Magazinrundschau

Der bürgerliche Charakter in uns

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
08.11.2022. In HVG sucht der ungarische Autor Laszlo Darvasi die Realität hinter den Wahnbildern der Ungarn. In The Atlantic spießt Adam Hochschild das Vorbild Putins für den Überfall auf die Ukraine auf: den weißrussischen General Anton Denikin. Im Merkur erinnert den Historiker Benedikt Sepp die Pose der Kritik bei den Querdenkern stark an die der Achtundsechziger. Das Hufeisen existiert, meint mit Blick auf Frankreich auch Desk Russie. Der New Yorker lernt von dem Historiker Pekka Hämäläinen, dass die Ureinwohner Amerikas ihre eigene Geschichte der Eroberungen haben.

HVG (Ungarn), 08.11.2022

Vor kurzem erschien der neue Roman ("Az év légiutaskísérője - Der Flugbegleiter des Jahres") des Schriftstellers und Dichters László Darvasi, der mit Dániel Bittner über den Realitätsgehalt seiner Geschichten spricht. "Wir wurden systematisch zu einem Propagandaland, wo in bequemen Büros, in gebügelten Anzügen und eleganten Kostümen die Feindbilder ausgedacht und von Tag zu Tag mantrahaft wiederholt werden. Das Errichten und Unterhalten der Maschinerie ist unsere historische Schuld. Selbstverständlich möchten die Menschen mehr Farben und ein sonnigeres Leben und dieses auch zur Schau stellen. Als Schriftsteller kann ich jedoch das Drama nicht ignorieren. Das sehe ich jedoch nicht auf den Plakaten und auch nicht im türkischen Viertel in Wien. (...) Obwohl die Propaganda akzeptiert wird, arbeiten unglaublich starke Überlebensinstinkte in den Menschen, ohne die das Land nicht mehr existieren würde. Doch die Ungarn ertragen so einen Druck und diese frustrierende Heuchelei auf Dauer nicht. Dieses Land nimmt es bisher nicht zur Kenntnis, dass ihm schändlich wenig geboten, aber sehr viel von ihm verlangt wird. Aber irgendwann wird dieser zentralistische Alptraum zu Ende gehen. Vielleicht nicht mal durch Wahlen, ich weiß es nicht. Das Leben der Protagonist*innen meiner Romane wird von starker Widerspenstigkeit und Widerstand angetrieben, auch wenn darunter viele alte, dem Tod nahestehende Menschen oder Aussätzige sind. Ich schrieb dennoch keine politischen Romane, hoffe ich."
Archiv: HVG

The Atlantic (USA), 07.11.2022

"Ja, alle Kriege sind blutig", schreibt Adam Hochschild, aber der Krieg, den Wladimir Putin in der Ukraine führt, ist es besonders. Um das zu erklären, erzählt er vom Ersten Weltkrieg und einem Onkel, der als Jagdflieger der kaiserlich-russischen Armee damals im Westen der Ukraine stationiert war. Der erzählte ihm, "dass man einen deutschen Flieger, der über russischem Gebiet abgeschossen wurde, mit allen militärischen Ehren beerdigte und seine persönlichen Gegenstände und ein Foto von seinem Begräbnis mit dem Fallschirm auf dem deutschen Flugplatz abwarf." Damals sei es um ein Gebiet gegangen. Heute gehe es Russland in der Ukraine um die Demütigung und Entmenschlichung eines ganzen Volkes. Mit dem "russischen Geschichtsbuch" des britischen Historikers Orlando Figes schildert Hochschild, inwieweit Putins Invasion in der Tradition der Zaren steht und dass der Mord an den Völkern Sibiriens vor 500 Jahren und der Bürgerkrieg zwischen den Roten und den Weißen (zu denen sein Onkel gehörte), Putins politischen Traum erklärt: die "Macht des zaristischen Russlands und der Sowjetunion wiederherstellen." Hochschild erinnert angesichts des grausamen Vorgehens der russischen Armee in der Ukraine daran, dass Putin 2005 die sterblichen Überreste von General Anton Denikin aus den USA zurückholte. Der Befehlshaber der Weißen Armeen in Südrussland und der Ukraine war im Exil gestorben. "Russland - eins und unteilbar" sei dessen Parole gewesen, hält Hochschild fest. Am neuen Grab in Moskau habe Putin erklärt, der General sei der festen Überzeugung gewesen, "dass die Ukraine ein Teil Russlands ist. Dieser Traum steht nun im Widerspruch zu einer Ukraine, die, wenn auch schwankend und unvollkommen, drei Jahrzehnte Unabhängigkeit genossen hat. In diesem Aufeinanderprallen der Visionen werfen die ungelösten Spannungen in der Geschichte Russlands noch immer einen langen Schatten" - in der Ukraine mit toten Männern und Frauen, "die mit auf dem Rücken gefesselten Händen auf den Straßen von Butscha liegen".

Außerdem: Yascha Mounk skizziert nach der Präsidentschaftswahl in Brasilien - und damit kurz vor den Midterms in den USA - populistische Parallelen in den beiden Ländern. Und Judith Shulevitz würdigt Orhan Pamuks "Literatur der Paranoia".
Archiv: The Atlantic

Merkur (Deutschland), 01.11.2022

Die Besserwisserei der Querdenker, die sich mit ihrer permanenten Kritik an wissenschaftlicher Basis zu kritischen Geistern stilisieren, erinnert Historiker Benedikt Sepp in gewisser Weise an die Pose der Kritik, die auch schon bei den Achtundsechzigern zu einer permanenten  Radikalisierung geführt hatte: "Die prinzipielle Haltlosigkeit der antiautoritären Kritik - Haltlosigkeit im Sinne des Fehlens eines inhaltlichen Fixpunkts - und die zunehmende Abschottung von der Umwelt führten jedoch nicht nur zu einer inhaltlichen Radikalisierung, sondern tendenziell auch zu einem Verständnis von Politik, das sich stark mit dem Selbstverständnis der eigenen Person verwob: Wo geglückte Kompromisse mit der politischen Umwelt als Gefährdung der eigenen Radikalität gesehen werden konnten, bemaß sich der Erfolg von Aktionen, Demonstrationen und Diskussionen nicht mehr unbedingt an ihrer Wirkung auf möglichst viele Außenstehende, sondern am Verfestigen der fundamentaloppositionellen Haltung bei den schon Überzeugten. Auseinandersetzungen mit der Polizei etwa sollten auch dazu dienen, die 'autoritäre Struktur des bürgerlichen Charakters in uns tendenziell zu zerstören [und] Momente der Ich-Stärke, der Überzeugung zu schaffen', so Rudi Dutschke. Als eigentliche Grundlage radikaler Opposition wurden damit die eigene widerständige Existenz und Identität verstanden - und diese mussten damit immer wieder durch immer extremere oppositionelle Akte bestätigt werden."

Außerdem: Nils Güttler rümpft die Nase über Historiker wie Yuval Harari oder David Christian, die trotz eisener Nichtbeachtung durch Wissenschaft und gehobene Buchkritik ihre Big-History-Bücher in Weltbestseller verwandelten, meist über Ted-Talks.
Archiv: Merkur

Desk Russie (Frankreich), 28.10.2022

Viele Linke glauben der frommen Lüge, dass es kein Hufeisen gebe. Dabei ist an den beiden Enden gerade in Frankreich ein solches Gewimmel, dass sich die Positionen unmöglich trennen lassen. Vincent Laloy erzählt von zwei Beispielen. Von Ségolène Royal, einst der linken Präsidentschaftskandidatin, war auch in Deutschland schon die Rede. Sie ist eine der größten Verteidigerinnen Putins in Frankreich und wurde dafür auch schon von Eric Zemmour gelobt. Ein anderer Kandidat ist Florian Philippot, bei dem man eigentlich nicht weiß, ob er nun links oder rechts ist. Der in Frankreich so tief verinnerlichte Antiamerikanismus ist oft das Bindemittel. "Er engagierte sich zunächst beim Linkspopulisten Chevènement und lobte dessen Projekt, das seiner Meinung nach 2002 von Marine Le Pen dann weiter vorangetrieben wurde, was er zwölf Jahre später bestätigte: 'Der Chevènementismus führt zum Marinismus'. Dieser Befürworter des Austritts sowohl aus der Europäischen Union als auch aus der Nato zögert nicht, im November 2014 an einem Treffen von Mélenchon teilzunehmen sowie im Februar darauf die Partei der radikalen griechischen Linken zu unterstützen. Wer soll sich da noch über seine Verbindung zu Bertrand Dutheil de La Rochère wundern, der nacheinander Kommunist, Chevènementist und schließlich Front National war, wie im Übrigen viele Überläufer aus der stalinistischen Partei oder der extremen Linken?"

André Glucksmann, gestorben vor sieben Jahren, hatte zuletzt in Deutschland nicht mehr viele Freunde. Die Perlentaucher sind stolz, dass sie 2005 und 2006 seine Artikel gegen Putin nachdruckten, in denen er vorm "Petrozar" warnte (hier und hier). Deutsche Verlage übersetzten seine Bücher nicht mehr. Deskrussie bringt als Hommage einen Auszug aus einem Buch von 2011: "Die Überwindung des Sowjetismus läuft nur über zwei Wege, den Weg Havels oder den Weg Milosevics. Der Weg der Demokratisierung ist mühsam und steinig und daher langsam. Der schnellere, kriegerische und terrorisierende, wenn nicht gar terroristische Weg ist der Weg einer autoritären Neugestaltung. Wenn Geheimpolizei, Armee und Nomenklaturisten den Kreml unter sich aufteilen, ist Milosevic ganz nah dran, die Oberhand zu gewinnen. Jedes Mal, wenn der Westen blindlings auf die russische Fata Morgana gesetzt hat, ist er gestolpert und in ein schwarzes Loch gefallen. Man hat Fantasien, deliriert, und der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Europa hat sich an den Rand des Abgrunds gesetzt, als es den Herren des Kremls freie Hand ließ, wer sie auch sein mögen und was sie auch tun mögen, und trägt noch dazu bei, diesen Abgrund zu vertiefen. Noch ist nichts entschieden, aber diejenigen, die uns regieren, schlagen die falsche Richtung ein."
Archiv: Desk Russie

Elet es Irodalom (Ungarn), 04.11.2022

Durch eine drastische Gesetzesänderung, in der deklariert wird, dass das Individuum selbst für die eigene soziale Sicherheit verantwortlich ist (und der Staat erst nach den Angehörigen sowie karitativen Organisationen an letzter Stelle in der Pflicht steht), wird der Sozialstaat in Ungarn quasi abgeschafft. Was von der Orban-Regierung als "Erbschaft des Kommunismus" deklariert wird, beschreibt der Philosoph Gáspár Miklós Tamás als das Ergebnis der Politik von Napoleon III., Benjamin Disraeli sowie Otto von Bismarck und detektiert eine tiefgehende Veränderung (auch Widerstand) im Land, deren Auswirkungen noch kaum absehbar sind. "Doch das Entzweien des Landes ist das radikale Ergebnis der (wie es genehm ist, revolutionären oder konterrevolutionären) Regierungspolitik des Rechtsradikalismus, was nicht die Rechte von vor 2010 ist. Hier wird die Machtzentrale nicht getrieben, sondern sie initiiert, sie verfügt über ein Programm, Ideologie und darin wird sie auch nicht von 'bad governance' im intellektuellen und formal-technischen Sinne gestört. (...) Die freiberufliche untere Mittelschicht und die Intellektuellen waren stets vom Sozialstaat abhängig (auch ihre Kultur, ihre Konzerte, Bücher, Ausstellungen, Filme, Zeitschriften, Diskussionen), nun verteidigen sie sich, wenn auch sehr lasch. Die Flucht der Jüngeren aus den Zusammenschlüssen und Konflikten der Macht zeigt, dass sich selbst die späten gesellschaftlichen Kämpfe verändern, die Sezession, also der Auszug ist ungreifbar, und funktioniert durch persönliche Instrumente. Diese Sezession ist für keine Macht greifbar (auch für die Gegenmacht nicht). Der Kampf geschieht also im Tiefen, ... in einem neuartigen Land, das man mit den alten Instrumenten nicht mal mehr begreifen kann, von gewollter Veränderung gar nicht zu sprechen."

New Yorker (USA), 14.11.2022

Sehr interessiert liest David Treuer, der offenbar selbst von amerikanischen Ureinwohnern abstammt, die Studie "Indigenous Continent" des Oxford-Historikers Pekka Hämäläinen. Dieser wendet sich darin gegen die von der heutigen Position aus formulierte These, die europäischen Kolonialisten hätten die Ureinwohner des amerikanischen Kontinents einfach überrollt und an die Peripherie gedrängt. Stattdessen fächert Hämäläinen die Perspektive auf, erfahren wir: Nicht nur geht es um die komplexe, innere Vorgeschichte vor der Kolonialisation, sondern auch um den chaotischen Prozess danach. "Der große Punkt, den Hämäläinen macht, ist, dass die Völker der Neuen Welt lange vor der Ankunft der Europäer nicht in jenem statischen Zustand lebten, wie ihn ein Ethnograf schildern würde. Sie erlebten einen tumultartigen Prozess anhaltenden Wandels - was einfach nur heißt: Sie handelten gesellschaftlich und politisch. Im 16. Jahrhundert haben fünf Millionen Natives mehr oder weniger jeden Teil Nordamerikas besiedelt. Die gängige Geschichte beschreibt sie als im Einklang miteinander und der Natur in einer Art kulturellen und ökologischen Garten Eden, der schließlich von den Europäern zerschlagen wurde. Hämäläinen zeigt allerdings, wie sie Wasser umleiteten, um Wüsten zu bewässern, wie sie Pflanzen durch Auswahl von Samen kultivierten und Macht ausübten und dies manchmal auch gewaltvoll, um ihre Nachbarn zu unterwerfen. Sie lebten nicht in Harmonie, sondern in der Historie. So wie die erste Besiedelung der Neuen Welt von Beweglichkeit charakterisiert war, so waren dies auch die indigenen Formen der Dominanz. Dies ist eine These, die Hämäläinen in seinem einflussreichen Vorgängerbuch formuliert hatte, 'The Comanche Empire' von 2008: Während die europäischen Imperien zu Sesshaftigkeit neigen und Macht durch permanente Strukturen definieren, waren die der dominierenden Natives 'kinetische Imperien', in denen alles - Märkte, Missionen, politische Versammlungen - fluide und in Bewegung blieben."

Außerdem gibt Weird Al Yankovic dem New Yorker ein entspannt-unterhaltsames Gespräch. Anlass ist das von Yankovic selbst verfasste Biopic "Weird" über sich selbst (verkörpert wird er übrigens von Daniel "Harry Potter" Radcliffe), in dem der große Popkultur-Parodist natürlich auch die Gepflogenheiten des Biopics genüsslich durch den Kakao zieht und mit historischen Fakten alles mögliche treibt, nur nicht, bei ihnen bleibt: Unter anderem erdichtet er sich eine Amour Fou mit Madonna in den Achtzigern, die natürlich nie stattgefunden hat. Muss man sich für solche Stunts nicht juristisch wappnen? "Die Rechtsanwälte sagten uns, dass wir von all den Leuten, die wir in den Film gepackt haben, kein grünes Licht einzuholen brauchen - und tatsächlich sogar, dass wir das am besten auch gar nicht erst tun sollten. Die sind alle Personen des öffentlichen Lebens und damit hat sich das erledigt. Und im übrigen, nur am Rande: 1985, also bevor meine Parodie auf den Markt kam, sagte Madonna zu einem ihrer Freunde: 'Ich frage mich ja echt, wann Weird Al 'Like a Surgeon' bringt'. Und ihr Freund wiederum kannte meinen Manager. Also kam das bei mir an. Und ich dachte mir, oha, keine schlechte Idee, dann mach ich das wohl mal. Die Idee kam also tatsächlich von ihr. Diesen kleinen Tatsachen-Nugget nahmen wir und bliesen ihn zu diesem völlig psychotischen Erzählstrang auf." Wir amüsieren uns derweil mit Yankovics Klassiker "Amish Paradise":

Archiv: New Yorker