Magazinrundschau

Stochastische Mash-ups

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
09.05.2023. Der New Yorker versucht dem Schicksal zweier aufmüpfiger Töchter Scheich Mohammed bin Rashids auf die Spur zu kommen. The Nation porträtiert Justyna Wydrzyńska, die erste Pro-choice-Aktivistin, die in Polen vor Gericht gestellt und verurteilt wurde. Der Merkur untersucht das Phänomen des linkskonservativen Populismus. Die New York Times besucht die Gangsterbanden Serbiens. Telepolis überlegt, was angesichts der KI aus dem Urheberrecht werden soll. New Lines und Qantara berichten aus dem Sudan. Himal fragt sich, ob Identitätspolitik Indiens Probleme nicht eher vergrößert.

New Yorker (USA), 08.05.2023

Scheich Mohammed bin Rashid, Herrscher der Vereinigten Arabischen Emirate, hat kein Problem damit, sich zwanzig minderjährige Prostituierte gleichzeitig in seine Privaträume zu bestellen. Aber wehe, seine Töchter wollen frei und selbstbestimmt leben. Seit zwanzig Jahren versuchen die Schwestern Shamsa und besonders Latifa ihrem Vater zu entkommen, erzählt Heidi Blake, und haben auch versucht, die Öffentlichkeit einzubeziehen. Anlass zur Sorge gibt nun ein vermeintlicher Sinneswandel Latifas, die kürzlich verlauten ließ, sie sei glücklich und frei in ihrer Heimat. Vorher hatte sie ihren Helfern zu verstehen gegeben, eine solche Aussage würde bedeuten, dass ihr Vater es geschafft habe, sie gefügig zu machen, so Blake. "Im April habe ich Latifa geschrieben und sie dringend gebeten, mit mir zu sprechen. Ich habe einen Brief einer Londoner Kanzlei erhalten, die diese Bitte verneint. Am gleichen Tag tauchte ein neuer Instagram-Account unter dem Namen Latifa Al Maktoum auf. 'Ich wurde kürzlich über Anfragen von Medien informiert, die einen Artikel bringen wollen, der Zweifel an meiner Freiheit säen soll', stand dort, dazu ein Bild von Latifa in Österreich, wie sie vor dem Swarovski Crystal Worlds Park posiert, in Steppjacke und Schneestiefeln. 'Ich kann nachvollziehen, wieso es von außen merkwürdig aussieht, dass jemand, der sich vorher so offen geäußert hat, von der Bildfläche verschwindet und andere für sich sprechen lässt, besonders nach allem, was passiert ist. Ich bin aber völlig frei und lebe ein unabhängiges Leben.' Eine Krankenschwester, die zwei Jahre im Team derer gearbeitet hat, die sich um Shamsa kümmern, hat mir erzählt, Latifa lebe eigenständig und bewege sich alleine durch Dubai, ohne die Abaya zu tragen. 'Ich glaube, sie hat etwas ausgehandelt und kann nun ihr eigenes Leben leben, in gewissen akzeptablen Grenzen', hat sie mir erzählt. Diese Grenzen, vermutet sie, beinhalten, dass 'familiäre Angelegenheiten privat bleiben.' (Die Krankenschwester hatte, wie viele andere, mit denen ich gesprochen habe, 'keine Ahnung', was mit Shamsa passiert ist.) Sie hält Latifa für 'eine brillante Frau', ist aber auch der Meinung, dass sie selbst für ihre Probleme verantwortlich sei. 'Es wird doch in jeder Familie unangenehm, wenn man die Regeln bricht', meinte sie. Latifa hat allerdings jahrelang ausgeschlossen, dass ihre Suche nach Hilfe so enden könnte. 'Es wird niemals ein Happy End geben, bei dem 'Latifa glücklich bei ihrer Familie in den Emiraten ist', niemals', schrieb sie kurz nach der Kontaktaufnahme zu den Helfern. 'Ich möchte leben, existieren und sterben als emanzipierte Person. Nur so werde ich glücklich sein. Ich brauche das. Es ist mein Schicksal und der einzige Ausgang, den ich akzeptieren werde.'"

Weiteres: Jackson Arn besucht die Georgia-O'Keefe-Ausstellung im Moma. Im neuen Heft schreibt Suzy Hansen über die möglichen Folgen des Erdbebens für die Wahlen in der Türkei.
Archiv: New Yorker

The Nation (USA), 22.05.2023

In Polen mit seinen drastischen Abtreibungsgesetzen wird eine erste Pro-choice-Aktivistin, Justyna Wydrzyńska, vor Gericht gestellt. Sie wollte einer jungen Frau mit Abtreibungspillen helfen, die keine zweite Schwangerschaft wollte, weil sie unter extremer Übelkeit und unter heftigen Schmerzen litt - und sie war auch noch mit Zwillingen schwanger. Rebecca Grant hat mit der Frau gesprochen, und ihre Erzählungen zeigen, mit welcher radikalen Einsamkeit Frauen in Polen rechnen müssen, die eine Abtreibung brauchen. Die Frau namens "Ania" erzählt, mit welcher Kälte sie in einem polnischen Krankenhaus behandelt wurde: "Ich wusste, wenn ich die nächsten sieben Monate, bis zum Ende der Schwangerschaft, so leiden würde, wäre ich ein Wrack von einem Menschen. Ich würde eine Depression bekommen, von der ich mich jahrelang, vielleicht sogar für den Rest meines Lebens, nicht mehr erholen würde. Und genau in diesem Krankenhaus traf ich die Entscheidung, die Schwangerschaft abzubrechen, ungeachtet der Konsequenzen. Ich wusste auch, dass ich es nicht laut aussprechen und dem medizinischen Personal gegenüber bekennen konnte. Ich hatte Angst, dass sie mich zwangsweise in die Psychiatrie einweisen würden, und dann hätte ich wirklich keine andere Wahl als zu gebären."
Archiv: The Nation
Stichwörter: Polen, Abtreibung

A2larm (Tschechien), 05.05.2023

Ludmiła Władyniak unterhält sich in einem ausführlichen Interview mit der polnischen Soziologin und Rechtstaatsexpertin Marta Bucholc über die gegenwärtige polnische Gesellschaft im Spannungsfeld zwischen Kontinuität und Veränderung, darunter auch über die Position der Frauen. "Mir scheint, die Frauen in Polen haben jetzt noch weniger zu sagen als vor 2015", so Bucholc. "Wenn wir uns in dem Zusammenhang das Urteil gegen Justyna Wydrzyńska anschauen (die für die Abgabe von Abtreibungspillen an eine schwangere Frau verurteilt wurde), ist das ein Symbol für die Verschlechterung der Situation der Frauen. Auf der anderen Seite ruft diese Verschlechterung auch eine Reaktion in Form von verstärkten Unmutsbekundungen hervor. Das ist offenkundig etwas, womit eine politische Veränderung beginnen kann."
Archiv: A2larm

Merkur (Deutschland), 08.05.2023

Die sogenannte Hufeisentheorie, derzufolge jemand so weit links steht, dass er schon wieder rechts ist, hilft nicht weiter, meint Thorsten Holzhauser, um Sarah Wagenknechts Agieren zu erklären. Vielmehr rekurriere Wagenknecht auf einen linkskonservativen Populismus, der seine minoritäre Systemkritik aus dem größeren Reservoir nationalistischer Positionen verstärken möchte. Das Rezept hat sie von Gregor Gysi und André Brie, die schon Anfang der neunziger Jahre in der PDS eine moderne Linke mit den Verlierern der Einheit koppeln wollten. Es gelang nur halb: "Danach blieb offen, wovon sich die linke, emanzipatorische Definition des Volkes von einer rechten, konservativen bis nationalistischen unterscheiden sollte. Die von der PDS-Spitze geteilte Behauptung, die Welle rechter Gewalt in Teilen Ostdeutschlands sei allein eine Folge der 'Anschlusspolitik' und den 'Herrschenden im Westen' anzulasten, fiel den vielen Aktiven vor Ort in den Rücken, die sich gegen rechte Gewaltstrukturen und für ein liberaleres politisches Klima einsetzten. Stattdessen entlastete sie die ostdeutsche Mehrheitsgesellschaft, die sich weiter als verantwortungsloses Opfer sehen konnte. Es zeigte sich bald: Die PDS konnte sich noch so sehr zu progressiven Werten bekennen - ihr strategischer Populismus blieb trotzdem in einigen Politikbereichen anschlussfähig nach Rechtsaußen, weil sich der Protest ähnlicher Formen und Schlagwörter bediente. Das galt nicht zuletzt in der Frage von Krieg und Frieden, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in neuen Dimensionen auf die Agenda trat. Offiziell lehnte die Partei Gysis und Wagenknechts den Golfkonflikt 1991 und den Kosovokrieg 1999 als westliche Aggressionen ab und berief sich auf Multilateralismus und Völkerrecht. Eine ganze Reihe von Politikerinnen und Politikern bediente sich aber offen rechter Codes, sprach von 'Bombenterror' und 'Bombenmördern' und stellte die NATO-Operationen in einen Zusammenhang mit der Bombardierung Dresdens durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Während der grüne Außenminister Joschka Fischer den NATO-Angriff auf Jugoslawien mit dem antifaschistischen 'Nie wieder Auschwitz' begründete, da nur so die Menschenrechtsverletzungen im Kosovo beendet werden könnten, reiste Gregor Gysi nach Belgrad, um mit dem nationalistischen Staatschef Slobodan Milošević Friedensgespräche aufzunehmen. "
Archiv: Merkur

Krytyka (Ukraine), 08.05.2023

Auch nach diesem für die Ukraine so langen und schweren Kriegswinter blickt der ukrainische Journalist Vitaly Portnikov in seinem von Eurozine ins Englische übersetzten Text zuversichtlich in die Zukunft. Immerhin musste Wladimir Putin seine Kriegsziele im Laufe des vergangenen Jahres erheblich revidieren: "Nach dem Scheitern des Blitzkriegs haben sich seine Vorstellungen komplett gedreht. Jetzt möchte der russische Präsident den Krieg als Abnutzungskrieg in die Länge ziehen. Er ist überzeugt, dass, wenn der Krieg einige schwierige Jahre andauert, der Westen seine Unterstützung für Kiew aufgeben und die Ukraine früher oder später kapitulieren wird. In diesem Glauben steckt mehr Fanatismus als nüchterne Überlegung. Aber Fanatismus ist in einem Krieg sehr wichtig, ebenso wie Hingabe. Putin erwartete eindeutig nicht diese Entschlossenheit auf der Seite der Ukrainer. Er konnte sich nicht vorstellen, dass selbst zehn Monate nach Beginn des Krieges, nach all den russischen Angriffen auf die kritische Infrastruktur, nach all den Zerstörung und Grausamkeiten, die ukrainische Bürger immer noch von der Notwendigkeit überzeugt wären, ihre besetzten gebiete zu befreien. Wenn der Fanatismus eines Aggressors gegen die Entschlossenheit des Angegriffenen steht, ist der Angreifer gewöhnlich zum Scheitern verdammt. Die Frage ist nur, wann und wie."
Archiv: Krytyka
Stichwörter: Ukraine-Krieg 2022

London Review of Books (UK), 04.05.2023

Andrew Cockburn reist durch Georgien, wo die Zivilgesellschaft gegen den moskautreuen Kurs der Regierung unter dem Oligarchen Bidzina Iwanischwili opponiert, ohne sich den Fall des im Gefängnis sitzenden, immer wieder irrlichternden Michail Saakaschwili zu eigen zu machen. Cockburns Blick auf den Machtkampf zwischen den beiden wirkt denn auch recht abgeklärt: "Kurioserweise braucht Iwanischwili den Mann, den er von der Macht verdrängt hat, um über die von ihm kontrollierte Partei Georgischer Traum seine eigene Herrschaft fortzusetzen. Nach seiner Abwahl und einer Phase komfortabler Arbeitslosigkeit in einem gehobenen Viertel von Brooklyn fand Saakaschwili eine neue Heimat: 2015 machte ihn Petro Poroschenko, damals Präsident der Ukraine und Freund aus Studienzeiten, zum ukrainischen Staatsbürger und ernannte ihn zum Gouverneur von Odessa. Doch die beiden zerstritten sich bald. Saakaschwili begann, gegen seinen ehemaligen Verbündeten zu hetzen, und beschimpfte ihn als Quell der ukrainischen Korruption. Ein wütender Poroschenko entzog ihm seine neue Staatsbürgerschaft und beschuldigte ihn, korrupte Geschäfte mit russischen 'kriminellen Elementen' zu machen. Er wurde von der Polizei von einem Dach gezerrt, wo er damit gedroht hatte, sich das Leben zu nehmen. Als Wolodimir Selenski 2019 Präsident wurde, sah Saakaschwili die Chance für eine Rückkehr an die Macht in Georgien. Selenskis Regierung gehören Vertraute Saakaschwilis aus seiner ehemaligen georgischen Regierung an, und im Oktober 2021 schmuggelte er sich mit ihrer Unterstützung in einem Kühlwagen zurück nach Georgien. Er rechnete offensichtlich damit, von der Bevölkerung begrüßt zu werden, doch er wurde nach wenigen Tage verhaftet, vor Gericht gestellt und für Skandale während seiner Regierungszeit verurteilt. Seitdem sitzt er im Gefängnis, aber eine gut finanzierte Kampagne in Washington stellt ihn als Opfer eines von Putin inszenierten Komplotts dar. Auf die Frage, ob man sich nicht den Ärger ersparen könnte und Saakaschwili einfach in ein Flugzeug setzen, antworten georgische Beamte, dass man ihnen niemals verzeihen würde, wenn sie einen zu Recht verurteilten Verbrecher freilassen würden. Wahrscheinlich treffender ist, dass er für das Regime ein äußerst nützliches Faustpfand darstellt, das daran erinnern soll, dass die Alternative zu seiner Herrschaft eine Rückkehr zur Korruption der alten Zeiten ist. Und die internationale Unterstützung für Saakaschwili untermauert die Botschaft des Regimes, dass der Westen plant, Georgien in den Ukraine-Krieg hineinzuziehen."

Telepolis (Deutschland), 02.05.2023

Mit den atemberaubenden Fortschritten, die Künstliche Intelligenz in den letzten Monaten vollzogen hat, hält das Urheberrecht nicht mehr Schritt, schreibt René Walter. Schon jetzt sieht er gigantische Textfabriken auf uns zukommen, die "durch die automatisierte Mediensynthese plausibler, aber nicht realer Texte, Bilder und Audiodaten" die Töpfe der Verwertungsgesellschaften plündern. "Die Zufälligkeit einer stochastischen Bibliothek und der interpolative Charakter von KI-Synthese widersprechen grundsätzlich den Prinzipien US-amerikanischer und europäischer Urheberrechte, die individuelle, identifizierbare Werke von natürlichen Personen und eine gewisse Schöpfungshöhe voraussetzen, um tätig zu werden. Wie solche Kopierrechte auf einen interpolierfähigen Latent Space reagieren sollen, in dem ich Muster bestehender Werke auf kreativ-molekularer Ebene miteinander frei verbinden kann, ist völlig unklar und es kommt, wie ein Jurist sagen würde, 'auf den Einzelfall an'. ... Verwertungsgesellschaften von Urheberinnen und Urhebern haben bislang keinerlei Ansätze, um diesen endlosen stochastischen Mash-ups generativer KI-Systeme auf Basis atomisierter Kultur zu begegnen. ... Die Sängerin Grimes gab vor wenigen Tagen ihre Stimme zur Nutzung in KI-Synthesen frei und verlangt im Gegenzug 50 Prozent Lizenzgebühren, falls die Songs erfolgreich sind, während CEO Tom Graham des Start-ups Metaphysics, das sich auf Deepfakes spezialisiert, ein Copyright auf die KI-Anmutung seines Aussehens beantragt hat. Ein Fingerzeig in eine Zukunft der Urheberrechte, in der Künstler an den Erzeugnissen beteiligt werden, für die sie Daten aus Persönlichkeits-Mustern beisteuern, also Daten wie Stimmfarbe, Pinselstrich, Wortwahl und so weiter." Doch "folgt man den alten Prinzipien eindeutig identifizierbarer Werke von natürlichen Personen, wird der Kulturraum auf lange Sicht unregulierbar. Eine weitere Ausweitung des Urheberrechts allerdings - auf stilistische Merkmale wie im Markenrecht etwa - läuft Gefahr, die kreativen Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen einzuschränken."
Archiv: Telepolis

HVG (Ungarn), 04.05.2023

Der Publizist Árpád Tóta W. kommentiert den dreitägigen Besuch von Papst Franziskus in Ungarn: "Vielleicht freut sich ja der Papst ungewollt, dass er inmitten von Europa ein Land findet, das sich trotzig als christliches definiert und in dem das Portfolio der Kirche stets größer wird. Obgleich dies ja zugleich die größte Gefahr ist, und wenn er über irgendetwas offen hätte sprechen können, dann wäre es dies gewesen: Dass die Politik, die er zwischen den Zeilen kritisiert, die Mauern baut und Brücken zerstört, die stolz und hart vor anderen die Tür zuschlägt, vor Fremden, vor Armen und Kranken - diese Politik verkauft sich als christlich. Das Oberhaupt der Kirche schaute lächelnd jene an, die das Christentum besangen. (...) Obwohl er freilich wissen dürfte, dass der Frevel, der gegen den Glauben verübt wird, weit weniger Schaden anrichtet, als der, der im Namen des Glaubens begangen wird."
Archiv: HVG

New Lines Magazine (USA), 04.05.2023

Seit am 15 April die Kämpfe zwischen den sudanesischen Generälen Abdel Fattah al-Burhan und seinem ehemaligen Stellvertreter Mohamed Hamdan Dagalo, genannt Hemedti, ausbrachen, herrscht Chaos im Land. Es fehlt an Lebensmitteln, Ärzten und Medikamenten, berichtet Omnia Saed. Internationale Hilfsorganisation wagen sich kaum ins Land, die Sudanesen müssen sich selbst helfen. Und das gelingt ihnen auch, weil die digitale Infrastruktur bereits vorhanden ist, ein Nebenprodukt der Revolution, die Omar al-Bashir im Jahr 2019 stürzte: "Freiwillige erkunden die Lage und rekrutieren Ärzte, um behelfsmäßige Kliniken zu eröffnen, erklärt Ismat. Sie organisieren die Evakuierung von Kranken, älteren Menschen, Frauen und Kindern, die ins Kreuzfeuer geraten waren. Über Twitter warnen sie die Bewohner vor der Anwesenheit der Streitkräfte und richten sichere Zonen und Routen für diejenigen ein, die zu fliehen versuchen, aber nicht erreicht werden können." Hilfe von außen erwarten sie kaum, zu groß ist die Enttäuschung über die internationale Gemeinschaft, die das Militärregime durch ihre Beschwichtigungspolitik ermutigt habe: "In Bezug auf die Verhandlungen zwischen pro-demokratischen Gruppen und amerikanischen Beamten, die mit der Moderation des demokratischen Übergangs im Sudan nach der Revolution beauftragt waren, berichtet Elhassan von der Frustration der Aktivisten, die für eine zivile Regierung eintraten. 'Das US-Außenministerium sagte uns, dass wir eine Regierung ohne Beteiligung des Militärs nicht vorstellbar sei', erklärt Elhassan. 'Sie sagten, es sei unrealistisch. Wenn also jemand meint, deine Freiheit sei unrealistisch, warte ich dann wirklich darauf, dass er kommt, um mich zu retten?'"

July Blalack erzählt die Geschichte der Mahdis, von denen einige aus dem Sudan kamen, und resümiert am Ende, auch mit Blick auf christliche Evangelikale und den IS: "Die mahdistischen Erzählungen wurden von dem Glauben getragen, dass Gott die Gläubigen zwar vorübergehend auf die Probe stellen mag, das Böse am Ende aber sicher nicht triumphieren wird. Obwohl die Politik der Apokalypse unterschiedlich eingesetzt wird - je nachdem, ob sie von amerikanischen Präsidenten, antikolonialen Rebellen oder der Gruppe 'Islamischer Staat' betrieben wird -, gelingt es ihr stets, Sehnsüchte nach Erneuerung und Erlösung zu kanalisieren. Ironischerweise weckt das nahende Ende der Tage oft die Hoffnung auf ein besseres Morgen. So beeinflussen apokalyptische Narrative weiterhin politische Entscheidungen, motivieren unwahrscheinliche politische Allianzen und erwecken ansonsten undenkbare politische Forderungen zum Leben."

Qantara (Deutschland), 04.05.2023

Auch der politische Analyst Ali Anouzla glaubt, dass es ein Fehler war, die Generäle im Sudan an der Macht zu lassen: "Man hätte al-Burhan und Hemedti von Beginn der Volksrevolution an mit aller Härte und Offenheit wie Kriegsverbrecher behandeln sollen. Nach allem, was sie ihrem Land und ihrem Volk angetan haben, gehören sie nicht an die Schalthebel der Macht, sondern ins Kobar-Gefängnis, wo bereits ihr früherer Präsident Omar al-Bashir einsitzt. Die internationale Gemeinschaft sollte ihren Umgang mit den Kriegsgenerälen des Sudans überdenken und sie so behandeln, wie sie es schon mit den Generälen Myanmars tat. Denn die Verwüstung, das Chaos und die durch al-Burhan und Hemedti verübten Verbrechen gegen ihr Volk und ihr Land sind nicht geringer als das, was jene Generäle in Myanmar angerichtet haben."

Die Frauenrechtlerin Hala al-Karib erinnert im Interview daran, dass die beiden Generäle im Oktober 2021 durch einen Militärputsch gegen die Übergangsregierung an die Macht gekommen sind, "die nach 2019 den Weg zu demokratischen Wahlen bereiten sollte. Mit dem Putsch wollten die Männer den Übergang zur Demokratie untergraben. Die internationale Gemeinschaft hat die Männer dafür nicht zur Verantwortung gezogen, auch nicht für die außergerichtlichen Tötungen, die Zwangsräumungen und die Terrorisierung von Zivilisten, die unter ihrer Führung stattfanden. Es gab zu diesen Vorfällen nicht eine einzige unabhängige Untersuchung seitens internationaler Organisationen." Davon abgesehen pocht al-Karib darauf, dass Frauen in einem demokratischen Sudan endlich gleichberechtigt behandelt werden: "Der Sudan ist eines von weltweit vier Ländern, das die UN-Frauenrechtskonvention nicht unterzeichnet hat. Im Sudan kann ein Mädchen im Alter von zehn Jahren zur Ehe weggegeben werden. Wir haben noch immer sehr strenge Vormundschaftsgesetze, die Zwangsheirat und Kinderehen ermöglichen und Gesetze, die eine körperliche Bestrafung von Frauen vorsehen, etwa Steinigung wegen Ehebruch. Für einen echten demokratischen Wandel muss die strukturelle Diskriminierung von Frauen überwunden werden."
Archiv: Qantara

Himal (Nepal), 08.05.2023

Der Oberste Gerichtshof Indiens hat in einem Urteil Sikkim-Nepalis als Menschen "ausländischer Herkunft" bezeichnet und damit große Empörung ausgelöst in einem Land, in dem Herkunft und Identität von entscheidender Bedeutung sind, erzählt Mona Chettri. Ihr Artikel beschreibt nicht nur den Konflikt, sondern gibt uns auch eine kurze Geschichte Nepalis. Zur Klärung vorab: Nepalesen sind Bürger Nepals, Nepali, so Chettri, bezeichnet hingegen "eine viel breitere kulturelle und sprachliche Verbindung, die über eine einzelne nationale Identität hinausgeht. Als jemand, der in Sikkim geboren und aufgewachsen ist, ist mein indisch-nepalesisches Erbe ein wichtiger Teil meiner kulturellen Identität, auch wenn ich von Nepali und Bhutia-Lepcha abstamme." Das ehemalige Königreich Sikkim, das zwischen China, Bhutan und Nepal liegt, wurde 1975 Teil Indiens. Zu welchem Volksstamm man gezählt wird, hat enorme Auswirkungen auf Eigentums- und politische Rechte, erfahren wir. Aber ob das wirklich gut so ist, fragt sich Chettri zweifelnd: "Identität und Zugehörigkeit sind mächtige, emotionsgeladene Themen, und es ist leicht, ihre politische Potenz zu verstehen, vor allem, wenn man sie in einen Kontext von abnehmendem sozialen Schutz, zunehmendem Wettbewerb um Ressourcen, seismischen Verschiebungen in der Mobilität innerhalb der Region stellt. Doch was geschieht, wenn die Zugehörigkeit einer Gemeinschaft durch eine andere Gemeinschaft in Frage gestellt wird, die ihre eigene Geschichte und Identität zu etablieren sucht, in diesem Fall die 'indischen' Altsiedler von Sikkim? Können wir über unsere historischen und kulturellen Unterschiede hinausschauen, um zu erkennen, was Sikkim als Ort und unsere Zugehörigkeit zu ihm ausmacht? Oder werden wir einfach der Bequemlichkeit einer spaltenden Identitätspolitik nachgeben, die es erfordert, die Kontrolle über all unsere Motive und Handlungen an Unterscheidungen nach Religion, Rasse und Kultur abzugeben?"

Nur eine einzige Frau, Norbu Wangzom, sitzt seit den Wahlen 2023 im Parlament von Bhutan. Das ist eine weniger als nach den Wahlen 2018, erzählt Yangchen C Rinzin, die dennoch die Hoffnung nicht aufgeben will: Immerhin: "In Bhutan haben Frauen gemäß der Verfassung und dem Wahlgesetz des Landes aus dem Jahr 2008 das Recht, gleichberechtigt zu wählen und für ein Amt zu kandidieren. In den Jahren 2012 und 2013 wurden in Bhutan die ersten weiblichen Bezirksgouverneure und Minister gewählt. Frauen haben auch Führungspositionen in politischen Parteien inne, unter anderem als Parteivorsitzende. Historisch gesehen ist Bhutan eine matrilineare Gesellschaft, in der die Töchter von ihren Müttern erben und eine wichtige Rolle in der Führung der Familien spielen. Frauen werden im Allgemeinen als nangi-aum - die Dame des Hauses - betrachtet, auch wenn sich ihre Verantwortung in dieser Rolle auf Landbesitz und Hausarbeit beschränkt. Dennoch sind viele bhutanische Männer und Frauen der Meinung, dass die Führungsaufgaben von den Männern übernommen werden sollten."
Archiv: Himal
Stichwörter: Indien, Sikkim, Identitätspolitik

Aktualne (Tschechien), 09.05.2023

Mit dem Tod der tschechischen Mezzosopranistin Soňa Červená (1925-1923) ist eine große Dame der Opernmusik gegangen, darin sind sich alle Feuilletonisten einig. Die sogenannte "tschechische Carmen" (ihre häufigste Rolle) war 1962 nach Westdeutschland emigriert, sang unter Dirigenten von Kubelík bis Karajan, war mit Callas und Pavarotti befreundet und trat noch in hohem Alter als Sängerin und Schauspielerin auf. "Das Schicksal dieser herausragenden internationalen Sängerin und Schauspielerin bildet für uns das Schicksal der tschechischen Kultur ab, deren Talente so oft im Ausland zur Geltung kamen, weil sie zu Hause nicht genug Freiheit hatten", erklärte Jan Burian, Direktor des Prager Nationaltheaters, in dem Červená erst nach der Samtenen Revolution wieder auftrat, unter anderem unter der Regie von Robert Wilson. "Soňa Červená ist für uns eine Mahnung, wie wichtig es ist, nicht nur das Talent zu besitzen, sondern auch die offene Gesellschaft, in der sie glücklich sein konnte."

Hier singt sie die "Aria i mort de Pirene" aus Manuel de Fallas Oper "Atlantida":

Archiv: Aktualne

New York Times (USA), 06.05.2023

Für solche packende Auslandsreportagen war die New York Times einst berühmt, bevor auch dort postmoderne Befindlichkeitserzählungen à la "Mein Hamster ist divers, mein Leben wird nie wieder sein wie zuvor" dominierten. Robert F. Worth porträtiert den serbischen Gangsterboss Veljko Belivuk, der jüngst in Serbien festgenommen wurde und erstaunlich fröhlich vor Gericht erschien, wohl auch deshalb, weil er engste Beziehungen zur serbischen Politik unterhält. Die Gangsterclans haben unter dem zunehmend populistisch bis autokratisch agierenden Präsidenten Aleksandar Vucic eine immer größere politische Macht gewonnen. Worth erzählt auch mit welch fahrlässiger Duldsamkeit die EU gegenüber Vucic agiert. Für ihn könnten die Gangs im Kosovo zum politischen Erpressungsinstrument werden. "Die Banden spielen bei diesen politischen Scharaden eine wichtige Rolle. Der Norden des Kosovo mit seiner mehrheitlich serbischen Bevölkerung steht nominell unter der Kontrolle der nationalen Regierung in Prischtina. In Wirklichkeit wird er von Gruppen des organisierten Verbrechens beherrscht, die weithin als Verbündete von Vucics Partei gelten und vom US-Finanzministerium beschuldigt werden, mit serbischen Sicherheitsbeamten bei Schmuggelgeschäften konspiriert zu haben. Damit verfügt Vucic über einen wichtigen Hebel, um die regionalen Spannungen zu erhöhen oder zu verringern." Die einzige Hoffnung ist laut Worth, dass sich die Gangs permanent in Bandenkriegen gegeneinander verstricken - nebenbei zeigt seine Reportage aber auch, dass der internationale Kokainhandel neben den Anlaufstationen Rotterdam und Antwerpen auch über den Balkan läuft.
Archiv: New York Times