahm damals visionär den Überfall der Nationalsozialisten auf die Tschechoslowakei vorweg: Während einer weltweit herrschenden Pandemie einer unbekannten, tödlichen Krankheit beschließt ein Diktator, sein Nachbarland anzugreifen. Doktor Galén, der ein Heilmittel entwickelt, will dieses jedoch nur den Armen zukommen zu lassen, allen anderen erst dann, wenn die Regierung vom Krieg ablässt. Die Theaterkompanie führt an, der Spielplan stamme noch aus dem Jahr 2020, und seither hätten sich "viele Umstände verändert". Der frühere Leiter des Hauses, der kremlkritische Regisseur Timofei Kuljabin hatte die Rote Fackel bereits dieses Jahr verlassen - "auf eigenen Wunsch", wie die Kompanie mitteilte.
Archiv: Lidove noviny

The Atlantic (USA), 26.09.2022

Was kann Amerika vom Krieg in der Ukraine lernen, fragt sich George Packer und bricht nach einigen Grübeleien auf, um sich selbst ein Bild zu machen von diesem Land, das so geschlossen gegen den Aggressor steht: "Das gemeinsame Ziel verbindet die Menschen miteinander, was den Krieg erträglicher macht. Das zeigt sich in dem Ausdruck, den ich inzwischen mit ukrainischen Gesichtern verbinde: offen, direkt, ohne zu schmeicheln, ein wenig hart, fast vergnüglich - lebendig. Die Menschen laufen schnell. Bewaffnete Männer und Frauen in Uniform sind selbstverständlicher Teil der Bevölkerung, kaum von der Zivilbevölkerung zu unterscheiden. Es ist seltsam, ständig in ihrer Gegenwart zu sein, in Zügen, in Cafés, und keine Gefahr zu verspüren, außer der, die vom Himmel droht. In Amerika ist ein Soldat in Uniform unter Zivilisten eine Rarität, und ein junger Mann mit einer halbautomatischen Waffe ist kein willkommener Anblick. Ich brauchte ein paar Tage, um zu begreifen, warum sich eine ukrainische Stadt irgendwie weniger angespannt anfühlt als eine amerikanische: Es liegt daran, dass man weiß, dass kein Ukrainer auf einen schießen würde, und dass alle, die man trifft, auf der gleichen Seite stehen."

Anne Applebaum trifft in Warschau belarussische Exilanten, die sich als Freiwillige für das Kastus-Kalinouski-Regiment - belarussische Freiwillige, die für die Ukraine kämpfen -  gemeldet haben. Ihm sollen auch einige recht raue Burschen angehören, aber Applebaum ist nur dem Typus junger Akademiker begegnet: "Die Hoffnung wird durch Realismus gemildert - sie befinden sich an der vordersten Front eines der brutalsten Kriege des 21. Jahrhunderts -, aber durch Verzweiflung gestärkt, durch das Gefühl, dass andere, bessere Wege zum politischen Wandel nicht mehr offenstehen. K., ein Mann in den Zwanzigern - schlaffes blondes Haar, grünes T-Shirt, zerrissene Shorts - erzählt, er habe seine Karriere in einem Regierungsbüro in Minsk begonnen, aber schnell begriffen, was das bedeutet. 'Die ganze Arbeit, alles, was Sie tun, dient dazu, sicherzustellen, dass das Lukaschenko-Regime an der Macht bleibt', sagte er. Während der Massenproteste nach der gestohlenen Wahl 2020, die alle als 'Revolution' bezeichnen, verteilten K. und ein Freund Flugblätter mit regimekritischen Slogans. Der Freund sitzt jetzt im Gefängnis und verbüßt eine vierjährige Haftstrafe (K. nennt mir seinen Namen; ich finde ihn später auf einer Liste mit politischen Gefangenen). Nachdem Russland in die Ukraine einmarschiert war, wurde K. von Schuldgefühlen geplagt, er konnte nicht schlafen und bebte vor Zorn, denn das Scheitern der belarussischen Revolution bedeutete, dass russische Raketen von Belarus aus auf die Ukraine abgefeuert werden konnten. 'Ich erkannte, dass wir die Pflicht haben, nach Kiew zu gehen', sagt er. 'Danach kommt Minsk.'"
Archiv: The Atlantic

Guernica (USA), 26.09.2022

Hua Xi unterhält sich für Guernica mit der afghanisch-kanadischen Künstlerin Hangama Amiri über deren sehr schöne, collagenhafte Wandteppiche, die von ihren Erinnerungen an Afghanistan erzählen. Einen Eindruck bekommt man auf der Webseite der römischen Galerie t293, die Ausstellung dort "basiert darauf, dass ich in der Umgebung eines Basars aufgewachsen bin. Als ich in Afghanistan war - zwischen 1994 und 1996, bevor die Taliban kamen - lebten wir in einem sehr kleinen Viertel in Kabul, dem Macroyan Kohna. Es bestand aus diesen von den Russen errichteten Gebäudekomplexen, in denen Familien der Mittelschicht lebten, und diese Gemeinden hatten auch kleine Märkte und Basare. Als ich aufwuchs, gingen wir oft auf den Basar, und die Erinnerung an die Läden und die Stoffe war meine erste Inspiration. Einer meiner Onkel war Schneider, und ich besuchte sein Geschäft immer morgens vor der Schule. In seinem Laden konnte ich sehen, wie die Leute arbeiteten: die Scheren, all die schönen Baumwollstoffe, die er von Nachbarn oder Kunden erhielt. Diese Idee der Gemeinschaft, die durch den Basar, durch Nachbarschaft entsteht, hat mich beeinflusst."

Wie Amiri arbeitet, kann man noch besser in diesem Youtube-Video sehen:

Archiv: Guernica

La vie des idees (Frankreich), 16.09.2022

Der in Korea lehrende Politologe Christophe Gaudin gibt eine faszinierende Lektion in kultureller Differenz. Er schreibt zunächst über die letzten Wahlen in Südkorea und den neuen, rechtspopulistischen Premierminister Yoon Suk-yeol, der mit einer offen antifeministischen Rhetorik ins Amt kam. Die vorherige Mitte-Links-Regierung hatte eher eine Gleichstellungspolitik verfolgt. Das Interessante am Wahlergebnis ist aber, dass alle Alterstranchen wie erwartet gestimmt haben, die Alten eher rechts, die Jüngeren eher links. Nur im Segment zwischen 20 und 30 stimmten fast zwei Drittel der Männer für die Rechten, und zwei Drittel der Frauen links. Seltsam ist, dass dieses Ergebnis absolut nicht mit dem k-popkulturellen Ideal einhergeht, nach dem die Männer in Korea immer weiblicher werden. "Das ist bis in die Sprache hinein spürbar. Das Koreanische markiert grammatikalisch nicht das Geschlecht als solches, aber früher wurde davon ausgegangen, dass nur die formellere Ebene (Konjugation auf '-mida') mit ihrer steifen Würde für Männer geeignet sei, die im Leben stehen. Das höfliche Duzen mit seiner leichten und angenehmen Konnotation (Konjugation auf '-yo') war Frauen, Kindern und Jugendlichen sowie dem häuslichen Bereich im Allgemeinen vorbehalten. Heute ist es die Endung, die sich Männer bis um die vierzig und je nach Milieu manchmal darüber hinaus angeeignet haben, zusammen mit Körperpflege aller Art, Schönheitsoperationen, heute auch Make-up und so weiter. Der massive Einsatz von Kosmetika ist in westlichen Augen sicher überraschend, zumal er in erster Linie darauf abzielt, die Haut so weiß wie möglich zu halten, ein möglichst großer Kontrast zum Dreitagebart, wie er im Westen in Mode ist… In Korea gibt es kein größeres Kompliment für die Schönheit einer Frau als zu sagen, 'sie ähnelt einer Puppe'. Neu ist, dass Männer ihnen hier nacheifern."
Stichwörter: Korea, Südkorea, K-Pop

Quietus (UK), 26.09.2022

Seit 40 Jahren gibt es die CD - und dem anhaltenden Vinyl-Boom zum Trotz ist sie auch weiterhin mit deutlichem Abstand das am meisten verkaufte Musikträger-Medium, hält Daryl Worthington in einer großen Würdigung fest. Dennoch gilt die CD kaum als Fetisch- oder wenigstens kultisches Objekt, was sich auch daran zeigt, dass ästhetische Experimente mit der Medienmaterialität der CD über vereinzelte Versuche (wie etwa ein Album, das so konzipiert war, dass man es durch die Random-Funktion immer wieder neu zusammensetzen konnte) nie hinauskamen - anders als beim Vinyl-Knistern oder Tape-Rauschen, mit sich Klangkünstler immer wieder beschäftigt haben. "Zum Teil dürfte sich dies mit der relativen Allgegenwärtigkeit der CD erklären lassen. Sie ist als physisches Medium so vertraut, dass sie keine Distanz aufweist, um exotisiert oder fetischisiert zu werden. Eine weitere Erklärung hat weniger mit dieser Distanz, sondern mit dem Objekt selbst zu tun. In seinem Journalartikel 'In Memoriam: The CD and its Ends' vertrat Will Straw 2009 die Ansicht, dass die CD in ihrer Rauschreduktion ein Opfer ihres eigenen Erfolgs gewesen ist. 'Wenn die Materialität der Technologie, um Musik abzuspielen, die Bedeutung der Musik in keiner wiedererkennbaren Weise mehr formt, dann wird aus dieser Technologie wenig mehr als bloß der zeitweilige Träger für Musik.' ... Ein interessantes Paradox umgibt die CD. Während sie das ideale Format dafür ist, die Hörerfahrung individuell anzupassen, den Fluss eines Albums zu unterbrechen oder Musik in endloser Schleife wiederzugeben, ist sie auch das Format par excellance für das Album als in sich schlüssige, in sich ruhende Form, die an einem Stück durchzuhören ist. The Necks ist das perfekte Beispiel für eine Band, deren Musik für CDs geradezu maßgeschneidert ist. Ganz ähnlich verdeutliche auch Thomas Ankersmits atemberaubende elektro-akustische Welt aus dem Jahr 2021, 'Perceptual Geography', dass die CD für sie das ideale physische Trägerformat ist. ... Sie mögen keine der spezifischen Unzulänglichkeiten haben, die Tape oder Vinyl für viele so attraktiv machen, und doch sind CDs ein einzigartiges Format, das mit einer ganzen Bandbreite von Möglichkeiten kommt. Sie sind mehr als bloß ein kurioser Zwischenschritt im digitalen Wandel und haben, im Guten wie im Schlechten, eine ganz bestimmte Weise eröffnet, wie sich mit Sound umgehen lässt - ob nun verspielt oder funktional."
Archiv: Quietus
Stichwörter: Cd, Musikmedien, Vinyl

Quillette (USA), 25.09.2022

Aaron Sarin erzählt von den Fortschritten der Überwachungstechnologie in China, die nun direkt auf die Köpfe der Menschen zielt - hier sind noch nicht so viele Erfolge zu verzeichnen, so Sarin, aber es ist schlimm genug, was so passiert: Kindern werden Chips in die Schuluniformen genäht, damit sie lückenlos verfolgt werden können. Die restliche Welt sollte sie vorsehen, denn China möchte auch das Ausland entsprechend kontrollieren: "Xis techno-totalitärer Zugriff reicht weit über Chinas 'sichere Städte' und die Grenzen des Landes hinaus. Die sogenannte digitale Seidenstraße erstreckt sich über die gesamte Landkarte in alle Richtungen. KI-gestützte Kameras werden an Malaysia im Süden und die Mongolei im Norden verkauft. Sie werden über den Indischen Ozean nach Sri Lanka verschifft. Weiter westlich erreichen sie die afrikanischen Küsten: Ägypten, Kenia, Mauritius, Uganda, Sambia, Simbabwe. Auf der anderen Seite der Welt kommen sie mit Hilfe chinesischer Kredite nach Ecuador und Bolivien. Sichere Städte kommen sogar nach Europa, wo Serbien eine Kombination aus KI-Kameras und gemeinsamen Patrouillen der serbischen und chinesischen Polizei eingeführt hat, um den chinesischen Touristen das Gefühl zu geben, dass sie immer noch in China sind und dass sie niemals aus den Augen gelassen werden."
Archiv: Quillette

Bloomberg Businessweek (USA), 23.09.2022

Liest man die jüngsten Artikel über chinesische Lockdowns und überhaupt über Überwachung in China, kommt man zu dem Schluss, dass China selbst unter Quarantäne gestellt werden sollte. John Liu schildert, wie in Ruili, einer Grenzstadt zu Myanmar mit 250.000 Einwohnern, wo ein lebhafter legaler und illegaler Grenzverkehr herrschte, alles komplett abgeriegelt wurde, um den Preis einer funktionierenden Wirtschaft. Als dann innerhalb von sechs Monaten doch ein Mensch an Corona erkrankte, wurde der Bürgermeister gefeuert. "Gong Yuzuns Nachfolger, Zhai Yulong, hat die Ausgaben für die Virusbekämpfung versechsfacht, so dass sie sich für das gesamte Jahr 2021 auf 2,12 Milliarden Yuan (303 Millionen Dollar) belaufen. In den 12 Monaten bis April 2022 verhängte die Stadt sechs weitere Lockdowns, von denen mindestens vier mit Fällen unter burmesischen Staatsangehörigen zusammenhängen. Geschäfte wie Elektronikläden und Autowerkstätten sowie Schulen blieben ein Jahr lang geschlossen, während alle Lieferungen aus Myanmar gestoppt wurden und der Bau der Grenzmauer angeordnet wurde. Innerhalb von Ruili hat die Stadt ein System eingerichtet, das die Bewegungen aller Einwohner und Besucher verfolgt, zum Teil durch den Einsatz von Kameras zur Gesichtserkennung an den Eingängen von Orten, an denen sich Menschenmengen versammeln könnten. Dieses System ist weiterhin im Einsatz." Die strikte No-Covid-Strategie hat übrigens eine unheimliche Kehrseite: Die Menschen sind viel zu wenig geimpft. "Forscher der Fudan-Universität in Shanghai schätzten, dass die Omikron-Variante, wenn sie sich in China ohne Massentests und Abriegelungen ausbreiten würde, bei nahezu fehlender natürlicher Immunität in der Bevölkerung bis zu 1,6 Millionen Todesfälle zur Folge haben könnte."

H7O (Tschechien), 24.09.2022

Die tschechische Journalistin Barbora Votavová wünscht sich in ihrem Land mehr Bekenntnisse zum Feminismus in Literatur und Gesellschaft. Autorinnen, die über weibliche (Problem-)Themen schrieben, stellten das meist als individuellen Fall, aber nicht als gesellschaftlich relevant dar. "Angesichts der Tatsache, wie widerstrebend sich Schriftstellerinnen oder andere Personen des öffentlichen Lebens zum Feminismus bekennen oder eher nicht bekennen, lässt sich die Haltung von Autorinnen, die über weibliche Traumata schreiben, eher als leichte Form des Stockholmsyndroms verstehen", meint Votavová und verweist auf eine österreichische Studie, nach der das Bekenntnis zum Feminismus im ehemaligen Ostblock Ähnlichkeiten aufweise mit dem Coming-out von LGBTQ-Menschen - offen feministische Texte würden demnach nicht nur persönlichen Mut und ein verständnisvolles Umfeld erfordern, sondern vor allem eine Gesellschaft, in der es ungefährlich sei, sich zum Feminismus zu bekennen. Votavová (die sich nebenbei darüber ärgert, dass in einer tschechischen Nachrichtensendung über die aktuellen Proteste im Iran ein männlicher Experte die Moderatorin darüber belehrte, es gehe bei diesen Protesten "nicht nur um Frauenrechte" - so als zählten Frauenrechte nur unter ferner liefen) zitiert eine Reihe misogyner Äußerungen anerkannter tschechischer Literaturkritiker, die man ihrer Meinung nach nicht unwidersprochen lassen sollte. "Wenn Schriftstellerinnen ihre laue Haltung zum Feminismus begründen, sagen sie oft, sie wüssten nicht, was sie sich genau darunter vorstellen sollten, es gebe ja viele Arten von Feminismus (…). Damit haben sie im Grunde recht, als Feministinnen bezeichnen sich Liberale, Sozialistinnen, Materialistinnen, Essenzialistinnen, Esoterikerinnen, und all diese Spektren begreifen den Feminismus leicht verschieden. Doch andere Schriftstellerinnen hindert das nicht daran, sich dazu zu bekennen - auch die Zögerlichen hätten ja die Möglichkeit, genauer zu erklären, was sie darunter verstehen, wenn man sie nach ihrer Haltung zu Frauenrechten befragt. Die Pluralität des Feminismus spiegelt in gewisser Weise die Pluralität weiblicher Erfahrungen wider, und darin liegt ein weiteres Argument, warum es nötig ist, gegen die Geringschätzung weiblichen Schreibens und einer feministischen Literaturkritik aufzubegehren." Votavová stellt immerhin fest, dass man in der Slowakei anders als in Tschechien problemlos Schriftstellerinnen finde, die sich zum gesellschaftlichen Aspekt ihres Werks bekennen, und fragt sich, woran das liegt. "Slowakische Belletristik, die von Frauen geschrieben wird, erscheint von Tschechien aus gesehen engagierter, expliziter feministisch oder radikaler. Vielleicht ist sie von einem größeren Bedürfnis motiviert, sich von der konservativeren Gesellschaft abzugrenzen, vielleicht ist es auch ein reiner Zufall."
Archiv: H7O

New Yorker (USA), 03.10.2022

So kann Shakespeare klingen, staunt Alex Ross nach der Uraufführung von John Adams Oper "Antony and Cleopatra" in San Francisco. Das Libretto ist kein moderner Text, sondern "überwiegend Shakespeare pur, mit einigen Einschüben aus Plutarch und Vergil", so Ross. "Adams schreibt seit den achtziger Jahren Opern und hat längst ein außerordentliches Talent dafür entwickelt, aus der englischen Sprache Musik zu machen. Anstelle fester Singsang-Muster hat er eine formbare Gesangslinie perfektioniert, die den unregelmäßigen Rhythmen von Gedanken und Sprache folgt. Man denke nur an den Satz 'The Eastern hemisphere beckoned to us' in seiner Oper 'Nixon': Ein schnelles Triolenmuster auf 'hemisphere' lässt das Wort über dem Beat schweben und verzögert den nächsten Akzent. Je reicher die Sprache, desto stärker die Reaktion von Adams. ... Gleichzeitig verfügt er über eine melodische Handschrift, die unabhängig ist von seinen literarischen Quellen. Der Schlüsselmoment in 'Harmonielehre', dem Stück, mit dem ihm 1985 der Durchbruch gelang, ist ein ausuferndes, auf- und abschwellendes Thema für Streicher und Hörner in der Mitte des ersten Satzes, mehr oder weniger in der Tonart es-Moll. Es ist eine sehr theatralische, gestische Musik, ein Monolog ohne Worte. In 'Antony and Cleopatra' tauchen im Orchester ähnlich umherschweifende Adams'sche Linien auf, die sich nun an der Vertonung eines ehrwürdigen Textes orientieren. Die Kollision mit Shakespeare scheint unvermeidlich gewesen zu sein."

Athiopiens Staatschef Abiy Ahmed fährt tagelang mit Jon Lee Andersen durchs Land, zeigt und erklärt seine ambitionierten Entwicklungsprojekte. Nur über eins will er nicht reden: den Krieg mit Tigray, bei dem seine Truppen, unterstützt von Eritreern und Amharen, ebenso wie die Tigray gut dokumentierte Verbrechen gegen die Menschlichkeit begingen. Andersons Reportage informiert ausführlich über die Hintergründe und gipfelt im deprimierenden Satz: "'Was hier passiert, ist ein Bürgerkrieg', sagte mir ein hochrangiger westlicher Beamter. 'Ich glaube, es gibt eine absolut zwingende Logik, nicht zu kämpfen, aber sie werden es trotzdem tun.'"
Archiv: New Yorker