Magazinrundschau - Archiv

Elet es Irodalom

577 Presseschau-Absätze - Seite 2 von 58

Magazinrundschau vom 16.01.2024 - Elet es Irodalom

Der Publizist János Széky denkt über die Verantwortung der Demokraten in einer Demokratie nach und über das Fehlen von Demokraten in Ungarn. Die Antwort auf die Frage, warum die Ungarn eine Aushöhlung ihrer Demokratie durch Orban zugelassen haben, "liegt meines Erachtens darin, dass uns die Instrumente fehlten und fehlen, um Schurkerei, Verrat und politische Verleumdung zu erkennen. Ein zu großer Teil der politischen Öffentlichkeit weiß nicht, wie eine Demokratie aussieht, also kann es keine Demokratie geben. Abstrakter ausgedrückt: Timothy Snyders Buch über Tyrannei zeigt den Irrglauben auf, dass die Institutionen der Freiheit sich automatisch selbst verteidigen, sowie das falsche Vertrauen, dass die Kräfte, die die Freiheit beseitigen wollen, sich an die Spielregeln halten. Mitnichten! Die Institutionen der Freiheit, wie freie und faire Wahlen, Gewaltenteilung, eine freie Presse und die Organisation der Zivilgesellschaft, müssen mit ständiger Anstrengung, Wachsamkeit und Bewusstsein verteidigt werden. Von diesem Bewusstsein und dieser Anstrengung ist in Ungarn wenig zu spüren. Vielleicht schwächt der Durchbruch von allerlei Populismen zusammen mit der Entwicklung der Informationstechnologie die Position der Freiheit in der ganzen Welt auf fatale Weise. Aber 'wir Ungarn', um die vom ersten Mann des Landes so geliebte Wortbildung zu verwenden, geben bereits ein Beispiel."

Magazinrundschau vom 09.01.2024 - Elet es Irodalom

Die Nachdichtungen Franz Fühmanns von ungarischer Poesie ins Deutsche gelten in vielen Fällen als die am besten geglückten Lyrikübersetzungen. Doch liegen sie inzwischen teilweise mehr als 50 Jahre zurück und damit stellt sich die Frage nach Neuübersetzungen und veränderten Zusammenstellungen. So beschäftigt sich der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Gábor Schrein mit der neuen deutschen Übersetzung der ungarischen Dichterin Ágnes Nemes Nagy zu ihrem 100. Geburtstag ("Mein Hirn ein See") durch Orsolya Kalász und Christian Filips: "Die Grundfrage für Orsolya Kalász und Christian Filips muss gewesen sein, was es braucht, um die Poesie von Ágnes Nagy Nemes aus dem respektablen Schweigen, das am Rande der Anerkennung liegt, herauszuholen. Ihre Antwort ist eindeutig und klar. Sie sahen die Übersetzungsmöglichkeiten als eine Quelle der Freiheit. Sie fühlten sich der Rezeption von Nagy Nemes in Ungarn in keiner Weise verpflichtet und wollten daher nicht auf Deutsch darstellen, wie Nagy Nemes heute von der ungarischen literarischen Öffentlichkeit verstanden wird, was keineswegs eine naheliegende Entscheidung ist (…). Orsolya Kalász und Christian Filips haben also nicht nur versucht, die einzelnen Gedichte im Kontext der zeitgenössischen poetischen Situation neu zu interpretieren, sondern auch die Lyrik von Nemes Nagy als kulturelles Phänomen neu zu interpretieren. Das bedeutet auch, dass ihre Perspektive nicht die von Franz Fühmann angesprochene, in ihrer konkreten Ausprägung schwer fassbare Universalität der Weltpoesie einschließt und dass in ihrer Übersetzungspraxis die Balance zwischen Original- und Rezeptionssprache zugunsten der letzteren verschoben wird. Sie verstanden die Praxis der Nachdichtung radikaler als Fühmann, und in dieser Hinsicht erweisen sie sich als seine Nachfolger."

Magazinrundschau vom 19.12.2023 - Elet es Irodalom

Bei der diesjährigen Verleihung des Europäischen Filmpreises in Berlin wurde der Regisseur Béla Tarr mit dem Ehrenpreis des EFA ausgezeichnet. Auch seine Rede war eine der besten auf dieser Veranstaltung, lobt der Kritiker György Báron: "Tarr war der Einzige auf dieser Messe der Eitelkeiten, der ernsthaft sprach, und das gab der leichtgewichtigen Gala unerwartetes Gewicht und Bedeutung. Zunächst sprach er darüber, warum zum Teufel man Filme macht, und dann, damit zusammenhängend, welchen Rat er jungen Menschen gibt: Sei du selbst, finde deinen eigenen Weg. Das sei das Einzige, was zähle, nicht das Geld, schließlich könne man auch mit dem Handy drehen, auf dem Heimcomputer schneiden und die Zuschauer im Internet erreichen. "Scheiß auf die Industrie", sagte er auf einer Veranstaltung, bei der es naturgemäß mehr um Industrie und ums Geschäft als um Kunst ging. In der heutigen Krise erinnerte er die Zuschauer in ihren schwarzen Krawatten und kleinen und großen Schwarzen daran, worum es beim Film geht und was zu verblassen scheint: dass er einst Kunst war und nicht verschwinden darf. Seid frei! - beendete er seine Rede über die Verantwortung der Schreiber, gefolgt von einer stehenden Ovation, die noch länger war als die erste. In diesen kurzen drei Minuten spürte die sich selbst feiernde Filmgemeinde und mit ihr die seriöse, zum Teufel geschickte Branche etwas von der Größe, die sie einst angestrebt und dann auf dem roten Teppich zurückgelassen hatte."

Magazinrundschau vom 12.12.2023 - Elet es Irodalom

Die aus Siebenbürgen stammende Dramaturgin und Dichterin Ágnes Kali spricht im Interview mit Nikolett Antal u.a. über Wege, die klassische Rolle des Theaters aufzubrechen. "Ich denke, es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine ist, dass ein Kulturschaffender daran arbeitet, in die kulturelle Elite hineinzukommen, oder aber, wenn man schon drin ist, aus Elite herauskommen will. Ich befinde mich in einem Ausstiegskampf, und das schon seit drei Jahren. Es liegt nicht daran, dass ich die Menschen nicht mag oder die Leute, mit denen ich zusammenarbeite oder die Art von Aufführungen, die wir machen. Es ist das System, mit dem ich ein Problem habe und das ich in Frage stelle (...) Ich frage mich oft, was eine Aufführung einem geben kann, außer sich an einem Samstagabend fein zu machen, eine Karte für zwanzig Euro zu kaufen, sich hinzusetzen und die Aufführung zu sehen. Es ist eine schöne Zeit und stärkt unsere eigene intellektuelle Position. Aber dann gehen wir genauso nach Hause und es passiert nichts. Ich denke, das ist immer noch ein passiver Zustand. Die Aha-Erlebnisse und -Momente erfordern auch eine passive Zuschauerposition. Aber als Kulturschaffende habe ich ständig das Gefühl, dass wir etwas gegen diese Passivität tun müssten."

Magazinrundschau vom 28.11.2023 - Elet es Irodalom

Vor zwei Wochen wurde an der Budapester Corvinus Universität ein Hochschullehrer fristlos entlassen, weil er in einem Prüfungsfall eine ethische Untersuchung forderte. In besagtem Fall wurde einem Kind eines regierungsnahen Geschäftsmannes eine unbeaufsichtigte Prüfung abgenommen, bei der der Kandidat die Prüfung bestand. Die Budapester Corvinus Universität war die erste Universität, die von der gegenwärtigen Regierung in eine Stiftungsuniversität umgewandelt und dessen Kuratorium mit Regierungsvertretern und regierungsnahen Oligarchen aufgefüllt wurde. Zwar gab es Proteste seitens einiger Studenten und Dozenten gegen die Entlassung, sowie gegen die Prüfungspraktiken, die aber ohne jegliche Konsequenzen verhallt sind. Der Rechtssoziologe Zoltán Fleck erklärt, wie es zu diesem Erodieren der Werte an Universitäten kam: "Nur der totale Rückzug aus allen Wertentscheidungen, Weltanschauungen und aus der Verantwortung führt zum Verderben der ursprünglichen und heute noch wesentlichen Aufgabe der Universität. Es sind nicht die Wertediskussionen in den Klassenzimmern, die heutzutage das Problem darstellen, sondern eine alltäglich spürbare gravierende intellektuelle Demotivation sowie die Gleichgültigkeit gegenüber Werten. Die Erziehung zu einem bewussten und verantwortungsvollen Staatsbürger, die Stärkung demokratischer Attitüde und die Verbindung mit der Welt zersplittern das sklerotische Skelett der heutigen Universität. Ein furchtloses, kritisches Verständnis von Werten, der Erwerb des für eine professionelle und verantwortungsbewusste Meinungsbildung erforderlichen Wissens und ein Bewusstsein für die Bedeutung dieser Prozesse für das Leben und das Wohlergehen menschlicher Gemeinschaften - das ist es, was Hochschullehrer (auch) fördern sollten. Dies kann sicherlich nicht an Orten geschehen, an denen Möglichkeiten für moralisches Verhalten eliminiert und durch Angst ersetzt werden."

Magazinrundschau vom 21.11.2023 - Elet es Irodalom

Der Ökonom und Publizist István Tömpe charakterisiert das Wirken des ungarischen Regimes - auch als "System der nationalen Kooperation" (NER) bezeichnet - im Bereich der Kultur: "'Dem 'System der nationalen Kooperation' - NER ist es bisher nicht gelungen, eine rechte Leitkultur zu schaffen. Seine Macht liegt in seiner Intervention, seinem Verbot der Verbreitung, seiner Ablehnung von Ressourcenverteilung und seinen Übernahmen. Die absurde Finanzierung seiner Lieblinge hat zu einem ähnlichen Ergebnis geführt wie im Fußball. Trotz der zahlreichen Ernennungen gibt es im Kultursystem keinen kulturellen Leiter, den man lieben oder hassen könnte, obgleich die derzeitigen Direktoren die Öffentlichkeit mit pompösen und parvenühaften Aussagen unterhalten, während der Samtstuhl ihre Hosen warmhält. Das System mag sogar eine Gegenkultur begünstigen, aber diese ist unangenehm machtfeindlich. Es ist unwahrscheinlich, dass das Lied bis in die Ohren der Mehrheit vordringt, wenn es um aggressives Metal oder rechtsradikale Aufmärsche geht, und so bleiben stattdessen die bekannten ungarischen Hits aus der Vergangenheit. Der glorreiche Prozess der literarischen Kanonisierung wird durch die Tatsache behindert, dass die Anhänger nicht lesen. Es gibt zwar immer wieder Versuche, die Bühne zu besetzen, aber es gibt nur wenige starke Texte in den Händen der loyalen Regisseure. (…) Außerhalb des Unterhaltungsgenres sind Film- und Fernsehexperimente mäßig erfolgreich, dramatisierte Aufarbeitungen der kommunistischen Vergangenheit sind Amateurproduktionen von schlechter Qualität, und die aufwendigen historischen Filme zehren am Budget des Filmfonds. Die unabhängige Filmszene, die aus dem NER-Paradies verdrängt wurde, produziert inzwischen erneut spannende Werke und hat internationalen Erfolg."

Magazinrundschau vom 31.10.2023 - Elet es Irodalom

Der Schriftsteller György Odze beklagt latenten Antisemitismus in Ungarn im Rahmen der Berichterstattung über den Krieg im Nahen Osten: "Ich bin also ein säkularer Jude, freilich auch voreingenommen. Ich praktiziere keine Religion, die Feiertage habe ich ungefähr im Kopf und betrachte mich im Wesentlichen als Ungar. Meine Großeltern hätten gewollt, dass ich 'zur Sicherheit ein jüdisches Mädchen heirate', aber zu Hause, in unserem Haus, war Diskriminierung oder Ausgrenzung von welchen Seiten auch immer nie ein Thema. Doch in Zeiten von 'Konflikten', wenn ich das Gefühl habe, dass es ein Gefühl der Antipathie gegenüber Juden gibt, und öfter 'einerseits - andererseits' höre und 'lasst uns die andere Seite des Problems auch betrachten', ganz zu schweigen von dem abfälligen 'sie sind auch keine Engel', in solchen Zeiten also denke ich, dass es einen versteckten Gedanken gibt, dass es nicht sein darf, dass die Juden mal wieder von der Sache profitieren. Nun, sie profitieren davon nicht."

Magazinrundschau vom 17.10.2023 - Elet es Irodalom

János Széky staunt über die deutlichen Reaktionen der ungarischen Regierung auf den Angriff der Hamas auf Israel. "Es scheint, dass die ungarische Regierung doch Recht von Unrecht unterscheiden kann. Kein 'sofortiger Waffenstillstand', kein 'lasst die Verhandlungen beginnen', kein slawischer (oder in diesem Falle antisemitischer) 'interner Krieg', der uns nichts angeht, kein 'wir können über Kriegsverbrechen nach dem Krieg sprechen'. Das ist die Stimme der Normalität, des gesunden Menschenverstandes, die in ihren Erklärungen zum russischen Krieg gegen die Ukraine so schmerzlich und beschämend fehlte (...) Bevor sich jemand aber Illusionen über eine Art plötzliche Ernüchterung macht und glaubt, dass die Regierung die Situation schnell durchschaut und festgestellt hat, dass die Wahrheit auf Israels Seite ist, möchte ich darauf hinweisen, dass sie schon immer in der Lage war, Recht von Unrecht zu unterscheiden. (…) Es ist ihr nur egal. Gäbe es ein geschäftliches Interesse an der Hamas, würden die Verurteilungen nicht so laut ausfallen. Aber wie im russisch-ukrainischen Krieg mit Putins Klientel, so hat Orban in diesem Dauerkonflikt ein geschäftliches Interesse an Netanjahu, zumindest im weiteren Sinne, insofern, als die maximale Konzentration seiner eigenen Macht ein Geschäft ist (das sich schließlich in finanziellen Gewinn ummünzen lässt). Das wäre nicht möglich gewesen ohne die politischen Berater, die er mit Netanjahu teilt, und auch nicht ohne die Software Pegasus, die er gegen interne Kritiker einsetzen kann und die ihm Netanjahu vermittelt hat. Es ist ein glücklicher Zufall, dass das Interesse am gegenwärtigen Krieg mit dem übereinstimmt, was Menschlichkeit und Anstand, ganz zu schweigen von den aktuellen Werten der westlichen Zivilisation diktieren."

Magazinrundschau vom 10.10.2023 - Elet es Irodalom

Der aus der Wojwodina stammende Schriftsteller György Szerbhorváth schreibt über den in der Wojwodina lebenden Schriftsteller László Végel und beleuchtet dabei auch Végels konsequente Skepsis gegenüber dem "Mutterland" samt der Hauptstadt Budapest: "Sagen wir, Végels Kossuth-Preis und seine kürzliche Mitgliedschaft in der ungarischen Akademie unterstützen die Logik der Ausgrenzung nicht, aber ich kann nur eine (Gegen-)Geschichte zum Verständnis anbieten (...) Der Schlüssel zum Geheimnis ist vielleicht, dass die Südslawen, die Post-Jugoslawen (nennen wir sie, wie wir wollen) ihn tatsächlich - sogar in Übersetzungen - besser verstehen als die Ungarn. Das ist Végels Kummer, aber ich denke, es ist nicht so schlimm, dass ein Segment der ungarischen und serbischen, kroatischen (usw.) Kultur irgendwo eine gemeinsame Basis findet, denn von den Rändern aus (Teil seiner Selbstdefinition) sieht er etwas anderes und zeigt etwas anderes, das bei den Zeitgenossen, die nach Jugoslawien heimatlos wurden, mitschwingt. (...) Vielleicht hat Végel das Gefühl, dass Budapest ihn nicht so akzeptiert, wie er es gerne hätte, weil seine ex-jugoslawischen Zeitgenossen ihn besser verstehen."

Magazinrundschau vom 26.09.2023 - Elet es Irodalom

Der Kunsthistoriker József Mélyi gratuliert dem Schriftsteller und Historiker György Dalos voller Anerkennung zum 80. Geburtstag: "Das Wort 'Autorität' kommt mir jetzt in den Sinn, obwohl er weder damals noch offensichtlich heute wenig bis gar keinen Wert auf 'Autorität' legte. In den späten neunziger Jahren war ich am meisten von seiner kulturellen Autorität in Deutschland beeindruckt, von der Vorstellung, dass seine Meinung jederzeit in den Feuilletons der großen Tages- und Wochenzeitungen erscheinen konnte; dass alle Größen der Literatur gerne mit ihm sprachen, dass ein Ministerpräsident oder der künftige Staatschef seinen politischen oder kulturellen Betrachtungen mit Interesse zuhörten. Nur wenige Ungarn vor und nach ihm haben das geschafft - in den 1990er Jahren Eörsi, Konrád, Esterházy, Heller - und heute fallen mir neben ihm vielleicht drei oder vier solche Größen ein.  (...) Eigentlich ist es traurig, wenn man bedenkt, dass Dalos seit vielen Jahren in Deutschland weitaus mehr Ansehen genießt als in Ungarn. Er wird dort in Jurys eingeladen, seine Bücher werden in wesentlich größerer Zahl veröffentlicht, er wird nach seiner Meinung zum Weltgeschehen gefragt, während er in Ungarn schon lange keinen Staatspreis mehr erhalten darf. Aber György Dalos - der beste Rhetoriker und der kritischste Redakteur, den ich kenne - würde sicher sagen, dass dieser Satz nicht an das Ende eines Toasts passt, also schreibe ich ihn hier (…): Ich bin auch zuversichtlich, und alles Gute zum Geburtstag!"
Stichwörter: Melyi, Jozsef, Dalos, György