Magazinrundschau

Jeden Morgen um 2 Uhr

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
06.12.2022. Der Kampf um Frauenrechte im Iran hat eine Vorgeschichte, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht, erzählt Dissent. Wie nachhaltig der Sektionalismus scheitern kann, beschreibt Africa is a Country am Beispiel Sudans. In Respekt erklärt Ivan Krastev den Unterschied zwischen einer Gesellschaft, die bangt, und einer, die Angst hat. Das New York Magazine porträtiert die Sci-Fi-Autorin Octavia Butler. Im Merkur denkt Christoph Möllers über den Begriff der Werte nach. Die Boston Review zeigt den Kapitalismus auf seinem Peak - in China. Wired lässt sich von Journalisten in Simbabwe erklären, warum Twitter trotz allem unersetzlich ist.

Dissent (USA), 02.12.2022

Die Demonstrationen im Iran für Frauenrechte haben eine Vorgeschichte, die bis zur Mitte des 19. Jahrhundert zurückreichen, als eine Frau namens Qurrat al-Ayn, die wichtigste Anführerin der Babi-Bewegung, sich in einem radikalen Akt öffentlich entschleierte, erzählen Janet Afary und Kevin B. Anderson in einem sehr instruktivem Aufsatz. "Unter anderem aufgrund ihrer Enthüllung kam es zu einer Gegenreaktion gegen die Bewegung und ihre Forderungen. Der königliche Hof und hohe Geistliche ordneten an, die Babis zu massakrieren, angefangen bei ihren Anführern, darunter Qurraat al-Ayn, die 1852 starb. Die Lage der iranischen Frauen hatte sich bis zur Wende zum zwanzigsten Jahrhundert nicht verbessert. Sie lagen weit hinter den aserbaidschanischen Schiiten des Südkaukasus (die unter russischer Kolonialherrschaft lebten) und den sunnitischen Muslimen des Osmanischen Reiches zurück. Im Südkaukasus erhielten muslimische Frauen der Mittel- und Oberschicht eine Ausbildung, und muslimische Philanthropen waren damit beschäftigt, palastartige Schulen für Mädchen zu bauen. In der Türkei waren die Dinge sogar noch weiter fortgeschritten: 1842 wurde die erste medizinische Schule für Hebammen eröffnet, 1861 die erste weiterführende Schule für Mädchen eingerichtet und 1870 die erste Lehrerinnenschule für Frauen gegründet. Im Gegensatz dazu gab es im Iran keine Schulen für muslimische Mädchen, vor allem wegen des hartnäckigen Widerstands des schiitischen Klerus. Diese Situation änderte sich dramatisch mit der Verfassungsrevolution von 1906, die dem Land eine parlamentarische Demokratie nach europäischem Vorbild, eine Verfassung nach dem Vorbild der belgischen Verfassung von 1831 und ein fortschrittliches Grundgesetz brachte. ... Hochrangige Kleriker waren über diese Entwicklungen empört. Sie bezeichneten die progressiven Verfassungsrechtler als 'Atheisten' und warnten, dass muslimische Frauen bald Hosen tragen und nicht-muslimische Männer heiraten würden. Doch eine Generation männlicher Journalisten, Parlamentsabgeordneter und Dichter unterstützte die Aktivitäten der Frauen, und die Konstitutionalisten konnten den Widerstand des konservativen Klerus eine Zeit lang beiseite schieben. Die Revolution fand 1911 ein tragisches und abruptes Ende, als Russland das Land im Einvernehmen mit Großbritannien besetzte."
Archiv: Dissent

Africa is a Country (USA), 30.11.2022

Ethnische, religiöse Kriterien und die Hautfarbe werden immer wichtiger in Debatten über eine gerechtere Gesellschaft. Im Libanon hat dieses Proporzsystem nicht funktioniert, im Sudan auch nicht, wo Gewaltausbrüche in den letzten Jahren viele Menschenleben forderten. Die sudanesische Schriftstellerin und Frauenaktivistin Rem Abbas erzählt, wie es dazu kam: "Im Juli 2022 kam es in verschiedenen Städten in der Region Blauer Nil zu einem plötzlichen Ausbruch von Gewalt.  Sie begann in Al-Damazine und Al-Rosereis, den beiden größten Städten der Region, und brachte die Hausa, eine Bauerngruppe mit Wurzeln in Nigeria, gegen andere in der Region ansässige Gemeinschaften wie Al-Hamj, Al-Berta und Al-Funj auf. Die Kämpfe begannen, nachdem die Hausa um eine Amara (eine Stammesverwaltung) in der Region gebeten hatten, was ihnen jedoch verweigert wurde, da eine Stammesverwaltung einen historischen und nachgewiesenen Anspruch auf das Land voraussetzt. Die Art der Tötungen spiegelt die Art und Weise wider, wie viele Städte im Sudan aufgebaut sind. Al-Rosereis, die historische Hauptstadt der Region, ist in fünf Bezirke unterteilt, die die geografische Lage widerspiegeln. Die jüngsten Gewalttaten konzentrierten sich auf die nördlichen und südlichen Bezirke der Stadt, in denen die Stadtteile nach ethnischer Zugehörigkeit abgegrenzt sind. Die Konzentration der Hausa-Gruppe in bestimmten Dörfern am Blauen Nil hängt beispielsweise mit ihren wirtschaftlichen Aktivitäten in der Landwirtschaft und Fischerei zusammen. In Geneis, einem Fischerdorf in der Nähe des Al-Rosereis-Staudamms, kam es zu massiven Kämpfen. Das Gebiet wird von Al-Hamaj, einer einheimischen Gruppe, beherrscht, und die Hausa leben und arbeiten dort seit mindestens zwei Generationen. In Geneis bahnt sich seit langem ein Konflikt an, da die Hausa wirtschaftlich aufgestiegen sind und sich ein sehr gefährliches Bild zwischen den so genannten Eingeborenen und den Siedlern abzuzeichnen begann."
Stichwörter: Sudan, Nigeria, Country, Landwirtschaft

Respekt (Tschechien), 04.12.2022

Barbora Chaloupková führt ein Gespräch mit dem Politologen Ivan Krastev (das nur zum Teil ohne Abo lesbar ist, aber schon dieser Teil ist so interessant, dass sich die Lektüre lohnt) über die Frage, ob wir in einem Zeitalter der Angst leben (Angst vor Russland, dem Krieg, vor einer Wirtschaftskrise, vor der Kälte etc.). Das Coronavirus hat einen großen Anteil an der allgemeinen Gefühlslage, meint Krastev. "Der Virus kam so unerwartet und in solchem Ausmaß, dass viele Menschen das Gefühl gewonnen haben, dass heute schlicht alles passieren kann. Etlichen macht auch Angst, wie schnell sich die Welt verändert." Auch das Missverhältnis von Realität und persönlicher Lebenserfahrung spiele eine Rolle. "Demokratie beruht darauf, dass meine Erfahrungen gleichwertig mit deinen sind und wir auf der Grundlage dessen, was wir erlebt haben, unsere Wahl treffen. Aber heute müssen wir gezwungenermaßen auf Fragen reagieren, bei denen unsere Lebenserfahrungen nicht viel helfen. Ob es um den Coronavirus geht oder darum, was die Russen mit den Atomwaffen machen werden, um neue Technologien oder Big Data - die Frage ist, was und wem glauben? Darum sind auch die Verschwörungstheorien so einflussreich, die die Ideologien ersetzt haben." Statt von Angst würde Krastev allerdings eher von Bangigkeit oder einer diffusen Sorge sprechen. "Menschen, die Angst haben, sind gewöhnlich sehr konzentriert. Sie denken über das nach, was sie sagen, weil sie wissen, dass es Folgen haben kann. Bangigkeit hingegen bewirkt das Gegenteil. Hier lässt sich die Quelle der Angst nicht genau ausmachen, darum fürchtet man sich vor allem, ist desorientiert und wird laut. Und meiner Meinung nach leben die Europäer heute in einer Zeit der Bangigkeit, nicht der klassischen Angst. (…) Am meisten sollten die Ukrainer Angst haben, schließlich können sie getötet werden. Gleichzeitig wissen sie jedoch sehr genau, womit sie konfrontiert sind, und haben ihr Leben dem angepasst. Es ist sicher sehr schwierig, aber sie leiden nicht unter einer diffusen Sorge, bei der die Furcht vor dem Unbekannten einen lähmt. Solche Bangigkeit lässt sich nicht in etwas Konstruktives wenden, Angst hingegen verleiht eine Disziplin, die sich nutzen lässt."
Archiv: Respekt

New York Magazine (USA), 05.12.2022

Es gibt nichts Neues unter der Sonne, aber es gibt immer wieder neue Sonnen, lautete die Devise der Science-Fiction-Autorin Octavia Butler, die für ihre Weltraum-Utopien ebenso verehrt wurde wir für ihren Afrofuturismus. Alex Jung widmet der Schriftstellerin ein episches Porträt, das berührend auf Butlers Anfänge blickt, als sie arm, schwarz und unglaublich schüchtern war. Fünf Jahre lang schrieb sie Tag für Tag, ohne etwas zu verkaufen, kein Verlag interessierte sich für ihren ersten Roman "Psychogenese": "Sie versuchte, einen straffen Zeitplan einzuhalten. Jeden Morgen um 2 Uhr stand sie auf, um zu schreiben. Das war die beste Zeit, bevor sich der Tag mit anderen Menschen füllte und ihre Gedanken frei schweifen konnten. Der Sonnenaufgang brachte das Leben, das sie nicht gewollt hatte: die Arbeit in Fabriken, Büros und Lagerhäusern. Sie lebte von der Arbeit für eine Zeitarbeitsfirma, die sie 'den Sklavenmarkt' nannte. Ihre Mutter wünschte sich, dass sie eine Vollzeitstelle als Sekretärin bekäme, aber Butler bevorzugte körperliche Arbeit, weil sie nicht lächeln und so tun musste, als würde es ihr gefallen. Ihr Körper schmerzte; sie musste zum Zahnarzt. Sie nahm NoDoz, um wach zu bleiben. Sie rechnete ständig: wie teuer war Papier, wie weit konnte sie den zweiwöchentlichen Gehaltsscheck von 99,07 Dollar strecken. 'Armut ist eine ständige, bequeme und leider auch gültige Entschuldigung für Untätigkeit', schrieb sie in einem Tagebucheintrag. Die Welt der 'Psychogenese' hatte mit Psionik zu tun - Telepathie, Telekinese, Gedankenkontrolle -, die in der Science-Fiction, die sie las, sehr beliebt war. Die Möglichkeit, dass man die Umstände seines Lebens mit seinen Gedanken kontrollieren kann, übte auf Butler starken Reiz aus. Sie glaubte daran auch in der realen Welt. Besonders Napoleon Hills 'Think and Grow Rich' hatte es ihr angetan, ein Motivationsbuch, das die optimistische Autosuggestion des französischen Psychologen Émile Coué lehrte. Eine von Hills Übungen bestand darin, sich an einen ruhigen Ort zu begeben und eine Geldsumme aufzuschreiben, die man verdienen wollte und wie man sie bekommen würde. Man musste dies mit 'Überzeugung' tun. Während mehrerer Monate im Jahr 1970 befolgte Butler diese Anweisung morgens und abends. 'Ziel: 100.000 Dollar Gespartes in bar zu besitzen', schrieb sie."

Merkur (Deutschland), 01.12.2022

Der Begriff der Werte stehen wieder hoch im Kurs, in der Kunst und in der Politik. Der Verfassungsrechtler Christoph Möllers erhebt dagegen Einspruch. Werte - Frieden, Freiheit, Sicherheit, Geschlechtergerechtigkeit, Solidarität - verbinden seiner Ansicht nach hohen moralischen Anspruch mit maximaler Folgenlosigkeit und Vagheit: "Außerhalb der formalisierten Welt des Verfassungsrechts, namentlich in der Politik, erscheinen Werte als adressatenlose Kategorien. Mit der Anrufung eines Rechts wird immer auch der Adressat einer Pflicht fixiert. Mit der Anrufung eines Wertes ist weder etwas dazu gesagt, wer ihn verwirklichen soll, noch dazu, was geschieht, wenn man ihn ignoriert. Die Rede über Werte wird unscharf, wenn es an Konsequenzen geht. Kann man gegen einen Wert 'verstoßen'? Und muss man für ihn eintreten oder ihn gar durchsetzen? Zu dieser Unschärfe gehört auch der nahtlose Übergang vom Sein zum Sollen: 'Sind unsere demokratischen Werte in Gefahr?' wird in der Diskussionsrunde einer bürgerlichen Wochenzeitung gefragt. Gegenfragen: Warum sollten demokratische Werte in Gefahr sein, nur weil die Demokratie in Gefahr ist? Oder gibt es gar keinen Unterschied zwischen Demokratie und demokratischen Werten? Und wenn nicht, warum formuliert man es dann so?" Besonders vage wird es Möllers zufolge in der neuen "wertegebundenen Außenpolitik": Zum Ersten sind die zu verteidigenden Werte eben deswegen Werte, weil sie die 'Unseren' sind. Sie entstehen durch nackten Verweis auf die eigene politische Gemeinschaft. Zum Zweiten folgt diese Umstellung aus einem Primat der Sicherheit, keiner moralischen, sondern einer genuin politischen Kategorie. Die Umsteuerung der deutschen Außenpolitik ist nicht der Einsicht in den normativen Mangel geschuldet, sich mit Diktaturen einzulassen, sondern der praktischen Erkenntnis, dass dies politisch gefährlich sein kann. Völlig konsequent bestreitet die Bundesaußenministerin daher die Unterscheidbarkeit von Werten und Interessen, die sich beide, so ausdrücklich formuliert, als Koalition von Amnesty International und BDI gemeinsam verwirklichen lassen."
Archiv: Merkur

Boston Review (USA), 28.11.2022

Die chinesische Regierung hatte schon vor der Pandemie eine starke Kontrolle darüber, wer wo lebt, indem sie Arbeit überall zuließ, soziale Leistungen aber nur regional vergab, nämlich dort, wo der Leistungsempfänger herkam. So sollte verhindert werden, dass die Familien von Wanderarbeitern diesen nachfolgten: Die Reichen sollten unbehelligt vom Proletariat in den Megastädten leben können. Das klappte nur begrenzt, aber in Folge der Pandemie konnte die Regierung ihre Kontrolle über die Mobilität der Chinesen ausdehnen - diesmal auch auf die Angehörigen der Mittel- und Oberschicht. Wie das funktioniert beschreibt der Soziologe Eli Friedman: "Ein wesentlicher Unterschied zwischen Wuhan und Schanghai besteht darin, dass der Staat während der jüngsten Abriegelung darauf bestand, dass die Menschen weiter arbeiten. Die Aufrechterhaltung des Kapitalverkehrs bei gleichzeitiger radikaler Demobilisierung der Arbeitskräfte ist eine Herausforderung, aber die Behörden in Shanghai waren bereit, es zu versuchen. Die wichtigste raumpolitische Waffe in ihrem Arsenal war der geschlossene Kreislauf. Die Strategie bestand darin, die Einrichtungen so hermetisch wie möglich abzuschließen und nur lebenswichtige Güter wie Lebensmittel und Medikamente hineinzulassen, während gleichzeitig fast jeder daran gehindert wurde, den Kreislauf zu verlassen. Diese Strategie ermöglicht es dem Kapital, zu zirkulieren, während die menschliche Mobilität auf ein absolutes Minimum reduziert wird. ... Am 11. April gab die Shanghaier Regierung eine 'weiße Liste' mit 666 Unternehmen heraus, die trotz der weitreichenden Abriegelung wieder öffnen durften (weitere 342 Unternehmen kamen im Mai hinzu). Auf dieser Liste standen unter anderem die Tesla Gigafactory und Quanta, einer der wichtigsten Montagebetriebe von Apple. Bei der Closed-Loop-Fertigung müssen die Arbeiter in der Fabrik bleiben - sie essen, schlafen und arbeiten ausschließlich auf dem Werksgelände. Wenn die Arbeiter in den Kreislauf gebracht wurden, konnten sie nicht wissen, wann sie ihn wieder verlassen durften. Anstatt von zu Hause aus zu arbeiten, wurden sie aufgefordert, auf der Arbeit zu leben. ... Der geschlossene Kreislauf schneidet die Arbeitnehmer von jedem sinnvollen sozialen Leben ab und reduziert sie auf ihre bloße Arbeitskraft. Doch die Arbeiter wehrten sich gegen diesen Versuch, eine diktatorische Kontrolle über die körperliche Mobilität auszuüben und gleichzeitig Produktivität für das Kapital zu fordern. Die Menschen wollten nicht nur als Arbeitskräfte für den Chef am Leben erhalten werden." Dass Friedman diese Politik am Ende seines Artikels mit der Weigerung westlicher Staaten vergleicht, ihre Grenzen für alle zu öffnen, ist allerdings etwas schräg.
Archiv: Boston Review
Stichwörter: China, Arbeiter, Tesla

Eurozine (Österreich), 06.12.2022

Russlands Propagandaerfolge stoßen langsam an ihre Grenzen, schreiben Wolodymyr Kadygrob und Anton Tarasyuk, selbst innerhalb Russlands. Was Russland jetzt brauche, sei ein Realitätscheck. "Die Realität auf dem Schlachtfeld ist in gewissem Sinne realer als die Realität anderswo, sie ist manipulationsresistenter, wenn es darum geht, mit dem Medienspektakel zu verschmelzen. Das bedeutet, dass alle externen Vorschläge, die Putin helfen sollen, sein Gesicht zu wahren, bestenfalls kurzsichtig sind. Wenn es Russland nicht gelingt, aus seiner Echokammer herauszukommen, sondern es stattdessen dabei unterstützt wird, noch tiefer in diese hineinzugehen, werden wir wahrscheinlich zu einem späteren Zeitpunkt eine ähnliche, unprovozierte Aggression erleben. Erst nach der Konfrontation mit den Realitäten - zunächst militärischer, dann politischer und sozialer Art - könnte ein umgestaltetes Russland (vielleicht eine post-russische Formation oder sogar Formationen) den langen Prozess der Wiedereingliederung in die zivilisierte Gemeinschaft beginnen. Für die russische Gesellschaft würde der Realitätscheck bedeuten, dass sie aufhört, die Opfer zu beschuldigen, was sowohl im politischen Diskurs der Putin-Befürworter ('Die Europäer sind schuldig, weil sie uns erobern wollen') als auch der russischen Liberalen ('Die Europäer sind schuldig, weil sie uns nicht helfen wollen') verwurzelt ist. Erst wenn die Russen die Verantwortung für die Geschehnisse in ihrem Land übernehmen, können sie beginnen, den Raum für Maßnahmen und Veränderungen zu öffnen. Für all diese Prozesse gibt es jedoch eine Voraussetzung. Die Ukraine muss den Krieg gewinnen."
Archiv: Eurozine
Stichwörter: Ukraine-Krieg 2022, Russland

Wired (USA), 02.12.2022

Twitter geht zum Teufel: Täglich neue Musk-Kapriolen, Massenabwanderungen der Werbepartner und Nutzer, Massentlassungen hinter den Kulissen und in Folge bereits eine spürbar steigende Zahl von Fehleranfälligkeiten, Störungen und nervenden Hass-Acounts - und der Aktienkurs? Im Sinkflug. Dass da manche die Plattform schon endgültig am Ende sehen, findet Eve Fairbanks zunächst einmal sehr plausibel - stieß sie vor kurzem doch noch in dasselbe Horn. Aber bei genauerem Hinsehen ist Twitter es wert, gerettet zu werden, findet sie. Nicht nur, weil die Plattform einen zentralen Stellenwert im Ökosystem der Medien hat - und sei es nur als Peilsender für Befindlichkeiten sowie als Rekrutierungsort für neue Stimmen und Positionen. Sondern auch, weil Twitter in manchen Regionen dieser Welt das Forum politischer Meinungsbildung schlechthin darstellt. Beispiel Simbabwe, wo die freie Meinungsäußerung von der Regierung im Alltag für gewöhnlich rigoros unterdrückt wird: "Twitter ist 'unser politischer Treffpunkt' geworden, erzählt der simbabwische Journalist Tinashe Mushakavanhu. Die Anonymität der App gestattet 'einen sehr freien, sehr kritischen Austausch über das Land'. Mitternacht ist die Stunde, zu der man das simbabwische Twitter aufsuchen sollte, sagt Mushakavanhu. Dann wird das Handynetz günstiger; auch deshalb ist Twitter unersetzlich. Bild- und videolastige Apps verbrauchen einfach zu viel Datenvolumen, was sich die meisten Simbabwer schlicht nicht leisten können. ... In Simbabwe sehen sich die Politiker dazu gezwungen, auf Twitter-Aufruhr zu reagieren. Twitter ist auch der Ort, an dem Leute, die das Land verlassen mussten, in gewisser Weise nach Hause zurückkehren können. Während sie im Ausland auf Asyl warten, können Tausende politische Flüchtlinger 'legal nicht arbeiten', erzählt Mushakavanhu. 'Das sind Leute, die nicht nach Hause fahren können, um ihre Eltern zu beerdigen.' Also 'werden sie auf Twitter ziemlich rege. Twitter ist das einzige, was sie haben. Es ist der Ort für Fantasien und wo sie ihre Verzweiflung artikulieren. Es ist ein Heimatort.' ... Mushakavanhus Eindruck ist, dass die ihm bekannten Simbabwer auf Twitter sich geradezu anstrengen, nicht darüber zu reden, was geschehen würde, wenn die App untergehen sollte. Musks Streiche sind für sie ganz und gar nicht lustig. 'Wir haben nicht den Luxus, einfach weiterzuziehen', reflektiert er. Twitter 'ist kostenlos und einfach praktisch. Neuen Plattformen dürfte es schwerfallen, erneut diesen entwickelten Gemeinschaftssinn aufzubauen, den wir dort genießen."
Archiv: Wired
Stichwörter: Twitter, Musk, Elon, Simbabwe, Asyl, Luxus

Elet es Irodalom (Ungarn), 02.12.2022

Der Chefredakteur von Élet és Irodalom Zoltán Kovács kommentiert die schleppenden Verhandlungen zwischen der ungarischen Regierung und der Europäischen Union über die Auszahlung von Geldern aus dem Wiederaufbaufonds, welche an die Eindämmung der Korruption und die Stärkung von regierungsunabhängigen Institutionen gebunden sind. Verhandlungsführer auf der ungarischen Seite ist der ehemalige EU-Kommissar Tibor Navracsics, der als Minister der ungarischen Regierung stets von Annäherung sowie marginalen technischen Problemen spricht. "Wie die Kommission das ungarische Paket beurteilt, wird eine ernste Probe für die ungarische Regierung sein, doch nicht minder für die EU. Die Annäherung der Regierung ist grundsätzlich falsch: Minister Navracsics spricht nicht von einer Wiederherstellung der verkommenen Rechtstaatlichkeit in Ungarn, sondern davon, dass die ungarische Regierung versuche die Vorbehalte der Europäischen Kommission zu zerstreuen. Als gäbe es keine Korruption, lediglich Vorbehalte der Union. Navracsics sagt Zerstreuung, was sich aber vor den Augen der Welt abspielt, ist die systematische Eliminierung der demokratischen Institutionen, man könnte auch Entführung und Plünderung des Landes sagen. Da keine Rede davon ist, diesen Prozess zu stoppen, werden wohl auch die Vorbehalte nicht zerstreut werden. In Ungarn bleibt die durch politische Wegelagerer und ihre Günstlinge ausgebaute antidemokratische Vasallenstruktur erhalten."
Stichwörter: Ungarn, Plünderung

New Yorker (USA), 05.12.2022

Kein soziales Netzwerk ist in den letzten Jahren so rasant gewachsen wie TikTok. Und kein soziales Netzwerk ist derart jung. Während die Generation unter 30 dem (aus ihrer Sicht) Seniorenheim Facebook mehr oder weniger geschlossen den Rücken gekehrt hat, feiern sie auf TikTok ihr Jungsein, ihre Popkultur, ihre Codes, ihre Musik - und das oft im Sekundentakt schneller Videos und Remixes. Das macht die Plattform auch für die Musikindustrie interessant, schreibt John Seabrook. Nicht nur, um gerade in den konzertelosen Pandemiejahren neue Talente zu rekrutieren, sondern auch als Durchlauferhitzer: Jene Musik, die unter tausendfach remixten und aufgegriffenen Videos liegt, geht in der Regel auch auf anderen Plattformen wie Spotify und in den Charts steil, wo sich der virale Erfolg in bare Münze übersetzt - völlig gleich, ob es sich dabei um alte Songs wie "Dreams" von Fleetwood Mac und (als Kuriosität) der Deutschpunk-Song "Fahrradsattel" von Pisse handelt, oder um frische Neuware. Die Folge? Ging es früher beim Youtube-Streit noch darum, wieviel Geld Youtube Musikern dafür bezahlt, wenn deren Musik in Videos auftaucht, hat sich die Dynamik nun ins glatte Gegenteil verkehrt - längst haben sich Agenturen gebildet, die Kreative auf TikTok managen, auffällig oft gegründet von Überläufern aus der Musikbranche. Eine davon ist Barbara Jones. "Sie führt mich durch die Preise, die Kreative dafür veranschlagen, um Songs zu boosten. Unterschieden wird dabei zwischen 'Initiatoren', die unter einem Lied gut Feuer legen können, und 'Akzeleratoren', die dann noch ordentlich Öl hineinspritzen. Kreative mit überschaubarerer Reichweite, also einer Gefolgschaft im Bereich von 20.000 bis zu einer Million, können 250 bis 1000 Dollar pro Video berechnen. Im mittleren Bereich mit Followerzahlen von einigen Millionen liegt der Preis zwischen 1000 und 3000 Dollar. Im oberen Segment, wo sich die TikTok-Elite wie D'Amelio aufhält, werden bis zu 75.000 Dollar pro Video fällig. Doch Jones warnt: 'Es ist immer noch alles riskant. Man kann nichts einfach so viral gehen lassen.'" Denn Glaubhaftigkeit ist das A und O in dieser Welt. "Wäre Nathan Apodacas Video 'Dreams' viral gegangen, wenn er ein bezahlter Influencer gewesen wäre? Alles, was ein digitaler Vermarkter tun kann, ist, einen genauen Blick darauf zu haben, was auf TikTok gerade organisch geschieht, um dann Kreative anzuwerben, die den Trend melken."

Weiteres: Eren Orbey stellt in einem Brief aus Michigan die Aktivistin Rebecca Kiessling vor, die Vergewaltigung als Abtreibungsgrund abschaffen möchte. Thomas Mallon erzählt, wie er im aidsgeplagten Manhattan der Achtziger lebte. Sam Knight schreibt über die Fußball-WM in Katar. Jerome Groopman liest ein Buch, das ihm die Nützlichkeit vom Parasiten erklärt. versucht zu verstehen, warum Parasiten nützlich sein können. Alex Ross hörte Kevin Puts' neue Oper "The Hours" in der Met. Anthony Lane sah im Kino Darren Aronofskys "The Whale".
Archiv: New Yorker