Magazinrundschau

Ökonomie des Schmerzes

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
14.03.2023. The Point beschreibt, wie wir aus der Phase der Postpolitik in eine der Hyperpolitik glitten. Die LRB balanciert mit der Dirigentin Alice Farnham auf dem schmalen Grat zwischen Macht und Ohnmacht. Die NYRB begibt sich in das Herz des neuen Narco-Staats Syrien. Osteuropa untersucht das Versagen der russischen Geheimdienste. Atlantic ahnt, dass gerechte Sprache vor allem die Gefühle derjenigen schonen soll, die sie benutzen. The Nation wirft die blutigen Ballettschuhe in die Ecke.

The Point (USA), 22.02.2023

Der Historiker Anton Jäger unternimmt einen interessanten Versuch, mit Fotografien von Wolfgang Tillmans und Romanen von Annie Ernaux, Didier Eribon und Michel Houellebecq die Wandlung des Politischen nach dem Mauerfall zu deuten. Die 90er waren eine total unpolitische Zeit, meint er mit Tillmans: Alle versanken in ihren privaten Utopien, Ideologien hatten abgewirtschaftet. Belächelt wurde, wer Politik ernst nahm. Die Phase der Post-Politik begann. Seit dem Finanzcrash 2008 hat sich das immer mehr geändert: Mehr Amerikaner als je zuvor sind zur letzten Kongresswahl gegangen, die Briten hatten eine Rekordbeteilung bei der Brexitabstimmung. Gleichzeitig haben die Parteien immer mehr Mitglieder verloren, dafür können Bewegungen wie Black Lives Matter oder Umweltaktivisten wie Fridays for Future und die "Letzte Generation" Hunderttausende motivieren. Die Postpolitik geht in eine Hyperpolitik über, in der der Populismus blüht und jeder - oft geprägt von seiner "Identität" - seine eigene Krise findet, die er bekämpft: "Heute ist wieder alles politisch, und zwar mit Nachdruck. Aber trotz der grenzenlosen Leidenschaften, die einige unserer mächtigsten Institutionen - von Kunstinstituten über politische Parteien bis hin zu supranationalen Gremien - übernehmen und umgestalten, sind nur sehr wenige Menschen in die Art von organisierten Interessenkonflikten verwickelt, die wir einst im klassischen Sinne des zwanzigsten Jahrhunderts als 'Politik' bezeichnet hätten. Der Neoliberalismus wird nicht durch eine wiederauflebende Sozialdemokratie abgelöst; die Globalisierung zerfällt nicht in eine 'Deglobalisierung', und der Wohlfahrtsstaat kehrt nicht zu seiner klassischen Nachkriegsform zurück. Wie ist diese neue Periode zu verstehen? Eine sofortige Analyse ist immer gefährlich. Wie eine Hochgeschwindigkeitskamera läuft auch die Zeitgeschichte Gefahr, der Fluidität und Unbestimmtheit der Situation zum Opfer zu fallen, die sie einzufangen versucht, eingekeilt zwischen impressionistischem Detail und großer Abstraktion. Es ist sicherlich schwierig, eine 'Geschichte der Gegenwart' zu schreiben, wenn die Gegenwart selbst so diffus geworden ist: Ähnlich wie die marxistische Geschichtstheorie in einem Zeitalter nach der Geschichte als obsolet empfunden wurde, ist uns die sich entfaltende 'Polykrise' in ihren gewaltigen Abstraktionen immer einen Schritt voraus: 50 Prozent Rückgang des BIP, 30 Prozent Arbeitslosigkeit, fünf Billionen Dollar Konjunkturprogramm, fünfzehn Millionen verlorene Arbeitsplätze. 'Geschichte' und 'Politik' finden eindeutig statt - aber können wir überhaupt noch sagen, was 'Geschichte' und 'Politik' bedeuten?"
Archiv: The Point

London Review of Books (UK), 16.03.2023

Dirigieren ist Macht: Der maestro kristallisiert die für ihn stimmende Bedeutung der Musik, ihre Essenz, heraus und hält die Fäden der Interpretation in der Hand, lernt Nicolas Spice nicht nur von Tár, bei den Oscars am Wochenende leer ausgegangen, sondern auch von den Erfahrungen der britischen Dirigentin Alice Farnham, "In Good Hands", und Wagners neu ins Englische übersetzten Essays übers Dirigieren: Den Löwenanteil der Arbeit erbringen die Instrumentalisten, die eigentlich wissen, dass sie auch ohne Leitung gute Ergebnisse erzielen können. Diese heimst aber letzten Endes die Lorbeeren ein. Ein feines Balancieren zwischen Macht und Ohnmacht zeichnet diese Rolle aus: "Gegenüber einer Gruppe der besten Musiker der Welt hat man nur einen kleinen Rahmen, innerhalb dessen man sich ihren Respekt verschaffen kann. Über der ersten Probe steht immer die Frage: 'Was denkst du, wer du bist?' Man muss zeigen, dass das eigene Gehör überragend ist, dass die Einsichten apart und profiliert sind, dass der Rhythmus stimmt, dass man in der Lage ist, musikalisch aufsehenerregende Resultate in kürzester Probenzeit aus komplexen Stücken herauszuholen. Man sollte nur dann sprechen, wenn man wirklich etwas zu sagen hast (einem berühmten Dirigenten, neu bei den Wiener Philharmonikern, wurde gesagt 'jedes Wort ist ein Nagel in deinem Sarg'), und alles, was man sagt, muss schon an der Gestik abzulesen sein."

John Lanchester liest Chris Millers Geschichte des Mikrochips und ihm eröffnet sich damit eine Erzählung von sublimer Technologie und ökonomischer Kriegsführung: Nur eine niederländische Firma, ASML, beherrscht überhaupt das Verfahren, Silizium mithilfe ultravioletter Lithografie auf die Chips zu ätzen, nur Intel, TSCM und Samsung können Hochleistungschips herstellen. Das von Präsident Joe Biden verhängte Exportverbot trifft China hart, denn einen Kalten Krieg haben die USA mithilfe der Mikrochips schon gewonnen: "Die Sowjetunion verfügte über mehr Männer und Material, so dass die USA sich darauf verlegten, diese Vorteile durch überlegene Technologie auszugleichen: Sie haben mehr Männer und mehr Material, aber unsere Waffen treffen das Ziel - das war die Idee, und das erste Mal konnte man sie im Golfkrieg 1991 in der Praxis sehen. Dieser erste erstaunliche Schwall von Bomben und Marschflugkörpern beim Angriff auf Bagdad, den niemand, der ihn live im Fernsehen verfolgt hat, je vergessen wird, beruhte auf einer enormen technologischen Überlegenheit, die wiederum auf dem allgegenwärtigen Mikrochip beruhte. Wie Miller es ausdrückt, 'war der Kalte Krieg vorbei; das Silicon Valley hatte gewonnen'. Das wäre nicht passiert, wenn die Sowjetunion in der Lage gewesen wäre, mit der amerikanischen Chipproduktion gleichzuziehen. Dass ihr dies nicht gelang, lag zum Teil daran, dass die Sowjetunion seit William Shockleys erstem Durchbruch auf Industriespionage angewiesen war, um mit den USA Schritt zu halten. Eine ganze Abteilung des KGB war auf das Stehlen und Kopieren von US-Chips spezialisiert. Das Problem war, dass die Fortschritte in der Mikrochip-Industrie so rasant waren, dass man, wenn man einen bestehenden Chip erfolgreich kopiert hatte, weit hinter dem Stand der Technik zurücklag. Gordon Moore hatte vorausgesagt, dass sich die Leistung von Chips alle achtzehn Monate verdoppeln oder ihr Preis halbieren würde, und obwohl es sich dabei nicht um ein Gesetz, sondern um eine Vorhersage handelte, bewahrheitete sie sich. Das Mooresche Gesetz verlieh der Chipindustrie einen besonderen Charakter. Nichts anderes, was die Menschheit je erfunden oder geschaffen hat, verdoppelt seine Leistung kontinuierlich alle achtzehn Monate. Dies war das Ergebnis eines unerbittlichen, fanatischen technischen Einfallsreichtums." Zum Vergleich: Im Vietnamkrieg brauchten die USA noch 638 Bomben, um die Thanh-Hoa-Brücke einmal zu treffen.

New York Review of Books (USA), 23.03.2023

Charles Glass hat ein Visum für Syrien ergattert, allerdings nur eines für Touristen, deswegen konnte er nur begrenzt recherchieren. In Damaskus erlebt er nichts als Resignation und Bitterkeit. Die amerikanischen Sanktionen treffen die Bevölkerung hart, aber nicht alle müssen unter ihnen leiden, wie ihm unter anderem ein neues Vier-Sterne-Hotel zeigt: "Neben den heruntergekommenen Wohnungen und Häuser der Armen, die sie sich Essen und Heizung nicht mehr leisten können, gibt es die neonbeleuchteten Restaurants, Cafés und Nachtclubs der wohlhabenden Viertel Abu Rummaneh und Malki. Verschlimmert wird das Unglück dadurch, dass sich Syrien in einen 'Narkostaat' verwandelt hat, wie ihn der Economist nennt, der zusammen mit libanesischen, jordanischen und saudischen Schmugglern illegale, süchtig machende, amphetaminähnliche Captagon-Pillen im Wert von Milliarden von Dollar produziert und exportiert. So mancher Ferrari und Maserati, der vor teuren Restaurants parkt, wurde mit Drogengeldern gekauft. Nachkommen alter, aber jetzt verarmter Handelsfamilien haben nur Spott für die Neureichen übrig, die ihr Vermögen im Krieg gemacht haben und es durch Umgehung der Sanktionen noch vergrößern. 'Das Regime ist immer noch da, aber das Volk leidet', sagt ein Diplomat. 'Wiederaufbau' ist ein verbotenes Wort, denn internationale Organisationen dürfen nur tröpfchenweise humanitäre Hilfe leisten, aber keine Mittel für den Wiederaufbau stellen. Das Caesar-Gesetz droht, jeden zu bestrafen, der sich am Wiederaufbau der durch den jahrelangen Krieg zerstörten syrischen Infrastruktur beteiligt. Das ist die Logik der Sanktionen."
Stichwörter: Syrien, Assad-Regime, Damaskus, Ferrari

Osteuropa (Deutschland), 13.03.2023

Macht und Einfluss konzentrieren sich in Russland in den Geheimdiensten, die als Repressionsapparate brutal und in ihrem Sinne vielleicht erfolgreich agieren. Frappierend sind jedoch ihre Fehlleistung, schreiben Manfred Sapper und Volker Weichsel im Editorial zu einem ganzen Heft über Russlands Geheimdienste: Sie haben den Kampfeswillen der Ukraine ebenso falsch eingeschätzt wie die politische Reaktion des Westens. Und weiter: "Die eigene Gesellschaft zu atomisieren ist das Eine. Das haben Russlands Dienste geschafft. Das war auch dem sowjetischen KGB gelungen. Aber den Zusammenbruch der Sowjetunion konnte er nicht verhindern, weil die strukturellen sozioökonomischen Modernisierungsdefizite und die nationale Frage ungelöst blieben. Die Freiheit und Selbstbestimmung eines Nachbarlands zu brechen, ist das Andere. Das war der Sowjetunion nicht einmal in Afghanistan gelungen. Das Scheitern am Hindukusch hatte erhebliche Rückwirkungen auf die Heimat. Das von den Geheimdiensten mit zu verantwortende militärische Debakel in der Ukraine hat erhebliche Rückwirkungen auf Russlands Machtgefüge und die Gesellschaft - ungeachtet der Unterdrückung abweichender Meinungen und Propaganda in der Kriegsdiktatur. Der Krieg ist ein Katalysator. Hunderttausende Soldaten sind tot oder verletzt nach Russland zurückgekehrt. Hunderttausende Menschen haben das Land verlassen. Und zwischen der Armee, den Geheimdiensten und Pseudo-Privatarmeen wie der Wagner-Truppe sind offene Konflikte zutage getreten. Gut möglich, dass der Krieg die Pfeiler der Macht in Russland unterspült und die Legitimität des Führers erodiert."

Außerdem: Der Politikwissenschaftler Hans-Henning Schröder umreißt, wie Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland aussehen könnten. Er selbst hält sie nur im größeren Rahmen einer europäischen Friedensordnung für möglich und sinnvoll, aber dass Russland bisher kein Interesse gezeigt hat, versteht er gut: Putin hat politisch schon längst verloren.
Archiv: Osteuropa

Eurozine (Österreich), 14.03.2023

Eurozine übersetzt Marta Havryshkos Report über die sexuelle Gewalt, die russische Soldaten in der Ukraine ausüben. Auch ukrainische Frauengruppen diskutieren, ob die Anklage der Täter oder Schutz der Opfer im Vordergrund stehen sollte, weswegen nicht alle Fälle zur Anzeige gebracht werden. Doch Vergewaltigungen finden nicht vereinzelt statt, sondern flächendeckend: "Sexuelle Gewalt ist ein Werkzeug des Terrors geworden, nicht nur gegen einzelne Gruppen, sondern gegen die gesamte Bevölkerung in den besetzten Gebieten der Ukraine. Opfer sind nicht nur Frauen und Männer, sondern auch Kinder und Alte... Sexuelle Verbrechen werden mit außerordentlicher und demonstrativer Gewalt begangen. Das zeigt nicht nur das Alter der Opfer, sondern auch die Dynamik der Taten. In vielen Fällen sind die Vergewaltigungen nicht ein kurzer Akt, sondern erstrecken sich über Stunden, Tage oder Wochen und nehmen die Form von sexueller Folter an, die dem Aggressor Befriedigung verschaffen soll. Typisch ist diese Form der sexuellen Gewalt an Orten der Gefangenschaft."
Archiv: Eurozine

HVG (Ungarn), 09.03.2023

Der Theaterregisseur und Autor György Vidovszky lebt in Irland und arbeitet sowohl auf der Insel als auch in Ungarn. Im Gespräch mit Rita Szentgyörgyi geißelt er das lausige Miteinander, das in der ungarischen Gesellschaft Einzug gehalten hat: "Ich denke, dass der böse Geist aus der Flasche freigesetzt wurde und es wird furchtbar schwierig sein, ihn wieder in die Flasche hineinzustopfen. Es geht um Hassrede. In den vergangenen Jahren haben wir die Diskriminierung verschiedener gesellschaftlichen Gruppen erlebt, mal waren Homosexuelle, mal waren die Migranten unsere Feinde, jetzt gerade ist es die Europäische Union. Die Russen, unsere früheren Feinde, sollen jetzt Freunde sein, und die Ukrainer die Feinde. Jeder im Land versucht sich zu positionieren, denn von jedem kann es in jedem Augenblick ein Feind werden, wie jetzt aus den Lehrern oder den Ärzten. Niemand ist in Sicherheit, von jedem kann sich etwas herausstellen, niemand hat im Leben ernsthaften Halt und niemand weiß, in welche Richtung sich das eigene Leben entwickelt. So entstand meine neue Inszenierung von Professor Hannibal, um dieses toxische Milieu zu zeigen, das uns umgibt."
Archiv: HVG
Stichwörter: Irland

The Atlantic (USA), 01.04.2023

Leitfäden für gerechte Sprache sind derzeit schwer in Mode. Fast jede große Institution und Universität in den USA hat einen. Sie sollen Sprache weniger diskriminierend machen, aber dabei möglichst einfach und verständlich bleiben. Diese Mission ist schon mal spektakulär gescheitert, notiert kühl George Packer. Ganz abgesehen von der Hybris, die hinter diesen Leitfäden aufscheint. Was ihn jedoch am meisten schockiert, ist die Realitätsverleugnung, die der eigentliche Zweck dieser "Sprachreform" zu sein scheint: "Die ganze Tendenz der gerechten Sprache besteht darin, die Konturen harter, oft unangenehmer Tatsachen zu verwischen. Diese Abneigung gegen die Realität macht ihren größten Reiz aus. Wenn man sich das Vokabular einmal angeeignet hat, ist es tatsächlich einfacher, von 'Menschen mit begrenzten finanziellen Mitteln' zu sprechen als von Armen. Ersteres rollt ohne Unterbrechung von der Zunge, hinterlässt keinen Nachgeschmack, weckt keine Emotionen. Das zweite ist unhöflich und bitter und könnte jemanden wütend oder traurig machen. Eine ungenaue Sprache ist weniger geeignet, jemanden zu verletzen. Gute Texte - lebendige Bilder, starke Aussagen - werden wehtun, weil sie zwangsläufig schmerzhafte Wahrheiten vermitteln. ... Die gerechte Sprache täuscht niemanden, der mit echten Problemen lebt. Sie soll nur die Gefühle derer schonen, die sie benutzen."
Archiv: The Atlantic

The Nation (USA), 04.03.2023

Glory Liu liest zwei Autobiografien "What you become in flight" von Ellen O'Connell Whittet und "Don't Think, Dear" von Alice Robb, die ihr die selbstzerstörerischen Logiken der Ballettwelt in aller Drastik vor Augen führen. Die Branche folge einer "Ökonomie des Schmerzes", mit der Liu, die selbst dreißig Jahre lang getanzt hat, bestens vertraut ist. Das disziplinierte Ertragen körperlichen Leids wird als notwendiger, sogar lobenswerter Teil der Profession verstanden. Das birgt nicht nur ein hohes Risiko für die Körper der jungen Frauen, sondern legitimiert auch missbräuchliche Tendenzen: "Wir lächeln, während wir stundenlang das volle Gewicht unseres Körpers auf den Spitzen tragen. 'Blut stärkt den Charakter', sagte einer meiner Lehrer, als er bemerkte, dass die Zehen einer Tänzerin anfingen, durch ihren Schuh zu bluten. Aber Ballett bedeutet nicht nur, anhaltende Qualen des Körpers zu ertragen, es bedeutet auch, diese im Geist auszuhalten. Wir lernen, unerbittliche Kritik an unserer Technik, unserem Körper, unserem ganzen Wesen als wertvollste Währung der Branche zu akzeptieren, ja sogar dankbar dafür zu sein. Und wir alle kennen Geschichten von dieser einen Person, der wir irgendwann einmal begegnet sind - der Lehrer, der einen Stock schwang, der Choreograf, der eine Tänzerin so hart schlug, dass ein Striemen auf der Haut zurückblieb, die Ballettmeisterin, die eine Tasse Wasser auf dem Kopf balancieren ließ, um die Haltung zu korrigieren, der Ballettmeister, der einer Tänzerin eine brennende Zigarette unter das Bein hielt, damit sie es höher streckte. Es brauchte #MeToo, damit viele von uns erkannten, dass dies mehr als nur altbekannte Geschichten waren, sondern Symptome einer institutionellen und kulturellen Störung, die wir immer wieder ignorierten."

Viel Ehrgeiz hat die Journalistin und Krankenschwester Aviva Stahl in gerichtliche Auseinandersetzungen mit amerikanischen Gefängnisbehörden gesteckt, um Zugang zu Videos zu erhalten, die die Zwangsernährung von Häftlingen nach einem Hungerstreik in Hochsicherheitsgefängnissen zeigen. Als grausam, unmenschlich und schmerzhaft wertet sie die Behandlung: "Die Videos sind der Beweis dafür, dass die Gefängnisbehörde auf amerikanischem Boden heimlich Menschen foltert. Und was wir auf Video sehen, ist nur ein geringer Teil dessen, was im Hochsicherheitstrakt vor sich geht. Die speziellen Maßnahmen machen Transparenz und Verantwortung so gut wie unmöglich. Diese Videos mögen die Bedingungen im Trakt vielleicht nicht verändern - und wenn, würden wir das erst nach Jahren erfahren. Aber der Rechtsstreit darum, sie zu bekommen, wird ein wichtiges Präzedenzurteil werden."
Archiv: The Nation

Vanity Fair (USA), 13.03.2023

Wie hat J.Crew es geschafft, in den Olymp der amerikanischen Preppy-Marken aufzusteigen und den Kund*innen aus dem Milieu der wohlhabenden Amerikaner an der Ostküste Natürlichkeit und Spontaneität vorzutäuschen? Durch kunstvoll orchestrierte Katalogfotografien, für die allerhand aufgefahren wird, weiß Maggie Bullock nach ihrer Recherche. Das Markenimage-Mastermind dahinter ist Emily Cinnader, mit 21, frisch von der Uni, schon eine unbeirrbare, manchmal gnadenlose Geschäftsfrau. Sie sorgt dafür, die Marke mit lässigem Lifestyle und mit wie zufällig entstandenen Signaturlooks in Verbindung zu bringen, die intensiven Arbeiten hinter den Kulissen soll man ihnen nicht ansehen: "Der krasse 80er-Zwiebellook von J.Crew, verehrt und schließlich verlacht - wer nicht gerade eine dünne Gräte ist, an dem sehen vier Hemden übereinander einfach eher wenig schmeichelhaft aus - wurde aus Praktikabilitätsgründen geboren: weniger Outfitwechsel beim Shooting. Zieh die Jacke aus, weiter geht's. Die Fotografin und ihr Team haben dafür gesorgt, die Kleidung gebraucht aussehen zu lassen: Neue Kleidung kam sofort in die Waschmaschine, manchmal mehrfach, bis sie angemessen aufgetragen ausgesehen hat. Die Gürtel wurden in Wasser getaucht, die Stiefel in Pfützen gestampft. Requisitenhäuser und Verleihfirmen wurden nach dem perfekten Wohnwagen, einem Haufen Surfbretter, einem Wurf Hundewelpen, dem Treibgut der Reichen und Schönen durchforstet." Die Kundenbindung junger, hipper, modebewusster Prep-School-Absolvent*innen erfolgt, fast wie bei Influencern heute, dadurch, dass die Marke durch aufwendig konstruierte Bilder mühelos elegantes Leben vorgaukelt: "Der Lackmus-Test für ein J.Crew-Foto war immer: Fühlt es sich echt an? Kann es als spontaner Schnappschuss durchgehen?"
Archiv: Vanity Fair
Stichwörter: Influencer

New York Magazine (USA), 14.03.2023

Die Kinos schaffen sich selbst ab, schreibt Lane Brown erbost. Der Grund: schlechte Projektionen in mieser Bildqualität - weil die Leinwand nicht ausreichend beleuchtet wird, das Bild gestaucht ist oder das Bild über die Markierung der Leinwand hinaus strahlt. Wer will dafür noch Geld ausgeben, wenn man den Film im Kino nur noch erahnen kann? Wie so oft ist das Problem hausgemacht und geht auf die im Galopp vollzogene Digitalisierung um 2010 zurück: "Die Studios waren von diesem Wechsel begeistert, weil sie damit Geld sparen konnten - statt schwere Filmrollen in die Post geben zu müssen, konnten sie ihre Filme nun über das Internet vertreiben. Die Kinobesitzer waren begeistert, weil digitale Projektoren so programmiert werden konnten, dass sie alleine liefen, ohne dass es einen Vorführer braucht, der die Maschine startet und die Rollen wechselt. Doch diese Vorführer waren handwerklich enorm geschickte Techniker und Problemlöser. Heute aber, da Multiplexe automatisiert vorführen, fallen technische Probleme den Hausmanagern in den Schoß, die, im Zeitalter der Austerität, wohl dieselben überarbeiteten Mitarbeiter sind, die auch die Tickets abreißen und Popcorn verkaufen. Wenn ein ernstes Problem vorliegt oder mehr getan werden muss, als einmal die Optik zu wischen oder das System neuzustarten, kann es schon ein paar Wochen dauern, bis ein Techniker vorbeikommt - oder sogar noch länger, wenn sich einfach niemand beschwert. Das Problem, mit dem sich die heutigen Kinobesucher wohl am ehesten herumschlagen müssen, ist ein trübes Bild. Ein Grund dafür liegt darin, dass viele jener Projektoren, die zu Zeiten des ersten 'Avatar'-Films angeschafft wurden, heute noch immer im Betrieb sind und ihr Alter zeigen. 2020 kündigte Sony an, sich aus dem Projektorengeschäft zurückzuziehen, und beendete vor kurzem die Unterstützung für jene Modelle, die bei den wichtigsten Ketten im Betrieb sind. Dies ist insofern besonders problematisch, da diese Maschinen eine bekannte Schwäche haben, wie ein Analyst dem Digital Cinema Report verriet: 'Das ultraviolette Licht aus der Lampe des Projektots zerstört allmählich das bildwerfende Gerät. Das projizierte Bild verliert an Farben. Um dies zu beheben, müsste man das bildwerfende Gerät ein- oder zweimal im Jahr ersetzen.' Doch diese Lösung ist teuer, weshalb sich nur wenige Kinos dazu entschließen."
Stichwörter: Kino, Digitalisierung