Magazinrundschau

Die Einnahmen sind astronomisch

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
16.05.2023. In der London Review schildert Alex de Waal, wie die Khediven von Ägypten Khartoum zum Zentrum des arabischen Sklavenhandels machten. Wie sehr dieser Teil der Geschichte das Verhältnis zwischen arabischen und schwarzen Afrikanern immer noch prägt, schildert die tunesische Autorin Haythem Guesmi in Africa is a Country. Ray erzählt die Geschichte von Franz-Josef Spiekers vergessener Filmkomödie "Wilder Reiter GmbH". Der New Statesman zeichnet ein verstörendes Bild von Haiti. Das New York Magazine beschreibt den Erfolg der rechten Cancel Culture in den USA. A2Alarm porträtiert den schwulen Rom-Musiker Vojtik. Desk Russie stellt die rot-braunen Putin-Unterstützer in den USA vor. Die New York Times fragt vor dem Hintergrund steigender Demenzerkrankungen: Was ist, wenn ich ein anderer ist?

London Review of Books (UK), 18.05.2023

Seit der Gründung durch die Khediven von Ägypten war Khartum stets ein Hafen der Ruhe und Friedfertigkeit, erinnert Alex de Waal in einem ungeheuer bitteren Text. Die Eliten des Sudans, Kaufleute und Generäle, haben sich immer bestens verstanden, während ihre Milizen jenseits der Stadt das Land plünderten: "Khartum wurde 1821 am Zusammenfluss der beiden Nile gegründet - des Weißen Nils, der in Äquatorialafrika entspringt, und des schnell fließenden Blauen Nils, der saisonale Überschwemmungen aus dem äthiopischen Hochland mit sich bringt. An der Stelle, an der die beiden Flüsse aufeinandertreffen, direkt gegenüber dem modernen Parlamentsgebäude, und einige Kilometer flussabwärts, fließen das hellbraune und das blaue Wasser unvermischt nebeneinander. Der Ort wurde von Ismail Kamil Pascha ausgewählt, der eine Armee zur Eroberung des Sudan entsandt hatte. Außerdem erteilte er einer multinationalen Bande von Freibeutern die Erlaubnis, nach Belieben durchs Land zu ziehen, solange Kairo an ihren Erträgen beteiligt wurde. Sechs Jahrzehnte lang war Khartum ein Vorposten des räuberischen Grenzkapitalismus des 19. Jahrhunderts: ein Handels- und Sklavenumschlagplatz für die Verwüstung des oberen Niltals. Die Händler und Freibeuter von Khartum suchten nach Sklaven oder teilten die Bewohner der südlichen Wälder und Sümpfe unter sich auf und kauften Gefangene für ihre eigenen Plantagen entlang des Flusses oder für den Verkauf nach Ägypten. Bis heute haben die Sudanesen ein Lexikon der Hautfarben, das von rot und braun über grün und gelb bis hin zu 'blau' reicht - die dunkelsten Menschen des Südens werden immer noch routinemäßig abid genannt, was 'Sklaven' bedeutet." Jetzt teilt der Sudan das Schicksal Somalias und Liberias: "Die Logik der Kleptokratie ist unerbittlich: Wenn das Kartell bankrott ist, schießen die Gangster es aus dem Weg. "

Africa is a Country (USA), 16.05.2023

Die tunesische Autorin Haythem Guesmi denkt über Rassismus in Afrika nach. Anlass ist einmal ein Netflixfilm, in dem Königin Kleopatra von einer schwarzen Darstellerin gespielt wird, was in Ägypten Proteste hervorrief. Und zum anderen Äußerungen des tunesischen Präsident Kais Saied, der kürzlich vor einem "großen Austausch" in Tunesien warnte, ausgelöst durch den Zustrom illegaler schwarzer Immigranten. "Die Kontroverse lenkte die Aufmerksamkeit erneut auf die anhaltende Problematik der diskriminierenden Behandlung von Schwarzafrikanern in Tunesien und der arabischen Welt. Sie warf auch ein Schlaglicht auf die unruhige Debatte über den arabischen Sklavenhandel. Eine verbreitete Reaktion vieler Tunesier nach dem rassistischen Angriff von Saied bestand darin, die Beteiligung der Araber an der Versklavung von Schwarzafrikanern als ein unbedeutendes Ereignis abzutun, das als typisch für seine Zeit historisiert werden müsse." Doch der arabische Sklavenhandel "hat einen unauslöschlichen Eindruck in der Seele Afrikas hinterlassen. Er hat eine anhaltende Kluft zwischen Nord- und Subsahara-Afrikanern geschaffen. Und die Sahara hat sich seitdem in einen Raum der Gewalt und der Einsamkeit verwandelt. Diese Zweiteilung hat inzwischen einen Punkt erreicht, an dem die Afrikaner nicht mehr miteinander kommunizieren."

Ray (Österreich), 15.05.2023


Die deutsche Filmgeschichte ist immer wieder für Wiederentdeckungen und überraschende Querschläger gut. In einem epischen Longread erzählt Stephan Eicke die aberwitzige Geschichte des heute so gut wie vergessenen Franz-Josef Spieker, der als Assistent von Stanley Kubrick und Douglas Sirk begann, nach kurzer Zwischenstation in Hollywood das Oberhausener Manifest unterschrieb, mit an der Wiege des deutschen Softsexfilms saß, mit der Komödie "Wilder Reiter GmBH" (1967) nicht nur einen bemerkenswerten kommerziellen Erfolg hinlegte, sondern auch bei den Filmkritikern gut ankam ("der erste deutsche Cineastenfilm" notierte zum Beispiel die sonst notorisch strenge Zeitschrift Filmkritik damals), mit seinen nachfolgenden Filmen aber völlige Bruchlandungen hinlegte. Am 18. März 1978 schließlich wurde am Strand von Bali seine Leiche angeschwemmt, die so schwer in Mitleidenschaft gezogen war, dass das Gerücht eines Ritualmordes die Runde machte. Sein "Wilder Reiter" kursiert heute nur als VHS-Mitschnitt einer RTL-Ausstrahlung aus den Neunzigern - den Sprung auf DVD hat der Film nie geschafft. Damals galt er aber als großer Hoffnungsfilm des Jungen Deutschen Kinos: Er ist "ein ungewöhnlicher Film nicht nur für das Land und die Zeit, in denen er entstand. Zwar verfolgt Spieker eine narrativ konservative Struktur, lockert sie aber durch verschiedene Zutaten auf, wie sie im Deutschen Film in dieser Zusammensetzung ihresgleichen suchen. So bricht er die trockenen schwarz-weiß Bilder mit Einstellungen der Handkamera auf, die die Abenteuer des jungen Georg zeitweise wie eine Underground-Mockumentary wirken lassen. Die extremen Close-ups erinnern wiederum an John Cassevetes, dessen Independent-Werke Inspiration für viele Autoren der Münchener Gruppe waren. Über seine Figuren schüttet Spieker so viel Spott aus wie über jene Politiker in 'Die Wechsler im Tempel'. Unter anderem sind das hier Adenauer, Franz-Josef Strauß, Francisco Franco und Charles de Gaulle. Niemand entkommt seiner Häme: Nicht der PR-Berater Georg, der einem talentlosen Anarchisten durch plumpe Stunts zu Plattenverträgen, Interviews und vor allem Geld verhilft. Nicht die deutsche Presse, die sich für die Auflage nur zu gerne vor den Karren spannen lässt. Nicht die inkompetente Polizei, nicht die opportunistische Unterhaltungsbranche. Der 'Wilde Reiter' ist Kim, gespielt von Herbert Fux, der in einem heruntergekommenen Haus im Wald seine Karriere plant - und sie durch bloße Skandale auch bekommt. 'Wilder Reiter GmbH' ätzt. Er klagt an, tut dies aber mit solchem Verve und Esprit, dass er die Unterhaltung über die Moralisierung stellt. Entgegen den Kassenschlagern des Deutschen Films jener Tage (und jeder Tage) durchweht 'Wilder Reiter GmbH' eine spielfreudige Anarchie." Diese UFA-Wochenschau im Bundesarchiv bietet ab Zählerstand 5:32 einige Einblicke in den Film.
Archiv: Ray

HVG (Ungarn), 11.05.2023

Der Historiker und Essayist György Dalos erhielt vor kurzem den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste in Berlin. Bei dieser Gelegenheit sprach er mit Béla Weyer über Russlands Krieg gegen die Ukraine: "Putins Krieg - obgleich ich solidarisch mit der ukrainischen Bevölkerung bin - ist für mich auch eine russische Tragödie, eine historische Wunde. Solch einen Schaden hat sich Russland seit dem russisch-japanischen Krieg nicht mehr selbst beigebracht. Es kann vielleicht in manchen Phasen erfolgreich sei, doch siegen wird Russland nicht. Sie haben erneut den Gegner unterschätzt. Und meine Sorge ist groß, was mit der russischen Bevölkerung am Ende dieses nicht gewinnbaren Krieges passieren wird. (...) Das hier ist kein Krieg der Kulturen. Der Krieg wird eines Tages vorüber sein, doch der Hass wird bleiben."
Archiv: HVG

New Statesman (UK), 18.05.2023

Haiti versinkt in Anarchie. Kriminelle Banden haben das Land in ihre Gewalt gebracht, der allseits verachtete Premierminister Jovenel Henry klammert sich ohne Mandat an die Macht, die Menschen leben in einem permanenten Zustand von Angst und Schrecken. Pooja Bhatia blickt auf ein Land in völliger Verzweiflung: "Hier einige Strategien zur Vermeidung einer Entführung, wie sie unter Freunden und Bekannten, die noch in Haiti leben, kursieren: 'Vermeide Port-au-Prince, wenn Du kannst. Schränke Deine Bewegungen ein. Gehe nicht nach 18 Uhr auf die Straße. Nimm keine Abkürzungen. Wenn Du ein Auto hast, benutze es nicht; Menschen in Autos sind Zielscheiben und die Autos selbst auch. Nimm ein Motorrad - damit bist Du schneller und unauffälliger. Geh zu Fuß. Fahr mit dem Bus... Geh nicht zur Arbeit. Schicke Deine Kinder nicht zur Schule, wenn diese noch geöffnet ist. Kein Ort ist sicher, nicht einmal die Kirche. Niemand ist sicher, nicht der bekannte Fernsehproduzent, nicht die Marktfrau, nicht das Kind. Vermeide es, in den sozialen Medien zu posten. Vermeide Zoom-Meetings. Sichere Deine WhatsApp-Gruppe, damit sie nicht von Bandenmitgliedern infiltriert wird. Organisiere Deine Nachbarschaft. Sammel Geld für das örtliche Kommissariat, denn die Polizei kann sich kein Benzin, keine Lebensmittel und keine Waffen mehr leisten. Sammel Geld für die Straßenbeleuchtung. Stell private Wachleute ein, zwei an jedem Eingang des Viertels. Wenn Bandenmitglieder einen der Wachmänner entwaffnen, errichte eine massive Betonmauer an einem der Eingänge. Wenn die Bande einen der Wachmänner tötet und die Sicherheitsfirma den Vertrag für das Viertel kündigt, suche eine andere Sicherheitsfirma. Wenn die Bande eines Nachts die Mauer mit einem Bulldozer einreißt und alle in Angst und Schrecken versetzt, ersetze die Mauer durch einen Schiffscontainer. Fülle den Container mit Steinen und stelle zwei Halbcontainer darauf. Fülle auch diese mit Steinen. Überrede den Bürgermeister, eine nahe gelegene Brücke abzureißen, damit die Bande keine schweren Maschinen mehr in Dein Viertel bringen kann, um die Container abzutransportieren.'"
Archiv: New Statesman
Stichwörter: Haiti, Soziale Medien

New York Magazine (USA), 08.05.2023

Der linksliberale Traum von der Schule als Katalysatoren progressiver Sozialrevolutionen hat sich in den USA vorerst ausgeträumt, hält Jonathan Chait fest: Stattdessen geht es in die andere Richtung. Schulen und Universitäten werden von den Republikanern, allen voran dem Gouverneur Floridas, Ron deSantis, zugleich als Ziel und Waffe ideologischer Kulturkämpfe instrumentalisiert. Es geht gegen alles, was als links, weltoffen und vermeintlich woke gilt. "In Florida hat HB 1467 - ein Gesetz, das von allen Büchern in Schulen fordert, 'den Bedürfnissen der Schüler zu entsprechen', Schulbüchereien dazu veranlasst, manisch Bücher aus ihren Regalen zu entfernen, aus Angst, sie könnten gegen das neue Reglement verstoßen." Auch harmlose Kinderbücher sind vor diesen Zensurbestrebungen nicht sicher: "Mit Hinblick auf DeSantis Gesetz HB1557, das Kritiker auch das 'Don't Say Gay'-Gesetz nennen, hat der Lake County-Distrikt das Buch 'And Tango Makes Three' entfernen lassen, das die Geschichte zweier männlicher Pinguine erzählt, die im Central Park Zoo ein gemeinsames Nest gebaut und ein Pinguin-Baby aufgezogen haben, das ihnen ein Tierpfleger anvertraut hat. Das Buch enthält keinerlei sexuelle Inhalte, nicht einmal zwischen sich einvernehmlich liebenden Pinguinen." Die Gefahr, die von solchen Bücherverboten und Doktrinen ausgeht, ist kaum zu unterschätzen - doch die Demokraten könnten genau diesen Fehler begehen, warnt der Kolumnist: "Die Versuche, sich das Bildungswesen zu eigen zu machen, haben in diesem frühen Stadium ja nur gezeigt, was die Regierung eines einzelnen Bundesstaates bewirken kann. Sollten die Republikaner aber das Weiße Haus und die Mehrheit im Kongress übernehmen, hätten sie weitaus mehr Autorität. Forschungsgelder aus staatlicher Kasse und Subventionen von Studiengebühren geben der Regierung wichtigen Einfluss auf die Institutionen höherer Bildung, sowohl öffentlicher als auch privater Ausrichtung. Es sieht nicht so aus, als hätten die Demokraten schon begriffen, welchen gewaltigen Ambitionen sie gegenüberstehen. Als DeSantis damit begann, eine weitere Verschärfung seiner Restriktionen um das Thema Geschlecht im Unterricht durchzusetzen - ein Gesetzesentwurf, der unter anderem vorsieht, 'bestimmte Materialen' aus dem Lehrplan zu entfernen, bevor sie überhaupt geprüft werden, sollte sich nur der geringste Widerspruch von Elternseite ergeben - haben seine Gegner das als reine Nachgiebigkeit aufgefasst. Demokraten 'sehen es als Versuch von DeSantis, die konservative Basis auf seine Seite zu ziehen und damit letzten Endes die Vorwahlen als Präsidentschaftskandidat zu gewinnen', berichtete Politico. Diese Annahme verkennt, dass es kein simpler Kampagnenslogan ist, politische Kontrolle über Schulen erlangen zu wollen. Es ist ein Plan, Macht in noch mehr Macht zu verwandeln."

A2larm (Tschechien), 13.05.2023



Miloš Hroch berichtet von einem kleinen Youtube-Song, der sich seit einigen Tagen zur Outsider-Hymne mausert und in Slowakei und Tschechien in kürzester Zeit viel Zuspruch geerntet hat: Der neunzehnjährige Slowake mit dem Künstlernamen Vojtik besingt dort in seinem neuesten Song "Detvianský sen" sein Dasein als queerer Rom in der slowakischen Provinz und seine damit verbundenen Zukunftsängste. "Die Stimme unserer Vorfahren lehrt uns stark zu sein und stolz auf unsere Heimat - eine Haufen Lügner, Brüder, die mir zurufen, dass ich nicht hierher gehöre", singt Vojtik in seinem Musikvideo, in dem er sich unter anderem mit kurzem Röckchen, abgeschnittenem lokalem Fußballtrikot und Nationalflagge zeigt. Die Soziologin Lucie Fremlová, die ein Buch über "Queer Roma" veröffentlicht hat, hält den Song geradezu für bahnbrechend für die Slowakei, die deutlich religiöser, konservativer und auch rassistischer als Tschechien sei. Auch weiß sie, dass die Roma-Minderheit und LGBTIQ-Comunity einander nicht automatisch unterstützen. "Auch unter queeren Nicht-Roma, die Erfahrung mit Homophobie gemacht haben, gibt es manche, die rassistische Vorbehalte gegen queere Roma haben. So wie auch heterosexuelle Roma, die Erfahrung mit Rassismus haben, nicht automatisch Verständnis für queere Menschen haben." In dem kleinen Städtchen Detva spielt sich die Zukunft zwischen der Bronzemanufaktur und der ultranationalistischen Kotleba-Partei ab, als einzige Kulturveranstaltung gibt es hin und wieder ein Folklorefest. Vojtik, der von seiner Großmutter in die Roma-Musik eingeführt wurde, mit dreizehn als Prince Timmy Coversongs ins Internet zu stellen begann und heute diverse musikalische Genres mischt, steht gerade vor seiner Abiturprüfung und sagt im Gespräch: "Die Arbeitslosigkeit ist ein großes Problem in der Slowakei, und das gleich doppelt für jemanden, der Rom ist und queer. Meine größte Angst ist, dass ich mir kein Leben in Sicherheit aufbauen kann, wie es jeder Mensch verdient." Aber offensichtlich hat Vojtik einen Nerv getroffen, denn unter seinem Video feiern gerade zahlreiche begeisterte Kommentare seinen Mut.
Archiv: A2larm

Desk Russie (Frankreich), 13.05.2023

Trotz ihrer starken Amerikafixierung spiegeln die europäischen Medien kaum wider, dass es den Streit zwischen Putinisten und Putin-Kritikern auch in Amerika gibt, und dass er angesichts der Figur von Donald Trump und der Tatsache, dass die USA der wichtigste Waffenlieferant der Ukraine sind, erheblich größere Auswirkungen haben kann als hiesige Debatten. Laurence Saint-Gilles liefert einen Überblick über die breite Szene der Putin-Unterstützer in den USA, zu denen ein paar sehr bekannte Namen zählen: "Unter diesen Unterstützern ist es nicht immer leicht, zwischen Einflussagenten mit einer echten Nähe zum russischen Regime und solchen, die aus ideologischer Sympathie handeln, zu unterscheiden. Allerdings sind amerikanische Journalisten aus dem rechten und linken Spektrum, die ihr Renommee in den Dienst des 2005 gestarteten russischen Nachrichtenmediums RT America gestellt haben, wie der ehemalige CNN-Starinterviewer Larry King, Chris Hedges und Ed Schultz, ein Unterstützer von Bernie Sanders, de facto zu offiziellen Propagandisten geworden. Die Tatsache, dass RT Anfang März 2022 aus dem Kabelnetz und von YouTube ausgeschlossen wurde, ist für Russland nur eine kleine Niederlage, denn der Sender war nicht sein größter Propagandasender. Es sind die amerikanischen Medien und Journalisten der nationalistischen Rechten, die diese militante Funktion erfüllen. Seit Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine richten sie sich konsequent nach dem Narrativ Moskaus." Prominente Figuren des braunroten Kontinuums sind auf der Rechten der gerade von Fox gefeuerte Tucker Carlson und auf der (ehemals?) Linken der Blogger Glenn Greenwald, der sich bei Fox gern von Carlson interviewen ließ.
Archiv: Desk Russie

Reuters (USA), 09.05.2023

Die Zahl der Drogentoten ist in Deutschland erneut gestiegen, meldeten neulich die Medien (etwa hier): Fast 2.000 Menschen sind im Jahr 2022 durch Drogengebrauch ums Leben gekommen. In Amerika lag die Zahl der Drogentoten im Jahr 2021 bei 107.000 - umgerechnet auf die Bevölkerung sind das zwölfmal so viel. Drazen Jorgic erzählt in einem Longread für Reuters, wie es zu dieser Zahl kommen konnte: durch Fentanyl, eine synthetische Droge, fünfzig oder hundertmal stärker als Heroin. Schon das Einatmen oder eine Spur auf der Haut können tödlich sein. Die immer stärkere Präsenz dieser Droge, die oft beigemischt wird, ist sozusagen das Meisterstück der vier Söhne Joaquín Guzmáns oder "El Chapos", der in Amerika in einem Hochsicherheitsgefängnis sitzt. Diese "Chapitos" haben in einem Krieg mit der mexikanischen Polizei obsiegt (der mexikanische Präsident López Obrador ließ einen der Söhne, der schon festgenommen war, wieder laufen, weil er die militärische Schlagkraft des Sinaloa-Kartells fürchtete). Die "Chapitos" haben es geschafft, "Mexiko von einem Transitland für in China hergestelltes Fentanyl zu einem wichtigen Produktionszentrum zu machen, so ein halbes Dutzend US-Beamte und DEA-Quellen. Um dies zu erreichen, bauten Chapitos ein Netz von illegalen Labors in ganz Sinaloa auf und steigerten den Schmuggel von chemischen Grundstoffen aus China. Die Einnahmen sind astronomisch. Das Kartell kann chemische Grundstoffe im Wert von 800 Dollar in Fentanyl-Pillen oder -Pulver umwandeln, die Gewinne von bis zu 640.000 Dollar einbringen, heißt es in einer der Anklageschriften vom April, die in New York eingereicht wurde. Mit diesem Geld, so die amerikanische Staatsanwaltschaft, haben die Brüder eine Kriegskasse aufgebaut, mit der sie Politiker und Polizisten bestechen und eine ständig wachsende Armee von Auftragskillern finanzieren, die ihre Interessen schützen." Die vier Söhne haben sich übrigens in einem offenen Brief gegen die Anschuldigungen gewehrt: Sie "bestritten, Beamte getötet oder gefoltert oder Menschen an Tiger verfüttert zu haben".
Archiv: Reuters

Granta (UK), 16.05.2023

Die neue Ausgabe versammelt Geschichten der zwanzig besten jungen britischen Autoren. Sigrid Rausing stellt sie in ihrer Einleitung vor.  Einige sind auch frei geschaltet, darunter Natascha Browns "Universality". Hier der Anfang: Die Geschichte beginnt mit dem jungen Jake, der allein irgendwo in Queensbury vor einem Goldbarren steht. In Wert von einer halben Million Dollar. "Irgendwann in dieser Nacht, oder vielleicht als das Tageslicht am Rande des Horizonts ankam, gelang es Jake, nicht mehr zu schauen, sondern zu denken. Er beschloss zu fliehen. In den Wochen nach Jakes Verschwinden berichteten die Lokalzeitungen von Queensbury und Bradford über die Ereignisse jener Nacht: ein illegaler Rave, die daraus resultierenden drei Krankenhausaufenthalte, erheblicher Sachschaden und eine laufende polizeiliche Untersuchung. Die Geschichte geriet jedoch bald in Vergessenheit, und die nationale Aufmerksamkeit richtete sich auf die Covid-19-Pandemie und die Strategie der Regierung für die schwierigen Wintermonate. Doch die Entschlüsselung der Ereignisse, die zu dieser seltsamen und beunruhigenden Nacht geführt haben, ist der Mühe wert; dahinter verbirgt sich ein modernes Gleichnis, das das ausfransende Gewebe der britischen Gesellschaft offenbart, das durch den unerbittlichen Verschleiß des Spätkapitalismus dünn geworden ist. Der verschwundene Goldbarren ist das Bindeglied zwischen einem amoralischen Banker, einem ikonoklastischen Kolumnisten und einer radikalen anarchistischen Bewegung."
Archiv: Granta
Stichwörter: Rave

New York Times (USA), 09.05.2023

Eine Stunde Lesezeit veranschlagt die New York Times, aber es ist eine packende Lektüre, auch wenn sie in absoluter Traurigkeit endet. Katie Engelhart erzählt die Geschichte der dementen Diane Norelius aus Iowa und des Kampfes ihrer Töchter und ihres Liebhabers um sie. Am Ende sind sie natürlich alle Verlierer - eine Geschichte, die man sich mit Meryl Streep oder Glenn Close als demente Mutter verfilmt vorstellen kann. Die Frage, die Engelhart in ihrer Reportage exemplifiziert, ist eine philosophische. Was ist, wenn das zweite Ich einer Person etwas anderes will, als das erste Ich immer beteuert hat? Das Problem wurde zuerst im Journal of the American Medical Association (JAMA) anhand einer Frau namens Margo ausgelotet, die in ihrer Demenz absolut glücklich war. Aber was ist, wenn sich das "Then self" und das "Now Self" widersprechen? Was wäre gewesen, wenn Margo vor Ihrer Demenz erklärt hätte, keine lebensverlängernden Medikamente bekommen zu wollen, fragt etwa der Philosoph Ronald Dworkin in seinem Buch "Life's Dominion": "Nach Dworkins Ansicht waren es die Wünsche der 'then-Margo', die höheres moralisches Gewicht verdienten. In seinem Buch unterscheidet er zwischen zwei Arten von Interessen: 'erfahrungsbezogen' und 'kritisch'. Ein Erfahrungsinteresse ist reaktiv und körperlich: das Vergnügen, ein Eis zu essen, zum Beispiel. Ein kritisches Interesse sei viel zerebraler; es spiegele den Charakter einer Person wider und wie sie ihr Leben leben wolle. Bei fortgeschrittener Alzheimer-Krankheit, so Dworkin, bestehe die Gefahr, dass kritische Interessen von erfahrungsbezogenen Interessen verdrängt würden. Dennoch seien es die kritischen Interessen, die es verdienten, befriedigt zu werden, denn es seien diese Interessen, die dem menschlichen Leben seinen Sinn und seine Würde gäben - und es sogar in säkularer Weise sozusagen heilig machten." Eine Ansicht, der in der Literatur selbstredend heftig widersprochen wird.
Archiv: New York Times