Magazinrundschau - Archiv

Blätter f. dt. u. int. Politik

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Magazinrundschau vom 18.01.2022 - Blätter f. dt. u. int. Politik

In einem sehr grundsätzlichen und weit ausholenden Artikel blickte der Historiker Eckart Conze in der Dezember-Ausgabe noch einmal auf die Debatte um das Deutsche Kaiserreich, in dem bekanntermaßen seine Kollegin Hedwig Richter, aber auch andere so etwas wie positiven Fortschrittsgeist entdecken wollen. Conze sieht in solcher Weichzeichnung eine grundsätzliche "erinnerungskulturelle Rechtswende": "Zusammen mit der Debatte über den Kriegsbeginn 1914 deutet auch die öffentliche Kontroverse über die Hohenzollern auf ein sich veränderndes geschichtspolitisches Klima. Sie ist Teil einer neuen Auseinandersetzung der Deutschen über ihre nationale Geschichte, die mit der deutschen Vereinigung 1990 begonnen hat und die durch die gegenwärtigen Dynamiken einer Renationalisierung erneut befeuert wird. Es geht, stets mit Blick auf die deutsche Gegenwart, einmal mehr um die für die Geschichte des ersten deutschen Nationalstaats, des Deutschen Reichs, zentrale Frage nach Kontinuität und Diskontinuität zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Der Versuch, ein kritisches Bild des Kaiserreichs zu entsorgen, es als 'normale Nation' darzustellen, wird einfacher, wenn man das Kaiserreich einschließlich seiner Eliten und seiner herrschenden Dynastie abtrennt vom Nationalsozialismus."

Magazinrundschau vom 13.07.2021 - Blätter f. dt. u. int. Politik

Dass Boris Johnson ein nonchalantes Verhältnis zur Wahrheit hat, ist jedem klar, der ihn auch nur von ferne beobachtet. Für Annette Dittert, London-Korrespondentin der ARD, haben die Lügen allerdings System und treffen in Britannien auf eine politische Struktur, die viel angreifbarer ist als die der USA mit ihren "Checks and Balances". Denn Britannien mit seiner ungeschriebenen Verfassung setzt voraus, dass es von Ehrenmännern und -frauen regiert wird (der Begriff dafür heißt "Good-Chaps-Prinzip"). Bemerkenswert ist, dass Dittert nicht wie üblich das Internet für die Lockerung der politischen Sitten verantwortlich macht. Schlimmer sind die traditionellen Medien, zum einen die Zeitungen in der Hand Rupert Murdochs und anderer Oligarchen, die keine Kritik an Johnson aufkommen lassen, zum zweiten aber auch die BBC, die durch die Angriffe von Johnson und Co. starr vor Angst sei. So gab man Tory-Politikern in der BBC ausgiebig Gelegenheit, ein 25 Jahre altes, unter äußerst dubiosen Umständen zustande gekommenes Interview mit Lady Di zu kritisieren. "Die zahlreichen Versäumnisse, Fehler und Lügen der Johnson-Regierung hingegen werden deutlich sparsamer oder gleich gar nicht mehr angefasst. Besonders eklatant ist hier die so gut wie nicht existierende Berichterstattung über die zunehmenden Korruptionsfälle innerhalb der britischen Ministerien. Als vor kurzem Alastair Campbell, der ehemalige Pressemann Tony Blairs, in der BBC darauf hinwies, entgegnete ihm die Moderatorin: 'Aber den Leuten ist das doch egal!' Eine direkte Übernahme des regierungseigenen Spins und ein eklatantes Missverständnis ihrer Rolle. Denn falls das tatsächlich so sein sollte, wäre es die erste Aufgabe der BBC, dafür zu sorgen, dass es den 'Leuten' nicht mehr egal ist."

Magazinrundschau vom 11.12.2018 - Blätter f. dt. u. int. Politik

Der Universalismus der Menschenrechte gerät von allen Seiten unter Beschuss, konstatiert Marc Engelhardt, auch mit Blick auf den Migrationspakt. Bei den Vereinten Nationen agitiert vor allem China gegen die Menschenrechte, pocht auf Nichteinmischung und versucht, die Menschenrechte entweder zu einer Kulanz umzudenten, die der Staat bei Wohlverhalten gewährt, oder zu einem westlichen Konstrukt: Nach westlichen Standards "wären Menschenrechte auch für jeden Chinesen qua Geburt verbrieft. Doch in der Volksrepublik werden sie derzeit vom Staat verliehen - und auch wieder entzogen. Inzwischen stößt diese autoritäre Version von Menschenrechten auch außerhalb Chinas auf Zustimmung. Im UN-Menschenrechtsrat beglückwünschten Vertreter afrikanischer, südamerikanischer und asiatischer Staaten Peking ganz offen zu seinen Menschenrechtsstandards. Nicht wenige dankten gleichzeitig für die großzügige Entwicklungshilfe, die aus China in ihre Länder überwiesen wird. Dieser massive Zuspruch machte es [Chinas Vize-Außenminister] Le Yucheng leicht, die wenigen offenen Kritiker wie Deutschland, Frankreich, Kanada, die USA und Australien als 'einige wenige Staaten' abzukanzeln, die kein Interesse an einem 'konstruktiven Dialog' hätten."

Weiteres: Die grüne EU-Abgeordnete Julia Reda fürchtet mit dem Europäischen Leistungsschutzrecht eine Privatisierung von Sprache, das selbst einzelne Wörter und kleinste Textausschnitte lizenzpflichtig machen will - also etwa Überschriften ohne jede Schöpfungshöhe wie "Mehrere Tote bei Erdbeben".

Magazinrundschau vom 22.08.2017 - Blätter f. dt. u. int. Politik

Die Blätter haben Wendy Browns Democracy-Lecture über Donald Trump online gestellt. Die amerikanische Soziologin erklärt darin, dass es die Deklassierten sind, die Trump an die Macht gebracht haben, die entthronten Weißen, die erst um ihre Arbeit, dann gegen die Politik aufgebracht wurden: "Zusammengenommen haben die offene neoliberale Verunglimpfung von Politik und der Angriff auf demokratische Institutionen, Werte und Vorstellungswelten sowie die Attacke auf öffentliche Güter, das öffentliche Leben, soziale Gerechtigkeit und eine gebildete Bürgerschaft also einem antidemokratischen, antiegalitären Populismus den Boden bereitet, der von Angst, Statusverlust und verletztem Weißsein befeuert wird. ... Diese Antipolitik ist indes keineswegs antietatistisch. Denn die Macht des Staates will Trump nur allzu gerne einsetzen - allerdings nicht als Politiker, sondern als knallharter Geschäftsmann, der allem ein Ende bereitet, was nicht die zentrale Stellung des Landes und seinen Schutz im Wettbewerb zur obersten Priorität macht. Alles, was Unternehmen in ihrem wirtschaftlichen Handeln lähmt, steht diesem Streben im Wege: Gesetze, demokratische Verfahren, Gewaltenteilung, interner Widerstand, Opposition, Forderungen nach Transparenz und schlechte Presse - all dies möchte Trump überwinden, beenden, zum Schweigen bringen oder aussperren. Kurz gesagt: all jene Prinzipien, die aus der Demokratie überhaupt erst eine Demokratie machen."

Magazinrundschau vom 01.11.2016 - Blätter f. dt. u. int. Politik

Unter dem Titel "Das Ende der Gesellschaft", den er selber "etwas clickbaiterisch" nennt, denkt Sascha Lobo über den von Internet und sozialen ausgelösten Strukturwandel der Öffentlichkeit nach. Facebook ist für ihn ein formidabler Verstärker von Verschwörungstheorien. Die Nutzer zappeln in ihren Filter Bubbles und wissen gar nicht mehr, was wirklich ist. Lobo endet düster: "Es scheint wieder möglich, was lange kaum möglich schien - eine politische Bewegung in Deutschland von maßgeblicher Größe, Kraft und Wirkung, die den Furor des Extremismus mit der Institutionalisierung des Mobs verbindet. Wir müssen als Demokraten höllisch aufpassen, dass uns nicht die Instrumente der Aufklärung entrissen werden, umgedeutet werden und mit aller Radikalität menschenfeindliche Ideologien vorangetrieben werden."

Magazinrundschau vom 09.12.2014 - Blätter f. dt. u. int. Politik

Wer Thomas Pikettys Berliner Democracy Lecture vor einem Monat verpasst hat, kann sie nun auf der Website der Blätter nachhören. Piketty erklärt darin noch einmal, warum die Vermögen immer schneller anwachsen als die Wirtschaft insgesamt, wenn nicht staatlich gegengesteuert wird. Und er ruft zu einer allseitigen intellektuellen Kraftanstrengung auf, um die Ökonomie nicht den Ökonomen zu überlassen: "Es ist ja sehr bequem zu sagen: Ich weiß und verstehe nichts von Ökonomie. Denn es erlaubt, sich mit diesen Fragen nicht zu befassen, sich nicht zu engagieren und keine Verantwortung zu übernehmen. Ich glaube und hoffe daher, dass der Erfolg des Buches zu der Einsicht beiträgt, dass die ökonomischen und finanziellen Fragen, die Fragen nach der Geschichte von Einkommen, Vermögen und Vermögensvererbung viel zu wichtig sind, um sie den Ökonomen zu überlassen, den Statistikern oder auch den Politikern. Diese Fragen stehen im Zentrum der Demokratie."

Außerdem: Wolf-Dieter Vogel beschreibt, wie Mexiko zu einem Mafiastaat verkommt und sich die Regierung vor allem um diplomatische Schadensbegrenzung bemüht. Albert Scharenberg versucht, die Flutwelle negativer Berichte zu überblicken, unter der die Regierung Obama zu versinken droht.

Magazinrundschau vom 09.09.2014 - Blätter f. dt. u. int. Politik

In einem sehr interessanten Text beschreibt Bernd Rheinberg nicht nur, wie mit dem Islamischen Staat aus dem Krieg gegen den Terror quasi wieder ein symmetrischer Krieg wird. Er zeigt auch, dass die Milizen ein Produkt des globalen Gewaltmarktes sind: "Die Bürgerkriege in Libyen und Syrien haben dies besonders gezeigt. Sie strahlen folgenschwer in die benachbarten Regionen aus. Von der Levante über Nordafrika bis zur Sahelzone ist ein gigantischer Gewaltmarkt entstanden, in dem Schmuggel, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel die einträglichsten Geschäftszweige sind - und mithin auch lukrative Einnahmequellen für Gruppen mit ganz großen Zielen. Die New York Times hat jüngst errechnet, dass allein im Jahr 2013 rund 66 Millionen US-Dollar von europäischen Regierungen an verschiedene Al-Qaida-Gruppen gezahlt worden sind. Das Geld wird allerdings nie als Lösegeld deklariert, sondern als humanitäre Hilfe. Die Öffentlichkeit erfährt davon in der Regel nichts. Das Geschäft wird über Mittelsmänner abgewickelt."

In Europa hat der Gaza-Krieg antisemitische Hemmschwellen sinken lassen, konstatiert Micha Brumlik, im Nahen Osten aber die Rationalität. Israels Armee und die Hamas führten lieber gemeinsam Krieg gegen die palästinensische Zivilbevölkerung, als dass sie von sich aus Frieden schlössen: "Daher wäre es an der Zeit, dass die weltpolitisch (noch) sich als zuständig begreifenden Mächte - USA, Russland und die EU - Israel und den Palästinensern eine Zweistaatenlösung diktieren. Die politischen Hebel liegen bereit: So müssten die USA nur ihre Kredite und Waffenlieferungen (2013 waren das immerhin 3,1 Mrd. US-Dollar) an die ultrarechte Koalitionsregierung in Jerusalem einfrieren, während andere westliche Staaten ihre Beziehungen zu den Förderern der Hamas, etwa zu Katar einzustellen hätten - und sei es durch eine Absage der Fußballweltmeisterschaft 2022."

Weiteres: András Bruck schreibt über den Antisemitismus in Ungarn. Norbert Mappes-Niediek erklärt die Ökonomie der Armut bei den Roma.

Magazinrundschau vom 12.08.2014 - Blätter f. dt. u. int. Politik

Albrecht von Lucke zeichnet im Vergleich von Jürgen Habermas und Frank Schirrmacher nach, wie sich die Rolle des Intellektuellen in Deutschland verändert hat und wie sich der intellektuelle Diskurs von der Universität in die Medien verschob. Vor allem sei in der Ära Schirrmacher die Macht wieder zu einer zentralen Kategorie der Öffentlichkeit geworden: "In Jürgen Habermas und Frank Schirrmacher begegnen uns zwei völlig unterschiedliche Wege und Strategien, die eine Menge aussagen über die gegenwärtige intellektuelle Lage im Lande. Habermas ging in der Tradition der Frankfurter Schule den Weg der Schulbildung, Schirrmacher den der Netzwerkbildung. In seinem Fall trifft der von Jürgen Habermas erhobene Vorwurf zu, der Intellektuelle "sollte den Einfluss, den er mit Worten erlangt, nicht als Mittel zum Machterwerb benutzen, also "Einfluss" nicht mit "Macht" verwechseln". Gerade mit der Machtfrage hatte Schirrmacher früh sein Lebensthema gefunden - und mit der Rolle des FAZ-Herausgebers die ideale Position."

Seyla Benhabib rekapituliert zudem in einem instruktiven Text die Geschichte der Kritischen Theorie als Kritik und Krisentheorie.

Magazinrundschau vom 26.11.2013 - Blätter f. dt. u. int. Politik

Viel zu verzagt findet András Bruck, wie Linke und Intellektuelle in Ungarn gegen Viktor Orbán aufbegehren. Denn dessen Regierung, meint Bruck, hat den Ungarn ihr Land geraubt und eine besonders hässliche Diktatur errichtet: "Eine Diktatur ist niemals schön, aber diese jetzige ungarische Version ist besonders widerlich. Nicht ihre Brutalität ist es, die wirklich erschüttert, sondern ihre Unehrlichkeit. Denn ohne jeglichen Ehrenkodex gibt es keine Politik, keinen Politiker, und eine Demokratie erst recht nicht. Im Gegensatz zu Kádárs System, dessen Grundlage die pure Kraft war, die Gewalt, die unter Zwang fremden Interessen dienen musste, besteht die Basis diesmal in Manipulation, Lüge und Betrug ... Kádárs Diktatur hat zwar mehr verboten, sie hat gröber und tiefer in unser Leben eingegriffen, trotzdem war sie korrekter als die von Orbán. Das damalige System war identisch mit sich selbst, das heutige ist es nicht. Damals wurde mir der Pass abgenommen, an der Grenze wurde ich durchsucht, der Parteisekretär machte mich schriftlich auf meine 'nachlässige Körperhaltung' auf der Produktionsversammlung aufmerksam, was ich lächerlich und grauenvoll zugleich fand, und trotzdem, im Vergleich zu dem hier waren die damals Ehrenmänner."

Magazinrundschau vom 31.07.2012 - Blätter f. dt. u. int. Politik

In einem mehrteiligen Essay bilanziert Arundhati Roy, was zwanzig Jahre ökonomischer Liberalisierung Indien gebracht haben. Von "Trickle Down" kann keine Rede, das Geld sprudelt vielmehr von unten nach oben in die Taschen der Industriellen und Großgrundbesitzer, der Ambanis, Tatas und Mittals, während neunzig Prozent der Inder ohne soziale Absicherung arbeiten: "Das alles befindet sich im Einklang mit dem Gush-up-Evangelium: 'Je mehr du besitzt, desto mehr kannst du kriegen!' Die Ära der Privatisierung hat die indische Ökonomie zu einer der weltweit am schnellsten wachsenden gemacht. Und doch zählen mineralische Rohstoffe zu Indiens Hauptexportartikeln - wie in jeder guten alten Kolonie. Bei Indiens neuen Megakonzernen handelt es sich um diejenigen, die sich den Direktzugang zu dem Zapfhahn erkämpft haben, aus dem Geld sprudelt, Geld, das tief aus dem Erdinnern befördert wird. Hier wurde wahr, wovon Geschäftsleute träumen - verkaufen zu können, was sie selbst nicht zuvor erwerben mussten. Die andere Hauptquelle unternehmerischen Reichtums entspringt den Ländereien, die diese Leute gehortet haben. Überall in der Welt waren schwache, korrupte Staaten und Verwaltungen Wallstreet-Brokern, Agrobusiness-Firmen und chinesischen Milliardären dabei behilflich, riesige Landflächen in ihre Hände zu bekommen... Dass Privatbesitz heilig ist, gilt niemals für die Armen."

Im zweiten Teil, der im August-Heft erscheint und bisher noch nicht online steht, feuert Roy gegen die philanthropischen Stiftungen großer Konzerne und westliche Feministinnen, die den antikapitalistischen Frauenbewegungen der armen Länder die Solidarität aufgekündigt hätten.