Magazinrundschau
Das Genre des Klassenabtrünnigen
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
14.02.2023. Wie französisch kann ein Tunesier werden, fragt Africa is a Country. The Nation denkt am Beispiel von Edouard Louis nach, wie man gleichzeitig drinnen und draußen sein kann. Eurozine erklärt, wie man Russisch sprechen und doch ein Ukrainer sein kann. Tablet stellt den israelischen Autor Youval Shimoni vor, Quietus die Jazzfotografin Francine Winham. In HVG spricht die Historikerin Anita Kurimay über die queere Subkultur in Ungarn. Die London Review erinnert an den großen Passfälscher Adolpho Kaminsky.
Africa is a Country | London Review of Books | Guernica | The Nation | HVG | Eurozine | Tablet | Quietus | Hlidaci pes
Africa is a Country (USA), 31.01.2023

Guernica (USA), 30.01.2023
Die Künstlerin und Architektin Cheryl Wing-Zi Wong hat eine Skulptur, "Current", neben dem Fuß- und Fahrradweg auf der erneuerten Tappan Zee Bridge über den Hudson River errichtet. Sie besteht aus zwölf Stahlbögen mit Glasflossen an den Spitzen der Bögen und LED-Leuchten an der Innenseite jedes Bogens. Denn, das ist das Wichtigste, "Current" ist eine interaktive, sich ständig ändernde Skulptur, so Wong im Gespräch mit Hua Xi, die gemeinsame Erfahrungen schaffen soll: "Tagsüber spiegelt sich das Sonnenlicht auf der Skulptur und in den zweifarbigen Glaslamellen, die je nach Tageszeit unterschiedliche Farben erzeugen. Auch die Schatten der Bögen, die auf dem Platz um die Skulptur herum tanzen, sorgen für Veränderungen. In der Dämmerung gehen die eingelassenen Lichter an und Lichtanimationen reagieren auf Bewegungen auf den Wegen, als würden die Vorbeigehenden auf den Tasten eines Klaviers spielen. Im Laufe der Jahres- und Tageszeiten ändert sich das immer wieder. ... 'Current' ist immer im Fluss, was besonders in den verschiedenen Jahreszeiten deutlich wird. Die Reaktionen können unvorhersehbar sein, besonders tagsüber, je nachdem, wo man steht und von wo aus man das Werk betrachtet. In jedem Augenblick, Sekunde für Sekunde, selbst wenn man nur einen Schritt nach links oder rechts macht, gibt es Nuancen."
Beim Einstellen des ersten Absatzes ist uns zufällig aufgefallen, dass in unserem Redaktionssystem noch ein Absatz zu Guernica vom Mai 2018 schlummert, den wir versehentlich nie veröffentlicht haben. Aber das Thema - Armut und Klassengesellschaft - ist noch so aktuell wie damals, darum veröffentlichen wir ihn eben heute: Auch mit sechzig Jahren ist Dorothy Allison so kampfeslustig und nonkonformistisch wie eh und je, freut sich Amy Wright, beim Schreib-Workshop an der Uni in Tennessee lautet die erste Aufgabe gleich: "Schreiben Sie etwas Unangebrachtes." Doch im Interview spricht Allison vor allem über die in den USA stets geleugnete Klassenstruktur, über Armut und Beschämung: "Kennen sie die berühmten Bilder aus dem Süden, auf denen Kinder mit schmutzigen Gesichtern stehen, alle mit dem Finger im Mund? Die reden nicht, weil sie nicht wissen, was sie sagen dürfen oder wie sie sich benehmen sollen. Wer arm ist, weiß immer, dass er als Person nicht so wertvoll ist wie jemand, der leicht und ungezwungen reden kann. Der Begriff der Klasse ist eigentlich ein Mittel zu Empowerment. Als ich marxistische Theorie las, war es, als hätte mir jemand eine Schaufel gereicht. Man konnte etwas tun. Man konnte sich aus dem Loch herausgraben. Man konnte sich verteidigen, denn nicht so wichtig zu sein wie andere, heißt, ständig in Gefahr zu sein. Aber um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bin in einer gewalttätigen Arbeiterfamilie in den Südstaaten aufgewachsen. Kaum jemand war auf der High School. Als ich meinen Abschluss machte, galt ich als Freak. Für all meine Cousins stand fest, dass sie entweder Mechaniker werden oder zur Armee gehen. Mehr gab's nicht, außer noch die dritte Option, die den meisten dann auch widerfuhr, und das war der Knast."
The Nation (USA), 27.02.2023

HVG (Ungarn), 09.02.2023

Eurozine (Österreich), 13.02.2023

Tablet (USA), 13.02.2023

Quietus (UK), 11.02.2023

Hlidaci pes (Tschechien), 10.02.2023

London Review of Books (UK), 16.02.2023

Literaturtheoretiker Terry Eagleton denkt in einer Rezension von Peter Brooks' "Seduced by Story: The Use and Abuse of Narrative" über den Begriff des Narrativen und die Narration als grundlegende Struktur nach. Eagleton stört sich an der Verwässerung des Begriffs, der in viele Disziplinen und auch in den Alltagsgebrauch eingezogen ist. Und Brooks traue dem Konzept auch viel zu viel zu: "Brooks' zufolge ist eine der wertvollsten Funktionen fiktionaler Narrative, dass sie Mitgefühl mit anderen erzeugen können. Mit unserer Vorstellungskraft könnten wir unser Erleben auf Menschen projizieren, die uns ansonsten undurchschaubar blieben und die Literatur könne uns zeigen, wie das geht. Fiktionalität sei das Gegengift zum Egoismus, sie lasse uns die Welt mit fremden Augen sehen. Im echten Leben ist unsere vermeintliche Unergründlichkeit für Andere damit aber überschätzt. Wir sind sprachlich-kommunikative Wesen, wir können mittels der Sprache jederzeit Einblicke in uns fremde innere Empfindungen erhalten."
Weiteres: James Wolcott verfolgt mit Andrew Kritzman die Zersetzung des Rudy Giuliani. Bee Wilson sieht Paul Newman in die blauen Augen.
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