Magazinrundschau

Mit gewissenhafter Höflichkeit

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
31.01.2023. Ohne den Glauben an die Möglichkeit von Veränderungen gibt es keine Opposition, lernt das New York Magazine von dem chinesischen Dissidenten Wang Juntao. Die London Review ist überzeugt, dass repräsentative Demokratie in Mali nicht funktionieren kann. Respekt freut sich über den Wahlsieg des neuen tschechischen Präsidenten Petr Pavel. In Elet es Irodalom erklärt die Schriftstellerin Krisztina Tóth, warum die Jungen besser Lyrik und die Alten besser Epen schreiben. Frankreich bleibt leider eine Metropole des Antisemitismus in Europa, erkennt La regle du jeu. Der Guardian betrachtet die Unordnung im Botanischen Garten von Ventnor.

New York Magazine (USA), 30.01.2023

Opposition, und dann noch in einem ziemlich hoffnungslosen Fall wie China, ist nicht nur mutig und kräftezehrend, es beschädigt die Menschen oft auch, muss Christopher Beam in seiner Reportage über den im amerikanischen Exil lebenden chinesischen Regimekritiker Wang Juntao feststellen. "Wie bei jedem guten Aktivisten war Juntaos Superkraft immer seine Fähigkeit zu sehen, was andere nicht sehen - sich die Welt anders vorzustellen, als sie ist. Aber diese Fähigkeit hat auch eine Kehrseite. An einem Punkt gab Juntao zu, dass er sich selbst einreden kann, was er für wahr hält. 'Manchmal verwechseln Leute wie ich den subjektiven Eindruck mit der objektiven Realität', sagte er. 'Wenn wir glauben, dass etwas wahr ist, beruht das in Wirklichkeit auf unserer Hoffnung und nicht auf der Realität.'" Das kann manchmal zu Verfolgungswahn führen, aber ohne diese Hoffnung geht es eben auch nicht: "Als er noch in China lebte, steckte ihn das kommunistische Regime zweimal ins Gefängnis, und seit Jahrzehnten hat er nur begrenzten Kontakt zu seiner Familie, um sie vor offiziellen Schikanen zu bewahren. 'Die chinesische Regierung nimmt deine Verwandten in Beschlag', sagt er. 'Wenn du sie liebst, musst du so tun, als würdest du sie nicht lieben.' In Flushing waren einige seiner Mitstreiter bereits über 70 und 80 Jahre alt, und jedes Mal, wenn sie sich versammelten, schien ein weiterer Platz leer zu bleiben. In der Zwischenzeit erinnern die Nachrichten aus China ständig an die zunehmend autoritäre Herrschaft der Kommunisten, von Internierungslagern in der Provinz Xinjiang bis hin zur Massenüberwachung mit Hilfe von Gesichtserkennungstechnologie. Fast drei Jahrzehnte lang hat Juntao im Exil den Traum von einer demokratischen Revolution in China aufrechterhalten, aber er ist der Verwirklichung dieses Traums nicht näher gekommen." Dann wurde sein engster Freund und Kollege im Minyun, Jim Li, ermordet und ein Bekannter der Spionage beschuldigt. Doch Wang Juntao blieb optimistisch. Und dann wurde "unglaublicherweise seine Vorhersage wahr. Nachdem im November zehn Bewohner eines Wohnhauses in Ürümqi bei einem Brand ums Leben gekommen waren, flammte das chinesische Internet mit Anschuldigungen auf, Xis strenge 'Null COVID'-Politik habe es ihnen schwer gemacht, dem Feuer zu entkommen. Demonstranten füllten die Straßen im ganzen Land, von der Industriestadt Zhengzhou bis zur Tsinghua-Eliteuniversität in Peking. Einige forderten den Rücktritt von Xi. Es war eine furchtlose Rhetorik, wie es sie seit Tiananmen nicht mehr gegeben hat, und schockierend für jeden, der beobachtet hat, wie China Wachstum über politische Freiheit stellt und abweichende Meinungen unterdrückt. Die Kundgebungen widerlegten alles, was die Zyniker zu wissen glaubten. ... Juntaos Plattitüden über die Aufrechterhaltung der demokratischen Flamme in den dunkelsten Stunden fühlten sich plötzlich wahr an. Und obwohl politische Analysten darauf hinwiesen, dass der zivile Ungehorsam nur von begrenzter Tragweite war, hatte eine neue Generation die Lektion gelernt, die Juntao sein Leben lang zu vermitteln versucht hatte: dass Veränderungen immer möglich sind."

Elet es Irodalom (Ungarn), 27.01.2023

Im Interview mit Claudia Hegedűs erklärt die Dichterin und Schriftstellerin Krisztina Tóth, worauf des ihr beim Schreiben ankommt:"Alle Romanfiguren haben sensible Punkte. Es ist aber eine vollkommen andere Frage, ob es für die Schriftstellerin etwas gibt, was für sie ungreifbar ist. Ich würde sagen, dass ich stets versuchen muss jenes Buch zu schreiben, welches ich nicht kann. Ich muss stets in jene dunkelste Tiefe greifen, die ich nicht erreiche, wo es keine Luft mehr gibt. Das Gedicht ist anders, dort kann der Atem eingeteilt werden, du siehst die Entfernung. Es ist jedoch interessant, dass mit den zunehmenden Jahren weniger Gedichte entstehen. Ich habe mich mal mit der Dichterin und Schriftstellerin Ágnes Gergely darüber unterhalten, die dies ebenfalls beobachtete. Sie meinte, dass das Gedichteschreiben tief mit unserer hormonellen Funktion zusammenhängt. Das Gedicht ist explizit und heftig, wie die Jugend. Epik ist langsamer. Dort muss mit dem gearbeitet werden, was am wenigsten, am schwierigsten erreichbar und am unberuhigendsten ist. Als Schriftstellerin will ich meinen eigenen Avatar an die dunkelsten Orte begleiten."

The Verge (USA), 26.01.2023

Alle großen Tech-Firmen in den USA werfen gerade in rauen Mengen Leute raus - obwohl sie in den letzten beiden Jahren pandemiebedingt erhebliche Profitsteigerungen zu verzeichnen hatten. Elizabeth Lopatto sucht Antworten für dieses paradoxe Manöver:  "Die Investoren bewerten Firmen heute anders, erklärt Michael Cusumano, der stellvertretende Dekan an der MIT Sloan School of Management. Grundsätzlich ist es so: Wenn Firmen sehr schnell wachsen - etwa 20 bis 30 Prozent mehr Umsatz pro Jahr -, dann schaut niemand auf den Gewinn. Aber wir befinden uns in keiner Wachstumsphase mehr, also verhalten sich die Investoren vorsichtiger. Tech-Firmen haben 'insgesamt zig Milliarden, oft Hunderte Milliarden Dollar als Reserven', sagt Cusumano. 'Aber sie nutzen diese nicht, um das laufende Geschäft zu stützen.' Wenn ein Investor eine Bilanz liest, dann denkt er nicht an diese Reserven. Ein Maßstab, den die Leute nutzen, um den Investitionswert von Tech-Firmen zu ermitteln, ist der Umsatz pro Mitarbeiter - und da sie alle während der Pandemie zahlreiche Mitarbeiter angeheuert haben, bedeutet dies, dass der Posten Umsatz pro Mitarbeiter ziemlich niedrig ist. Softwarefirmen wie Microsoft sollten etwa 500.000 Dollar Umsatz pro Mitarbeiter aufweisen - oder wenigstens ein Minimum von 300.000 Dollar. 'Höher darf es sein, aber wenn der Wert darunter fällt, machen sich die Leute Gedanken, ob sie zu viele Angestellte haben. Darauf blicken sie jährlich oder sogar quartalsweise."
Archiv: The Verge
Stichwörter: IT-Branche, Microsoft

La regle du jeu (Frankreich), 26.01.2023

Frankreich bleibt leider eine Metropole des Antisemitismus in Europa. Dass Organisationen wie der "Service de Protection de la Communauté Juive" (SPCJ) leicht rückgängige Zahlen über antisemitische Taten veröffentlicht, bedeutet keine Entwarnung, schreibt Marc Knobel: "Es muss daran erinnert werden, dass mehrere Dramen die jüdische Gemeinschaft im Jahr 2022 tief erschüttert haben, insbesondere ein als antisemitisch eingestufter Mord (der 13. Mord seit den 2000er Jahren), bei dem ein 89-jähriger Mann jüdischen Glaubens von seinem Nachbarn aus dem Fenster gestoßen wurde. 'Es wäre skandalös, sich über die Zahlen in einem Jahr zu freuen, in dem wir den antisemitischen Mord an René Hadjadj in Lyon miterlebt haben', stellt Anne-Sophie Sebban-Bécache fest. Von Le Point befragt, erwähnt die Direktorin des AJC-Paris, des französischen Büros des American Jewish Committee (AJC), zwei weitere Todesfälle: den Tod von Jeremie Cohen in Bobigny, der brutal angegriffen wurde, bevor er von einer Straßenbahn erfasst wurde, als er versuchte, seinen Angreifern zu entkommen, und den Mord an Liyahou Haddad in Longperrier, der von einem Nachbarn mit einer Axt erschlagen wurde. 'Man muss sich nur daran erinnern, was mit Sarah Halimi geschah, die aus dem Fenster gestürzt wurde, nachdem der Täter sie gefoltert hatte', erinnert die Aktivistin. Tatsächlich wirft diese Besonderheit der antisemitischen Gewalt Fragen auf. Die Akte sind oft ebenso unvorhersehbar wie gewalttätig. Sie hinterlassen Spuren und Nachwirkungen. Ein Rückgang der Taten von einem Jahr zum anderen reicht nicht aus, um die Tragweite dieser Gewalt zu mindern und ihre Gefährlichkeit zu relativieren."
Archiv: La regle du jeu

London Review of Books (UK), 02.02.2023

Nach drei Staatsstreichen scheint Mali unregierbar geworden zu sein. Die Militärjunta dient sich Russland an und verhöhnt den Westen. Rahmane Idrissa will das westafrikanische Land dennoch nicht aufgeben: "So wie die Verherrlichung der malischen Demokratie durch den Westen übertrieben war, so könnte es auch die derzeitige Enttäuschung darüber sein", meint er. "2021 führte das Büros des Niederländischen Instituts für Mehrparteiendemokratie in Bamako eine anspruchsvolle landesweite Umfrage durch und schloss dabei auch viele von Dschihadisten kontrollierte Gebiete ein, um die Einstellungen zur Demokratie zu untersuchen. Ich bekam eine Zusammenfassung der Ergebnisse. In der Umfrage wird Mali in 'Kulturregionen' unterteilt, definiert durch Geschichte und Geografie - ein besseres Modell als ethnische Zugehörigkeit. In jeder Region stellte das Institut eine weit verbreitete Abneigung gegen die repräsentative Demokratie und ihr Prinzip 'ein Mensch, eine Stimme' fest. Mein erster Gedanke war, dass sich hier eine reaktionäre Ansicht zeigte, die auf dem Glauben beruhte, dass einige Stimmen mehr zählen sollten als andere. Doch tatsächlich ergibt 'ein Mensch, eine Stimme' für Malier keinen Sinn, weil damit der Glaube einhergeht, dass die Mehrheitsmeinung der einzige Weg ist, in einer komplexen, heterogenen Gesellschaft über schwierige Fragen der Gerechtigkeit und Macht zu entscheiden. Der Grundsatz der Gerechtigkeit in den alten Sahel-Regimen, auch wenn er oft genug verletzt wird, lautet, dass jeder etwas bekommen muss und niemand mit leeren Händen dastehen darf. Die hartnäckigste Kritik an der Wahldemokratie in der Region - nicht nur in Mali, sondern auch in Niger und Burkina - besteht darin, dass sie zu Ausgrenzung führt und die Unterlegenen von jeglicher Teilhabe an Wohltaten oder den Entscheidungen ausschließt, während die Gewinner sich über den Sieg von 'notre régime, notre pouvoir' freuen. Im Westen sind die Herrschaft der Mehrheit und das Ritual des gnädigen Eingestehens der Niederlage Teil der politischen Kultur (oder waren es früher). Für die Menschen im Sahel sind sie ein Rezept für Konflikt und Spaltung."

Ausführlich beschäftigt sich Jonathan Rée mit Leben und Denken des Erzliberalen Friedrich Hayek, dem Bruce Caldwell und Hansjoerg Klausinger eine zweiteilige und offenbar sehr instruktive Biografie widmen. Am Ende seines Lebens habe der verbitterte Hayek Reagan, Thatcher und Pinochet nahegestanden, räumt Rée ein, aber er sei nie so ein Fundamentalist des Marktes gewesen wie Ludwig Mises oder Milton Friedman, das hätten schon seine frühen britischen Gegner in den vierziger Jahren falsch eingeschätzt: "'Der Weg zur Knechtschaft' wurde nicht von vielen gelesen, aber seine schärfsten Argumente - dass Sozialisten besessen seien von 'zentraler Lenkung aller wirtschaftlichen Aktivitäten nach einem einzigen Plan' und dass sie 'Totalitaristen' seien, die die liberalen Grundlagen der 'westlichen Zivilisation' zerstören wollten - waren bald berüchtigt, und sein Autor ('der schreckliche Dr. Hayek', wie Isaiah Berlin ihn nannte) wurde weithin als Verletzung eines wohlmeinenden nationalen Konsenses angesehen. George Orwell lobte Hayek für den Mut, 'unmodisch' zu sein, zeigte sich aber ansonsten unbeeindruckt. Wir wissen bereits, so Orwell, dass der Kollektivismus nicht von Natur aus demokratisch ist'; aber wir wüssten auch, dass der Laissez-faire-Kapitalismus 'eine Tyrannei beinhaltet, die wahrscheinlich schlimmer, weil unverantwortlicher ist als die des Staates'. Hätte Orwell den 'Weg zur Knechtschaft' genauer gelesen, hätte er vielleicht mehr Sympathien gehabt. Ihm wäre in erster Linie aufgefallen, dass Hayek ein 'dogmatisches Laissez-faire' ablehnt... Er hätte sicherlich auch Hayeks Unterstützung für staatliche Interventionen begrüßt, die darauf abzielen, 'Mobilität' zu fördern, 'Chancenungleichheit' zu verringern und sogar 'Wissen und Information' zu verbreiten. Orwell hätte vielleicht auch anerkannt, dass Hayek darauf achtete, seine sozialistischen Gegner mit gewissenhafter Höflichkeit anzusprechen, indem er nicht von Bosheit oder Torheit sprach, sondern von der 'Tragödie', die einträte, wenn wir 'unwissentlich das genaue Gegenteil von dem produzieren, was wir anstreben'. (Der Sozialismus, sagte er, 'kann nur mit Methoden verwirklicht werden, die die meisten Sozialisten missbilligen'). Hayek machte auch die bemerkenswerte Beobachtung, dass ein Land, das sich den Sozialismus zu eigen macht, zumindest in dem Maße, in dem es all seinen Bürgern das Recht auf einen komfortablen 'Lebensstandard' einräumt, wahrscheinlich einem fremdenfeindlichen Nationalismus erliegt."

Respekt (Tschechien), 29.01.2023

Auch wenn der tschechische Staatspräsident überwiegend repräsentative Funktionen ausübt, sind sich viele Medien über die gewichtige Bedeutung der aktuellen Präsidentschaftswahl einig, bei der die Tschechen mit klarer Mehrheit und einer beachtlichen Wahlbeteilung von 70 Prozent dem populistischen Ex-Premier Andrej Babiš eine Klatsche erteilten und seinen europafreundlichen, prowestlichen Herausforderer Petr Pavel wählten. "Eine historische Chance", titelt etwa das Respekt-Magazin, und gleich darunter: "Der Populismus hat verloren." Babiš hatte zuletzt noch eine schmutzige Fake-News-Kampagne gefahren, in der er behauptete, sein Rivale - ein ehemaliger Militär - werde die Tschechen in den Krieg ziehen, er selbst aber stehe für den Frieden. So billig ließen sich die Tschechen aber nicht kaufen. "Die Tatsache, dass sich die Tschechen in schwierigen Zeiten nicht auf Verführung und Angstmache einließen, verdient Anerkennung", so Chefredakteur Erik Tabery. "Einstweilen haben wir in einer chaotischen Zeit einen festen Punkt gefunden." Auch sein Kollege Marek Švehla betont im selben Magazin die Symbolik: "Auf die Prager Burg kommt nicht ein KSČ-Mitglied und Teilnehmer an Spionagekursen" [wie Babiš seinem Kontrahenten vorgeworfen hatte]. "Es kommt ein ausgedienter Nato-General, der sogar wichtige Funktionen innerhalb der Allianz innehatte. Die [Samtene] Revolution ist also symbolisch noch nicht vorbei, sondern dauert an (…) Pavel ist nämlich ein Vorzeigeprodukt der Veränderungen von 1989, als jeder die Möglichkeit erhielt, die Grundwerte eines neuen freiheitlichen Staates zu verinnerlichen und sie im Rahmen seiner Möglichkeiten weiterzuentwickeln."
Archiv: Respekt

Guardian (UK), 26.01.2023

Mark O'Connell erzählt von einem Kulturkampf, der in dieser Unnachgiebigkeit wahrscheinlich nur auf der Isle of Wight geführt werden kann: Der Kampf um den Botanischen Garten von Ventnor. Vor zehn Jahren kaufte ihn der Bostoner Anwalt John Curtis, der seinen Stammbaum bis zu den ältesten Familien von Massachusetts und Connecticut zurückführen kann, den die Engländer der Kanalinsel aber nur als amerikanische Geschäftsmann verachten, seit er eine gärtnerische Praxis einführte, die er als Ventnor Methode anpreist: "Ohne die strenge Aufsicht eines typischen Botanischen Gartens dürfen die Pflanzen in Ventnor wachsen, wo immer sie sich selbst aussäen. Dank des Mikroklimas des Gartens können Arten, die in Australien, Südafrika und im Mittelmeerraum beheimatet sind und die auf dem britischen Festland zugrunde gehen würden, in Ventnor ohne große Eingriffe gedeihen. Und genau dieser Ansatz eines gewissen Laissez-faire bei der Pflege des Gartens ist der Kern der Kontroverse. Curtis und sein Team behaupten, dass sie von unnötigen Eingriffen absähen; seine Kritiker meinen, dass sie den Garten in Wirklichkeit furchtbar und katastrophal vernachlässigten und der Ort infolgedessen zu einem unansehnlichen Durcheinander verkommen sei. Letztes Jahr erklärte ein ehemaliger Kurator von Ventnor, die Anlage sei entwertet, dass sie 'den Titel botanisch nicht mehr verdiene'... Ziel der Ventnor-Methode ist es, so genannte 'synthetische Ökosysteme' zu schaffen, die einer natürlichen Umgebung ähnlicher sind als ein typischer botanischer Garten. Laub verrottet dort, wo es liegt; herabgefallene Äste werden, solange sie keine Stolperfallen für die Besucher darstellen, unberührt gelassen. Curtis und sein Chefgärtner, der Kurator von Ventnor, Chris Kidd, sagen, dass dies eine natürliche Methode sei, um dem Boden Nährstoffe zuzuführen. All dies geschehe im Namen der Nachhaltigkeit, denn der intensive Ressourcenverbrauch, den die traditionellen Methoden des botanischen Gartens erfordern, sei angesichts der sich verschärfenden Klimakrise nicht mehr vertretbar." Ganz abgesehen davon, dass diese Methode sehr viel weniger Personal braucht.
Archiv: Guardian

HVG (Ungarn), 26.01.2023

Im Interview mit Lin Dóra Mata spricht der Regisseur György Mór Kárpáti über den unabhängigen ungarischen Film. "Möglicherweise denken heutige Kulturpolitiker, sie wüssten, was das Land braucht, doch die Wirklichkeit ist bunter. Ich hoffe, dass sie irgendwann begreifen, dass eine ungarische Filmkultur nur existieren kann, wenn unterschiedliche Filme entstehen können. (…) Dass unabhängige Filme nur durch Freundschaftsdienste und unentgeltliche Arbeit entstehen, ist nicht normal. Doch wenn ich es seit zwanzig Jahren so mache, kann ich damit nicht von heute auf morgen aufhören. Wenn das so weitergeht, kann es aber passieren, dass mein nächster Film nicht in einem Sommercamp mit zwanzig jugendlichen Protagonisten spielt, sondern in einem einzigen Raum mit drei. Einige meiner Kollegen haben ihre Filme vor kurzem ebenfalls unter solchen Umständen beendet. (…) Die Zuschauer müssen verstehen, dass dies jetzt Armenfilme sind, die sich nicht mit der unglaublichen Auswahl zum Beispiel bei Netflix messen können. Diejenigen, die den ungarischen Film lieben, müssen wachsam sein, denn für das Marketing dieser unabhängigen Filme gibt es ebenfalls wenig Geld, so dass sie die Zuschauer kaum erreichen. Es ist eine gewaltige Aufgabe für die Kino- und Filmklubbetreiber, für die Vertreiber und für die Zuschauer, die alle die Nachrichten über diese Filme untereinander teilen sollen."
Archiv: HVG

Tidal (USA), 19.01.2023

Wer vom Verfassen von Texten lebt, blickt gerade wie in Schockstarre auf die K.I.-Software ChatGPT, die zumindest auf den ersten Blick in der Lage ist, nach entsprechender Vorgabe stilistisch und inhaltlich konsistente Texte auszuwerfen. Zumindest seine eigene Zunft darf sich aber entspannt zurücklehnen, prophezeit der Musikjournalist und Pophistoriker Simon Reynolds im Magazinteil des Streamingdienstes Tidal : Sein Experiment, sich von ChatGPT einen im Stil von Simon Reynolds verfassten Artikel darüber ausspucken zu lassen, ob ChatGPT eine Bedrohung für den Musikjournalismus darstellt, führte zu argumentativ passablen, aber stilistisch und inhaltlich äußerst lauwarmen Ergebnissen - "nicht gerade vielversprechende Eigenschaften eines Kritikers. Die Gleichförmigkeit ist wahrscheinlich der maßgebliche Defekt, wenn es um die Frage geht, ob ein Chatbot Leute wie mich überflüssig machen kann. Nachdem ich die Software darum gebeten habe, eine geharnischte Kritik eines bestimmten Albums zu verfassen, produzierte sie lediglich die sittsame Erwiderung: 'Ich bin nicht dafür programmiert, negative Kritiken zu verfassen.' ... Auch "wenn es darum geht, die Zutaten grundlegend herauszulesen und vorzubereiten, ist dieses Programm weit davon entfernt, unfehlbar zu sein. Auf die Bitte, das politische Echo von 'Still Ill' von den Smiths zu diskutieren, bezog es sich auf ein nicht-existentes Video zu dem Song, der nie als Single ausgekoppelt wurde. Noch besorgniserregender war der Umstand, dass es Nia Archives, eine junge schwarze britische Singer-Songwriterin und Produzenten, die ihre Stimme mit Drum-&-Bass-Rhythmen verflicht, mit Nia Andrews verwechselte, einer schwarzen amerikanischen Singer-Songwriterin und Produzentin. Versuche, das Programm dazu zu bringen, Bob Dylans 'The Philosophy of Modern Song' zu besprechen, führten einmal dazu, dass es das Buch für ein Album hielt. ... Als ich es unvermeidbarer Weise nach einem Kommentar zu meinem eigenen Schaffen befragte, erfuhr ich, dass ich 'The Blissed-Out Guide to Trance' verfasst habe, ein Buch, das es nicht gibt. Eine separate Anfrage über 'Rockismus' offenbarte, dass das Konzept von Simon Reynolds erfunden wurde. Das stimmt zwar nicht, aber für einen Moment war ich beinahe davon überzeugt, dass das Programm ungeschickt versuchte, mir Honig ums Maul zu schmieren. ... Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge dürften professionelle Texte also wenig Anlass zur Sorge haben. Deutlich anders sieht es bei den Lehrern aus: Eine Künstliche Intelligenz kann mühelos eine gute Hausarbeit zu jedem beliebigem Thema ausspucken - mit besserer Grammatik und besserer Rechtschreibung als die meisten Studenten um die 20 sie hinbekommen. Aber das Fingerspitzengefühl und die pikanten Ausschmückungen eines aufrichtigen Enthusiasmus, die einen Essay in die Spitzenklasse heben, liegen weit jenseits ihrer Möglichkeiten."
Archiv: Tidal