Magazinrundschau
Radikale in Festanstellung
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
17.01.2023. Der New Yorker empfiehlt wärmstens John Guillorys Essayband "Professing Criticism", eine wahre Soziologie der Literaturkritik. In Novinky fragt die Schriftstellerin Zuzana Kultánová, wie die Tschechen die 90er erlebt haben - jenseits von Disko und Havel. Elet es Irodalom und HVG trauern um den Philosophen Gáspár Miklós Tamás und den Verleger Géza Morcsányi. La vie des idees betrachtet den Niedergang der israelischen Arbeiterpartei. Die New York Times begutachtet von KI-Art metabolisierte Filmstills, die den Glanz des Neuartigen verbreiten.
New Yorker (USA), 23.01.2023

Weiteres: Calvin Tomkins porträtiert die Künstlerin Tala Madani. Rebecca Mead liest Harry Windsors Erinnerungen.
HVG (Ungarn), 16.01.2023

Vor kurzem gab es noch ein Interview mit Gáspár Miklós Tamás, in dem er recht schwarz für die Zukunft Europas sieht: "Wo ich Faschismus sehe? Überall. Der Faschismus, insbesondere der Postfaschismus ist keine Diktatur im herkömmlichen Sinne. Er wird nicht vom Staat vollzogen, sondern von einer mit Gewalt und Ausgrenzung sympathisierenden Bevölkerung. Der Postfaschismus bringt diesen erschreckenden, irrationalen Schwung in die öffentliche Sphäre, dessen wichtigstes Element die Diskriminierung ist - siehe die Migration, siehe Genderfragen."
Der aus Siebenbürgen stammende Filmemacher Róbert Lakatos spricht im Interview über die Situation der ungarischen Filmemacher in Siebenbürgen: "Kinematografische Lehre gibt es hier, Filmproduktion nicht. Ein kleiner Teil der Filmstudenten bekommt irgendwelche Arbeiten bei den regionalen Medien, doch wir bilden vor allem Fachkräfte für Budapest aus. Ergo sind wir Provinz, mit jener Frustration und dem teilweise falschen Überlegenheitskomplex, dass wir wohl Potential hätten für ein eigenes kulturelles Zentrum, doch fehlt dazu leider sowohl die wirtschaftliche als auch die politische Kraft. Tröstlich ist, dass rumänisch-ungarische Koproduktionen entstehen, in denen auch wir Siebenbürger Ungarn eine kleine Lücke für uns finden können. (…) Unsere kulturellen Tradition auch im Film zu nutzen ist für mich wichtig, so wie dies in der Musik Béla Bartók und Mihály Dersch taten. Das ist meine Welt. Der Film 'Wessen Hund bin ich?' war eine Ausnahme, denn ich war sehr frustriert angesichts des politischen Abgrunds vor uns. Mein jetziges Filmprojekt ist ein altes, doch ich musste damit warten bis die in Westeuropa herrschende Erwartungswelle, wonach der osteuropäische Film aktuelle gesellschaftliche Probleme aufzuarbeiten hat, schwächer wurde. Grob ausgedrückt war der Westen nicht an unseren kulturellen Traditionen interessiert, sondern an unserem Elend. Jetzt langweilt es sie hoffentlich, denn einige Beispiele zeigen, dass auch Filme, die kulturelle Traditionen thematisieren, Zugang finden."
Spiegel (Deutschland), 16.01.2023

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 12.01.2023

Novinky.cz (Tschechien), 13.01.2023

La regle du jeu (Frankreich), 11.01.2023

London Review of Books (UK), 16.01.2023

La vie des idees (Frankreich), 11.01.2023

Elet es Irodalom (Ungarn), 13.01.2023

New York Times (USA), 13.01.2023

Mit niemals realisierten Filmen kennt sich Frank Pavich aus: 2013 drehte er einen Dokumentarfilm über Alejandro Jodorowskys größenwahnsinnig konzipierte, aber letzten Endes nie umgesetzte Adaption von Frank Herberts Science-Fiction-Klassiker "Dune". Von daher ist Pavich wohl der richtige Mann, um auf einen populären Trend innerhalb der sich explosionsartig verzweigenden A.I. Art zu blicken: annähernd fotorealistische, anhand bloßer Textanweisungen und einen endlosen Schatz an Bildarchiven realisierte Stills aus imaginären Filmen - wie etwa eine von Alejandro Jodorowsky gedrehte Version des Cyberkino-Klassikers "Tron" aus den Achtzigern. Ein mit der Software Midjourney erstellte Filmgalerie lädt zum "Was wenn"-Träumen ein. "Ich versuche immer noch, meinen Verstand darum zu wickeln. Offenbar gibt es einen Zusammenhang zwischen der Art und Weise, wie Alejandro Jodorowskys Arbeiten von nachfolgenden Filmemachern aufgenommen und referenziert wurde und wie seine Arbeit von Computerprogrammen einverleibt und metabolisiert wurden. Aber das ist nicht dasselbe. Eigentlich möchte ich sagen, dass Einfluss und Algorithmus nicht dasselbe sind. Aber kann ich mir da so sicher sein? ... Einerseits kredenzt die Software uns eine Art turbo-aufgeladenes Pastiche. Und dennoch steckt in dieser Imitation etwas vom Glanz des Neuartigen. Ihr glückt eine der wichtigsten Aufgaben des Filmemachens: die Leute in eine andere Zeit, in eine andere Welt zu versetzen. Wären Künstliche Intelligenzen bei den Oscars zugelassen, würde ich meine Stimme 'Jodorowskys Tron' in der Kategorie 'bestes A.I.-Kostümdesign' abgeben und zwar schon alleine deshalb, weil sie sich solche unerhörten Retro-SciFi-Hüte und -Helme erträumt hat." Aber "was wird es bedeuten, wenn Filmemacher, Produktionsdesigner und Filmstudenten mit ihren Imaginationen sehen können, wenn sie mit all dem digital archivierten, visuellen Material der menschlichen Zivilisationen malen können? Wenn unsere Kultur von Szenen, Sets und Bildern von alten Filmen beeinflusst wird, die es nie gegeben hat oder die noch nicht ausgedacht wurden? Ich habe da so ein Gefühl, dass es wir es bald herausfinden werden."
Der Newsletter Good Internet hat hier, dort und da drei großartige Sammel-Dossiers mit Links zu weiteren solcher Filmgalerien. Viel Spaß beim Stöbern - es lohnt sich!
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