Magazinrundschau

Die schwammige Komplexität der physischen Welt

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
04.04.2023. Eurozine erzählt, wie der ukrainische Schriftsteller Nikolaj Gogol den russischen Nationalismus beförderte. Prospect beschreibt das komplizierte Verhältnis Polens zur Ukraine. Elet es Irodalom geißelt den neuen Rat zur Verbesserung der ungarischen Popkultur. Wired erklärt, warum Analogtechnik die Zukunft des Computers sein könnte. Das New York Magazine will seine Glühbirnen wiederhaben.

Eurozine (Österreich), 03.04.2023

Nikolaj Gogol, geboren in der Ukraine, galt den Russen immer als russischer Schriftsteller. Aus der Provinz zwar, mit komischen Anzügen und Manieren, aber doch russisch. Seine Minderwertigkeitsgefühle und seine homoerotischen Neigungen, die er selbst verachtete, verführten ihn in der Zeit, als er seinen Roman "Taras Bulba" schrieb, zu einem extremen russischen Nationalismus, erzählt Zinovy Zinik, der bei allem Verständnis für Gogols Lage dessen politische Verirrungen klar benennt: "Der historische Hintergrund seines Romans sind die antipolnischen Massaker und Pogrome, die durch den Aufstand von Bogdan Chmelnizki in der Mitte des 17. Jahrhunderts auslöste. Chmelnizki, ein polnischer Hetman ukrainischer Herkunft, hatte im Kampf gegen seine polnischen Herrscher die Saporoger Kosaken zu seinen Verbündeten gemacht und schließlich dem russischen Zaren die Treue erklärt. Von diesem Moment an begann die Russifizierung der Ostukraine. ... In der heutigen Propaganda werden Gogols Leitmotive des Patriotismus und der Selbstaufopferung recycelt, wobei die NATO und Krypto-Nazis an die Stelle der Polen und Juden treten. In 'Taras Bulba' hat Gogol den kriegerischen Nationalismus jener Russen verewigt, die eine fiktive Version von Europa geschaffen haben, in der ihrer Meinung nach kein Platz für sie ist. Diese russischen Patrioten hassen alles, von dem sie glauben, dass es nicht zu ihnen gehört, oder das nicht zu ihnen gehört. Instinktiv wollen sie die Kontrolle über solche Orte übernehmen: entweder durch gewaltsame Übernahme oder durch ihre völlige Zerstörung. Mit seinem Hass auf Fremde wollte Gogol seinen russischen Gastgebern instinktiv zeigen, dass er nicht nur ihre idealistischen Überzeugungen, sondern auch ihre niederen Vorurteile teilt."
Archiv: Eurozine

Prospect (UK), 01.04.2023

Neal Ascherson beschreibt das nicht ganz unkomplizierte Verhältnis der Polen zur Ukraine und liefert dabei auch historischen Hintergrund zu Gogols Roman "Taras Bulba". Bevor die Ukraine, Weißrussland und Litauen Sowjetrepubliken wurden, waren sie zu großen Teilen von Polen beherrscht. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion respektierte Polen jedoch unter Bronisław Geremek und Tadeusz Mazowiecki die neuen Staaten. Auch die jetzige, von der PiS dominierte Regierung in Warschau unterstützt "entschlossen und lautstark den Kampf der Ukraine. Aber wie solide ist ihr Engagement für die Integrität ihrer drei östlichen Nachbarn wirklich? Zu Beginn des Krieges, als es so aussah, als würde die Ukraine schnell überrannt werden, gab es merkwürdige Äußerungen von Politikern und Regimejournalisten. Was wäre, wenn die Ukraine auseinander brechen würde? Welche Rolle könnte Polen in der ehemaligen Westukraine (und einem Teil des Polens vor 1939) spielen? ... Aber die Wahrheit ist, dass die ukrainisch-polnischen Beziehungen noch nie so herzlich waren wie jetzt, mitten im Krieg. Angesichts der Vergangenheit ist das ein Wunder. Ein großer Teil der Ukraine westlich des Dnjepr - und ein Großteil Weißrusslands und Litauens - wurde in den vergangenen Jahrhunderten von polnischen Großgrundbesitzern 'kolonisiert', deren Sprache, Religion und Kultur den auf ihren Ländereien arbeitenden Bauernmassen in der Regel ziemlich fremd waren. (Nach dem Ersten Weltkrieg, als sich der ukrainische Nationalismus herauszukristallisieren begann, wurden die westlichen Regionen der Ukraine von der neuen polnischen Republik unter erbitterten Kämpfen annektiert. Im Zweiten Weltkrieg verübten ukrainische nationalistische Partisanen, die von den Nazi-Invasoren unterstützt wurden, in der Provinz Wolhynien völkermörderische Massaker an der polnischen und jüdischen Bevölkerung - Verbrechen, die erst vor kurzem, nach jahrelangem Schweigen, zugegeben und zur Versöhnung gebracht wurden. Und doch strömten während der Orangenen Revolution zwischen 2004 und 2005, als junge Ukrainer die Straßen von Kiew aus Protest gegen die ungeheuerliche politische Misswirtschaft besetzten, junge Polen zu Tausenden über die Grenze, um zu helfen, indem sie ihre rot-weißen 'Solidaritäts'-Fahnen schwenkten - und wurden ohne ein Wort über den 'polnischen Imperialismus' ihrer Vorväter willkommen geheißen."
Archiv: Prospect

Elet es Irodalom (Ungarn), 31.03.2023

In der vergangenen Woche wurde ein neuer Rat "zur Verbesserung der ungarischen Popkultur" unter der Leitung des Regierungsbeauftragten und Direktor der Petőfi Literaturmuseums Szilárd Demeter gegründet. Dem Rat gehören einige jüngere, aber vor allem ältere Musiker an, die nun offensichtlich ihre Sympathien mit der Orban-Regierung bekunden. Eine vergleichbare Organisation mit zentralen Vorgaben und potentieller Kontrollfunktion gab es in Ungarn ab den 1950er-Jahren bis 1989. "Es ist offensichtlich, dass diese Gesellschaft nicht gegründet wurde, um irgendwelchen kulturrevolutionären Ideologien Geltung zu verschaffen", meint Júlia Lévai, "oder weil sie irgendwelche musikalische Vorstellungen davon hätte, wie eine den Machthabern sympathische Popkultur zu erschaffen sei. Solche Pläne existieren gar nicht. Es geht lediglich um das Hamstern von Geld und Positionen, um eine gute bezahlte Kollaboration. Dabei sind Personen involviert, die überhaupt nicht darauf angewiesen sind, vom Staat Geld zu erhalten: Sie haben auch so zahlreiche Möglichkeiten zum Auftreten und zum Unterrichten. Keiner von ihnen unterliegt in seinem Leben Zwängen, die einen solchen Schritt begründen würden. Sie stellen sich freiwillig und fröhlich singend in den Dienst der Macht."

Wired (USA), 30.03.2023

Computer sind digital. Denkt zumindest der Laie. Die Frühgeschichte der Computerei griff allerdings auf Analogtechnik zurück. Und diese könnte ein Comeback erfahren, wie Charles Platt zunächst sehr ungläubig feststellen muss. Dabei handelt es sich nicht etwa um ein nostalgisches Revival unter verschrobenen Hobbyraum-Nerds mit Lötkolben, sondern um ernstzunehmende Forschungsprojekte: Start-Ups im Silicon Valley, aber auch IT-Platzhirsche wie IBM erforschen gerade die Möglichkeiten analoger, zeitgenössischer Computerei und machen auf diesem Gebiet erhebliche Fortschritte. Aber warum zum Teufel interessieren sich all diese Player wieder für eine an sich doch obsolete Technologie? "Weil sie so wenig Energie verbraucht", verrät der Computerhistoriker Lyle Bickley Platt. Er "erklärte mir, dass der Prozess, wenn, sagen wir, mit roher Kraft vorgehende, auf natürlichen Sprachen basierende K.I.-Systeme Millionen von Wörtern aus dem Internet destillieren, extrem energieintensiv ist. Das menschliche Gehirn läuft mit einer kleinen Menge Elektrizität, sagt er. Etwa 20 Watt (soviel wie eine Glühbirne). 'Aber wenn wir dasselbe mit digitalen Computern versuchen, reden wir von Megawatt.' Für eine Anwendung dieser Art, ist Digital 'einfach nicht funktionabel. Es ist einfach nicht klug, das so zu machen.'" Mike Henry vom Start-Up Mythic führt das weiter aus und spricht von dem "gehirn-artigen neuralen Netzwerk, das GPT-3 speist. 'Das hat 175 Milliarden Synapsen', erzählt Henry und vergleicht dabei die Prozesselemente mit den Verbindungen zwischen Neuronen im Gehirn. 'Jedes Mal, wenn Du das Modell laufen lässt, um eine bestimmte Sache zu machen, musst Du 175 Milliarden Werte laden. Richtig große Datencenter-Systeme können da fast nicht mehr mithalten.' ... Was die Geschäftstauglichkeit betrifft, wird der entscheidende Faktor die Rentabilität sein. Mit Künstlicher Intelligenz wird sich in Zukunft sehr viel Geld verdienen - und mit smarten Medizinmolekulen, agilen Robotern und mit einem Dutzend weiterer Anwendungen, die die schwammige Komplexität der physischen Welt modellieren. Wenn Energieverbrauch und Wärme-Abstrahlung wirklich teure Probleme werden und es günstiger wird, eine gewisse digitale Last auf miniaturisierte Analog-Ko-Prozessoren zu verlagern, dann wird es auch niemanden mehr jucken, dass analoge Computerei früher einmal von deinem mathe-besessenen Opa auf einer großen Stahlbox mit Vakuumröhren betrieben wurde."
Archiv: Wired

New York Magazine (USA), 04.04.2023

Apropos Glühbirne. Wie sich Tom Scocca nach ihr zurücksehnt: nach ihrem warmen gloriosen Licht. Klar, sie ist eine Umweltsau, was absolut kritikwürdig ist. Aber LED-Licht lässt Scocca langsam an seinem Verstand zweifeln: "Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte, bis ich erste Irritationen bemerkte oder glaubte, sie bemerkt zu haben: ein verblasster Lichtschein auf der Seite eines Bilderbuchs, ein Flackern im Augenwinkel, diese plötzlichen unerklärlichen Ausfälle oder halben Ausfälle. Eine schieferblaue Socke, die von einer anthrazitfarbenen Socke nicht zu unterscheiden war, bis ich mit ihr ans Fenster trat. Eine gewisse Unwirklichkeit schlich sich ein." Scocca hat sich über dieses Phänomen u.a. mit Amy Nelson unterhalten, der Leiterin der Abteilung Lichtdesign des Metropolitan Museums und verantwortlich für die Erneuerung der Beleuchtung des Museums mit LED-Lampen. "Eines der Ziele, so Nelson, ist es, das Museum mit weißem Standardlicht zu füllen - 3.000 Grad Kelvin, etwas schärfer und kühler als die 2.700 Grad einer weichweißen Glühbirne. Das war die Theorie. Jetzt blickten wir auf die Realität einer der ersten LED-Installationen des Met aus der Mitte der 2010er Jahre. 'Die Galerien sahen wunderschön aus, als sie eröffnet wurden', sagte Nelson. Aber die Lampen waren kaputt gegangen. Sie sollten eine Lebensdauer von mindestens sieben Jahren haben, aber schon vorher hatte ihre Farbe begonnen, sichtbar zu zerfallen." Das liegt daran, lernt Scocca, dass eine LED-Glühbirne "weniger eine Glühbirne ist als vielmehr ein Glühbirnenemulator. Es handelt sich um einen Computer. Während man sich bei einem altmodischen Glühfaden im Allgemeinen darauf verlassen kann, dass er entweder intakt oder kaputt ist, unterliegen die Treiber und Dioden in den neuen Glühbirnen den gleichen Störungen und Kompatibilitätsfehlern wie andere elektronische Geräte, vor allem, wenn Dimmer ins Spiel kommen. Sie können abstürzen oder hängen bleiben, durch elektromagnetische Interferenzen hörbar brummen oder durch ein falsches Stromsignal durchdrehen. Mit anderen Worten: LEDs können kaputt gehen, auch wenn sie zu funktionieren scheinen. 'Sie fallen nicht einfach aus oder brennen durch wie eine Halogenquelle', sagt Nelson. Oft kommt es zu einem Lichtverlust oder einer Farbverschiebung. Wenn auf der Verpackung einer LED-Lampe steht, dass sie eine bestimmte Anzahl von Jahren halten soll, sagt das nichts darüber aus, wann das Licht ausgehen wird. Es ist eine Schätzung über den Verlauf der Degradation. Das Enddatum ist der Zeitpunkt, an dem die Glühbirne schätzungsweise nur noch 70 Prozent so hell leuchtet wie zu Beginn. Es liegt an Ihnen, zu entscheiden, wann die Dinge anfangen, unheimlich zu werden."
Stichwörter: Led, Licht, Glühbirne