Im Gespräch mit Tomáš Maca
sinniert der tschechische, in Berlin und Prag lebende
Schriftsteller Jaroslav Rudiš über ostdeutsche und tschechische Unterschiede und Gemeinsamkeiten, besonders was die Desillusionierung
nach 1989 betrifft: "Ich glaube, viele Tschechen verbanden
Demokratie mit Konsum. Nicht wenige stellten sich die Freiheit so vor, dass sie endlich alles haben können, was es im Westen gibt. Ab den 90er-Jahren kursierte hier oft das Versprechen, wir würden die gleichen
Gehälter wie in Westdeutschland haben. Das hat sich aber nicht einmal in Ostdeutschland bewahrheitet. (…) Ich frage mich also, woher die Frustration kommt, denn im Großen und Ganzen geht es uns recht gut. Auch bei uns im Böhmischen Paradies [Region im Nordosten Tschechiens] sind die
Gasthäuser voll, die Leute leben Kultur, fahren in Urlaub oder gehen in die Sauna. Vielleicht gehört das
ewige Nörgeln einfach zu unserem Wesen, und deshalb lohnt es sich, ab und zu einmal ein ärmeres Land zu besuchen, um sich bewusst zu machen, dass wir nicht so schlecht dran sind. (…) Mir scheint, dass sich für manche deutschen Bundesländer der Regierungswechsel nach dem Fall der Mauer womöglich
radikaler ausgewirkt hat als bei uns. In Deutschland hat man zwar nicht das Problem der Oligarchen, das Tschechien belastet, aber wenn man einmal
in Sachsen auf dem Land unterwegs ist, stellt man fest, dass dort ein Ort der Größe von Lomnice nad Popelkou [Rudiš' Heimatort]
halb tot wirkt. Die Hälfte der Einwohner hat ihn verlassen, sodass man gerade mal ein Wirtshaus und einen Supermarkt findet, aber weder Kino noch Autobusse noch eine Eisenbahnverbindung, was in Lomnice etwas völlig Normales ist." Rudiš ist dafür bekannt, dass er seine Geschichten aus den Alltagsgesprächen in der Provinz, in Kneipen und in der Sauna schöpft. Auf die Frage des Interviewers, was denn Rudiš' Saunakumpel mit seinen Auslassungen über die große weite Welt anfangen können, antwortet dieser: "Vorsicht, in diese Sauna kommen eine Menge Leser. Unterschätzen Sie die nur nicht … Zuerst diskutieren wir über das Derby Sparta gegen Prag vom Vortag, dann über Kafkas Schloss und zum Schluss kommen wir darauf zu sprechen, wo das beste Bier gezapft wird."