Magazinrundschau

Im Fremdsein zu Hause

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
24.01.2023. Der Guardian sucht den Schlüssel zum Verständnis des heutigen Chinas in der Kulturrevolution. Tablet erklärt am Beispiel von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, was ein Zionologe ist. In Granta unterhalten sich Pico Iyer und Caryl Phillips über Migration und Heimat. Der New Yorker porträtiert Luis Lula da Silva. In Elet es Irodalom trauert Péter György um den Philosophen Gáspár Miklós Tamás.

Guardian (UK), 19.01.2023

Kaum etwas ist der Kommunistischen Partei heute so peinlich wie die Kulturrevolution, die Mao 1966 vom Zaun brach, um seine gefährdete Position abzusichern. Millionen von Teenagern hetzte er gegen ideologische Gegner und Intellektuelle auf, gegen alte Autoritäten und kulturelle Institutionen, und als selbst ihm die agitierten Horden unheimlich wurden, verfrachtete er sie aufs Land. Tania Branigan sieht in der Kulturrevolution den Schlüssel zum Verständnis des heutigen Chinas, in dem sich gnadenloser Konformismus und erbarmungsloser Individualismus verbinden: "Maos sprunghaftes Wesen, seine wechselnden Taktiken und absichtlich kryptischen Äußerungen, die politischen Intrigen an der Parteispitze, die widerstreitenden Interessen und Motive auf allen Ebenen der Bewegung, einschließlich kleinlicher Missgunst und banaler Ambitionen, die vielen Phasen, die sie durchlief, ihr schieres Ausmaß - all das macht es schwer, sie zu entschlüsseln. Selbst Chinas ideologische Brüder taten sich schwer, dieses Chaos zu verstehen: Nordkoreanische Kader verspotteten sie als 'großen Irrsinn, der weder mit Kultur noch mit Revolution zu tun hat'. In Teilen ähnelt sie den schrecklichen Völkermorden des 20. Jahrhunderts, obwohl hier die Menschen ihre eigenen Leute töteten - die Grenze zwischen Opfern und Tätern verschob sich von einem Moment zum anderen. In mancher Hinsicht erinnert sie an die stalinistischen Säuberungen, allerdings mit begeisterter Beteiligung der Massen. Im Gegensatz zu anderen Tragödien unter der Kommunistischen Partei Chinas war die Kulturrevolution allumfassend. Kein Arbeitsplatz blieb unangetastet, kein Haushalt blieb unschuldig. 'Komplizenschaft' ist ein zu kleines Wort - Genosse wandte sich gegen Genosse, Freund gegen Freund, Ehemann gegen Ehefrau und Kind gegen Eltern. Der persönliche Verrat und die abrupten Kehrtwendungen zerrissen das Gefüge Chinas, die konfuzianischen Ideale des familiären Gehorsams und die neueren kommunistischen Versprechen der Brüderlichkeit. Doch diese Ära, die das moderne China geprägt hat, ist heute weitgehend vergessen. In der Vergangenheit wurde sie zwar breiter diskutiert, aber nie frei. Die Berichte über die Schrecken dieser Zeit trugen dazu bei, die Abkehr von der sozialistischen Orthodoxie hin zum Markt zu rechtfertigen. Im Laufe der Zeit haben Angst, Schuldgefühle und offizielle Unterdrückung das Thema wieder in den Schatten gedrängt."
Archiv: Guardian

Elet es Irodalom (Ungarn), 20.01.2023

Der Tod des Philosophen Gáspár Miklós Tamás ist nach den ersten Reaktionen auf Online-Plattformen vergangener Woche das dominante Thema in allen Zeitschriften von Élet és Irodalom über Magyar Narancs und HVG bis hin zu den regierungsnahen Erzeugnissen. In Élet és Irodalom verabschiedet sich der Kunsthistoriker, Ästhet und Medienwissenschaftler Péter György von TGM: "TGM war kein simpler Kritiker des Privateigentums, sondern kritisierte jene politische Praxis, die im permanenten Versuch, die menschliche Essenz der Armen zu vernichten, bestand und bis zum heutigen Tage besteht. In der heutigen ungarischen Gesellschaft gibt es für die Armen kein Tor, durch das sie in Gegenden gelangen könnten, wo die Situation besser ist. Es gibt Regionen im Land, in denen die Armen ohne moderne Schulen, Krankenhäuser, Theater und Museen leben müssen. (...) Er dachte nie lediglich an materiellen Güter, sondern an das Recht auf Zugang zur Kultur, an die Demokratisierung des Verstehens von kulturellen Gütern. Vor einigen Monaten formulierte er bei einem Gespräch am Vormittag haarscharf: Kultur ist die demokratische Subsumierung von Wissen, Erfahrungen gegen die Unterdrückung, was das Zurückweisen der Verachtung ermöglicht und diese letztendlich unmöglich macht. Es zählt, was aus der Gemeinschaft bleiben kann. TGM ist nicht mehr, doch solange wir sind, wird er immer mit uns sein."
Stichwörter: Tamas, Gaspar Miklos, Ungarn

Granta (UK), 20.01.2023

Die Schriftsteller Pico Iyer, geboren in England als Sohn englischer Eltern, aufgewachsen in Kalifornien, und Caryl Phillips, geboren auf der Karibikinsel St. Kitts, aufgewachsen in England und heute in den USA lebend, unterhalten sich für die Online-Ausgabe von Granta über Migration und Heimat. Interessanterweise spielt Identität in ihrem Gespräch keine Rolle. Das Wort kommt überhaupt nur einmal vor, und dann auch nur als "Klassenidentität". Schmerzhaft war für beide, dass das Aufwachsen im "kolonialen Mutterland" sie von ihren Eltern entfernte: "Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob mir der Preis klar ist, den meine Eltern als Migranten gezahlt haben", sagt Phillips, "und ich glaube nicht, dass sie sich darüber im Klaren sind, wie schwierig es für uns war, in der Ära des 'Paki-bashing' und Enoch Powells aufzuwachsen. Sich über Britannien zu beschweren, hätte bedeutet, eine gewisse Art von Versagen einzugestehen, und wo bliebe dann unsere 'Heimat'? Wir haben uns zwar über Britannien beschwert, aber wir wurden ermutigt, uns auf unsere Schularbeiten zu konzentrieren und 'die Dinge in die Hand zu nehmen'. Unter diesen Umständen tat sich eine riesige Kluft des Verständnisses auf. Ich habe mich nie in Britannien 'eingelebt'. Innerhalb von zehn Jahren nach meinem Abschluss reiste und unterrichtete ich zwei Monate lang in Indien, dann fast ein Jahr lang in Schweden, dann auf St. Kitts und schließlich in den USA, um eine Stelle als Gastautor anzutreten. Welche Tür meine Eltern mir auch immer mit ihrem Akt der Migration geöffnet haben, ich bin hindurchgegangen und dann auf der anderen Seite durch eine andere Tür in die Welt hinaus. Ohne ihren anfänglichen Akt der Migration hätte ich ein solches Leben des Umherziehens und - ich wage es zu sagen - der relativen Freiheit nicht führen können." Auch Iyer ist auf der anderen Seite hinausgegangen: nach Japan, "zu dem ich immer ein mysteriöses Gefühl der Vertrautheit und in diesem Sinne der Zugehörigkeit hatte. Eine lustige Wahl, denn keine Kultur ist weniger inklusiv... Bis heute spreche ich nur begrenzt Japanisch, liebe kein japanisches Essen und habe nicht einen Tag meines Lebens an dem Ort gearbeitet oder studiert, den ich als meine geheime, tiefste Heimat betrachte. Dennoch fühle ich eine Verwandtschaft mit diesem Ort, die ich nie mit Indien, Großbritannien oder Amerika empfinden werde. Und ich kann ihn auch deshalb so gerne als Heimat bezeichnen, weil ich dort immer ein Ausländer sein werde, außerhalb des Systems - was bedeutet, dass ich gerne alle meine Tage dort verbringen würde, aber ich würde niemals Japaner sein wollen. Ich nehme an, das ist eines der merkwürdigen Phänomene bei Menschen wie Sie und ich: Ich habe nie erwartet, eine ganze Kultur zu finden, der ich angehören würde, und fühle mich gerade deshalb im Fremdsein zu Hause."
Archiv: Granta

Tablet (USA), 18.01.2023

Olaf Scholz schwieg wie üblich, als Palästinenserpräsident Mahmud Abbas Israel in einer gemeinsamen Pressekonferenz vorwarf, es habe "fünfzig Holocaust" an den Palästinensern begangen. In Izabella Tabarovskys Tablet-Artikel kann man nachlesen, woher Abbas seine Überzeugungen bezieht. Es stellt sich heraus, das Abbas ein sogenannter "Zionologe" ist, ein Wissenschaftler des Zionismus im sowjetischen Sinne. Seine in Moskau verfasste Doktorarbeit, die bis heute geheimgehalten wird, handelt von den "Beziehungen zwischen Zionisten und Nazis, 1933-1945" und besteht im wesentlichen in der Behauptung, dass der Zionismus maßgeblich mit den Nazis zusammengearbeitet habe, um den Staat Israel zu gründen. Die "Zionologie" war das maßgebliche Ideologiegebäude, mit dem die Sowjets ihren Antizionismus betonieren und propagieren wollten, er basierte auf nach links gedrehten rechtsextremen Verschwörungstheorien, die in den Siebzigern in Moskau wieder in Mode kamen und die die Propagandisten erfolgreich im "globalen Süden" verbreiteten. Tabarovsky konnte ein zwanzigseitiges Resümee von Abbas' Doktorarbeit lesen. Sie basiert im wesentlichen auf der Behauptung, dass die vereinzelte Zusammenarbeit von jüdischen Repräsentanten wie Rudolf Kasztner oder "Judenräten" mit Nazis einem zionistischen Komplott gleichkämen. Nichts davon lässt sich natürlich belegen. "Dennoch lebt diese obszöne sowjetische Erfindung weiter, auch in der heutigen israelfeindlichen Linken. Letztere hat sie so vollständig übernommen, dass eine Entlarvung der heutigen Behauptungen auch dazu dient, die ursprünglichen sowjetischen Behauptungen zu entlarven. Siehe zum Beispiel Paul Bogdanor, den Autor des ausgezeichneten Buches 'Kastner's Crime', der Ken Livingstones Behauptungen über die Zusammenarbeit zwischen Zionisten und Nazis entlarvt. Viele der Dokumente, die Livingstone, ehemaliger Bürgermeister von London und prominentes Mitglied der britischen Labour-Partei, als 'Beweis' für seine Behauptungen anführte, sind auch in der sowjetischen antizionistischen Literatur als 'Beweis' aufgeführt. Sie erscheinen in dem antizionistischen Klassiker des amerikanischen Trotzkisten Lenni Brenner von 1983, 'Zionism in the Age of the Dictators', der ebenfalls von Bogdanor entlarvt wurde. Einige von ihnen tauchen auch in der Zusammenfassung von Abbas' Dissertation auf."
Archiv: Tablet

Magyar Narancs (Ungarn), 23.01.2023

Gedrucktes Buch oder E-Book? Für die Schriftstellering Orsolya Karafiáth ist das keine Frage: "Leser bevorzugen immer noch Bücher in Papierformat. Die Schriftstellerin Zszuzsa Tamás stellt hierzu fest: 'E-Books passen meiner Meinung nach nicht zur ungarischen Mentalität, denn wir möchten unsere Güter auch besitzen, in unseren Lieblingsbüchern blättern, an ihnen riechen. Es ist sehr selten, dass jemand bewusst nur Bücher im E-Format kauft.' Dies wird auch von der Statistik bestätigt, denn im Jahre 2021 machte der Umsatz von E-Books auf dem Büchermarkt lediglich 2,1 Prozent aus. Und weiter führt sie aus: 'Mein großer Herzschmerz mit den E-Books ist der Verlust der ersten Begegnung. Wenn ich einen neuen Menschen kennenlerne, forme ich meinen ersten Eindruck anhand seiner Bücherregale: Welche Bücher stehen wo? Wie werden sie 'gehalten'? Heutzutage täuscht der Eindruck. Du betrittst eine fremde Wohnung, fälschlicherweise wirst du denken, dass der Bewohner ungebildet ist, denn er hat keine Bücher, du drehst dich um und gehst, aber  vielleicht verpasst du die Beziehung deines Lebens.' Die eigene Bibliothek ist somit kein Luxus mehr, sondern ein wichtiges und unerlässliches Utensil für die Betonung der eigenen Bildung, der Kultur und der eigenen Position in der Gesellschaft. Ein Stück Identität."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Luxus

New Yorker (USA), 30.01.2023

Auf Jair Bolsonaro gibt in Brasilien niemand mehr viel, der Angriff auf die Regierungsgebäude war kaum mehr als ein Instagram-Coup, erzählt John Lee Anderson in einer ellenlangen Reportage aus Brasilien. Und dass Bolsonaro nach Florida Reißaus genommen hat, werde weithin mit Verachtung quittiert: Es kursieren schon Fotos, auf denen Bolsonaro allein beim KFC hockt und sein Hühnchen aus der Pappschachtel mampft. Aber natürlich dröselt Anderson vor allem ausführlich Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg von Luis Lula da Silva auf, den er nicht unbedingt rückhaltlos zu bewundern scheint: "Als wir uns 2019 trafen, sprach er ausführlich über den Hunger, und bei seinen Wahlkampfauftritten im vergangenen Jahr wurde er immer emotionaler. In unserem Interview nach seinem jüngsten Sieg kam das Thema zur Sprache, als ich ihn zur Ukraine befragte. Einige Monate zuvor hatte er sich bissig über Wolodimir Selenski geäußert und wie Wladimir Putin angedeutet, dass die Vereinigten Staaten für den Konflikt mitverantwortlich sind. Offensichtlich wollte Lula das Thema beiseite schieben und sagte mir, er wolle mit Selenski und Putin und auch mit Biden sprechen, ihm gehe es nur um den 'Weltfrieden'. Bald darauf kam er auf das Thema Hunger zurück. 'Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann diese Menschen nicht verraten', sagte er mit Tränen in den Augen. 'Ich werde mit den Märkten kämpfen müssen, aber die Menschen müssen wieder essen können. Ich will nicht viel, aber die Menschen müssen wieder Hoffnung haben und einen vollen Bauch, Kaffee am Morgen, Mittag- und Abendessen.' Lula ist nach wie vor ein überzeugter Linker Lateinamerikas. Aber, wie José Eduardo Cardozo, Justizminister unter Dilma Rousseff, mir sagte: 'Lula ist kein Mann, der über Politik theoretisiert wie Lenin oder Trotzki. Er ist ein Pragmatiker, ein Gewerkschafter.' Er fügte hinzu: 'Er ist auch ein politisches Genie und ein charismatischer Mann. Unter Lula kämpft in der Partei jeder gegen jeden, aber nicht gegen ihn. So sichert er seine Macht.'"

Außerdem: Männer fallen immer weiter zurück, in Schule und Universitäten und am Arbeitsplatz. Sie werden früher arbeitslos, schneller süchtig und sterben früher. Woran liegt's, fragt Idrees Kahloon und sucht Antworten in Richard V. Reeves' Buch "Of Boys and Men: Why the Modern Male Is Struggling, Why It Matters, and What to Do About It". Elif Batuman liest russische Klassiker. Anthony Lane sah im Kino Jesse Eisenbergs Regiedebüt "When you finish saving the world".
Archiv: New Yorker