Magazinrundschau - Archiv

En attendant Nadeau

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Magazinrundschau vom 05.04.2022 - En attendant Nadeau

Als sehr nützlich erweist sich ein Kompendium, das eine ganze Reihe von Historikern gegen Eric Zemmours Geschichtsklitterei zusammengestellt hat und viele der von Zemmour verbreiteten Geschichtslügen von König Chlodwig über den "Genozid" in der gegenrevolutionären Vendée bis hin zu Pétain so gern verbreitet. Solène Minier stellt es vor. Was sie über Zemmours Bild von Algerien schreibt, erinnert an Putins Klitterungen über die Ukraine: "Algerien sei 1830 von Frankreich als Eroberer aus dem Nichts geschaffen worden. Die Algerier ihrerseits hätten ihre Unabhängigkeit nur durch die Nachsicht eines barmherzigen de Gaulle erlangt."

Gallimard vertreibt den schmalen Sammelband für nur 3,90 Euro, auch als Ebook. Die Historiker äußern sich auch in einem Video, in dem sie sich an ein großes Publikum wenden:

Magazinrundschau vom 15.02.2022 - En attendant Nadeau

"Voyage africain", Cover der französischen Ausgabe.
Na, das wäre vielleicht auch ein Tipp für deutsche Verlage. Die Nouvelles Editions Place bringen eine Übersetzung der "Afrikanischen Reise" der amerikanischen Autorin, Schauspielerin und Anthropologin Eslanda Goode Robeson heraus. Sie gehörte wie ihr Mann, der Anwalt, Schauspieler, Sänger Paul Robeson, zur "Harlem Renaissance", einer Bewegung schwarzer Intellektueller in New York auf der Suche nach ihren afrikanischen Wurzeln. Die "afrikanische Reise" basierte auf ihrer anthropologischen Abschlussarbeit. Zusammen mit ihrem Sohn Pauli hatte sie um 1940 fast den gesamten afrikanischen Kontinent bereist, der ihr gar nicht einheitlich, sondern "wie eine Gemüsepfanne aus lauter verschiedenen Ingredienzen" vorkam. Idealisieren wollte sie Afrika nicht, versichert Sonia Dayan-Herzbrun, die in ihrem Resümee nicht ganz ohne eine kleine postkoloniale Spitze auskommt: So akzeptierte Robeson "ungern die Spaltung der Afrikaner in Uganda in eine Aristokratie, die mit dem Vieh verbunden ist, und eine Unterschicht, die Ackerbau betreibt. Es gibt keine afrikanische Ausnahme: Da ist weder Primitivismus noch eine ideale Gesellschaft. 'Afrikaner sind Menschen.' Mit diesem Satz schloss sie 1944 ihr Buch und mit einem leidenschaftlichen Aufruf zur Freiheit für alle Menschen, nachdem der Nationalsozialismus gezeigt hatte, dass Rassismus, der bis vor kurzem wegen seiner Ausrichtung auf angeblich 'rückständige' oder 'primitive' Völker bereitwillig toleriert worden war, nun auch weiße Nicht-Arier betraf."

Magazinrundschau vom 01.02.2022 - En attendant Nadeau

Der Name Masao Maruyamas ist auch in Deutschland bekannt, die letzten Übersetzungen sind bald zehn Jahre alt. Masao ist einer der bedeutendsten japanischen Politologen und Historiker des 20. Jahrhundert. In Frankreich erscheint ein Band mit drei seiner wichtigsten Schriften über den "japanischen Faschismus", den Maurice Mourier vorstellt. Die Essays sind für Nicht-Kenner nicht immer leicht zu verstehen, so Mourier, "die Ausgabe wird jedoch durch ein umfangreiches und übersichtliches Glossar bereichert, das es ermöglicht, sich im Dickicht der Geschichte des Landes zurechtzufinden. Es handelt sich um die politischen Ereignisse der Jahre 1919-1945, in denen der japanische Militarismus in Kampfbereitschaft versetzt wurde, seinen totalitären Einfluss auf die Gesellschaft verstärkte und sich verschärfte; schließlich führte der blinde Aktionismus des Generalstabs zum Untergang des Regimes und des ganzen Landes." Das Interessante an dem Band ist für Mourier, dass Maruyama zeigt, wie sich die Ereignisse verketten, so dass der Prozess "ab einem bestimmten Zeitpunkt nach dem Modell der Katastrophe vom August 1914 quasi autonom funktioniert und sich nur in zweiter Linie auf eine Reihe von Willensakten stützt, um auf ein einziges, klar definiertes Ziel hinzuarbeiten." Nachtrag vom 1. Februar: Im Iudicium Verlag sind einige wichtige Schriften auch auf deutsch erhältlich. einiges gibt es auch in Zeitschriften.

Magazinrundschau vom 21.12.2021 - En attendant Nadeau

Philippe Roussin erzählt die eines Romans oder einer literarischen Reportage würdige Geschichte jener Manuskripte von Céline, die im Jahr 2017, nachdem sie für Jahrzehnte verloren schienen, wieder aufgetaucht sind (unser Resümee). Es handelt sich um 5.300 Seiten, unbekannte Werke darunter, und Skizzen zu bekannten Werken, alle aus der Zeit vor den antisemitischen Machwerken des Nazis im Geiste - was nicht heißt, dass sich nicht auch antisemitische Texte im Konvolut befinden. Die Werke seien "gestohlen" worden, haben die jetzigen Rechteinhaber behauptet. Das Gegenteil ist der Fall, so Roussin. Sie waren von Widerstandskämpfern gesichert und irgendwann dem Kritiker Jean-Pierre Thibaudat übergeben worden, der sie aufbewahrte, damit die Rechteinhaber nicht auch noch Geld aus dem Dossier ziehen. Das Dumme ist, das Célines Witwe, Lucette Destouches, erst 2019 im Alter von 107 Jahren gestorben ist. Nun gehören die Rechte ihrem Anwalt und einer Freundin von Célines Tochter. "Nach dem Ende des Rechtsstreits haben die Rechteinhaber nun alle Manuskripte zurückerhalten und können sie… zu einem hohen Preis verkaufen, wobei ihr finanzieller Wert durch den verursachten 'Skandal' noch gesteigert wird. Man spricht von mehreren Millionen Euro. Außerdem werden sie die Kontrolle über die Edition der Texte haben, die ab 2022 bei Gallimard in vier Bänden erscheinen sollen: 'Casse-pipe', 'London', 'Guerre', 'La légende du roi Krogold'. Auf diese Weise werden sie die Texte und das Image des Autors kontrollieren." Erst im Jahr 2031 fällt das Werk Célines in die Public Domain.

Magazinrundschau vom 14.12.2021 - En attendant Nadeau

Die Nazis und die deutsche Bevölkerung waren vereint in einem sexualisierten Theater der Reinheit, in dem sich die Auslöschung der Untermenschen und die Feier einer deutschen "Lebensborn"-Sexualität gegenseitig bedingten. Das lernt Georges-Arthur Goldschmidt aus dem Buch "Amour, mariage, sexualité. Une histoire intime du nazisme (1930-1950)" der Historikerin Elissa Mailänder, die am Centre Marc Bloch forscht: "Von der Reglementierung der Ehe über die Sterilisation von Personen, die nicht als würdig galten, sich fortzupflanzen, über die Orgien nach Massenhinrichtungen oder den Ablauf von Hochzeiten - alles fand im Rahmen nationalsozialistischer Vorgaben statt. Scheidung oder außereheliche Affären sollten nach vorgeschriebenen Mustern ablaufen, die zugleich scheinbar liberal und strengstens kontrolliert waren, um der 'Rasse' und der Demografie willen. Darum schuf man den 'Lebensborn', eine Art Harem, der dazu diente, die arischen Geburtenzahlen zu erhöhen, als Gegenpol zu den Vernichtungen, von deren Existenz alle informiert waren."

Magazinrundschau vom 07.12.2021 - En attendant Nadeau

Die "Pléiade", gestaltet in dunkel leuchtenden Lederbänden, ist die französische Klassikerbibliothek schlechthin - in Deutschland gibt es dazu kein Pendant. Etwas skeptisch begutachtet Philippe Mesnard den jüngsten Anthologieband "L'espèce humaine et autres récits des camps". "L'espèce humaine" ist der Titel des berühmten Buchs von Robert Antelme, der als einer der ersten in Frankreich über die Konzentrationslager der Nazis berichtete. Insgesamt versammelt der Band acht französischsprachige Texte über die Lager, darunter Jorge Sempruns "L'écriture ou la vie". Die Kriterien der Auswahl und der Präsentation überzeugen Mesnard nicht. Ihn stört etwas die Terminologie über die Lager, die von den Herausgebern im Band verwendet wird: "Dominique Moncond'huy et Henri Scepi beschönigen den Völkermord an den Juden zwar keineswegs, aber sie benutzen immer wieder den verallgemeinernden Begriff des 'Lagers', der bereits im Titel besiegelt ist. Da kann man sich fast fragen, warum nicht auch Schriften über den Gulag vertreten sind. Warum hat man nicht einfach geschrieben 'Schriften aus den Nazi-Lagern?' Hinzukommt, dass fast auf jeder Seite vom 'Modell des Lagers' die Rede ist, so dass der Unterschied zwischen der Struktur der Konzentrationslager und die Umsetzung eines Völkermords, der die Juden von der Erde auslöschen sollte, verlorengeht."

Magazinrundschau vom 23.11.2021 - En attendant Nadeau

Es scheint, dass die Weltrechte an Patricia Highsmith vom Diogenes Verlag verwertet werden. Jedenfalls ist in Frankreicch eine offenbar identische Ausgabe der Tagebücher der Autorin erschienen. Und Claude Grimal ist genauso verblüfft von der vorauseilenden Zensur der antisemitischen Passagen durch die Herausgeberin Anna von Planta wie manche Kritiker der deutschsprachigen Presse (unsere Resümees): "So wird uns zum Beispiel mitgeteilt, dass 'die Meinungen', die Highsmith auf den Seiten 'über Personen und Tatsachen' äußert, 'persönlich ... sind und die Vorurteile der Autorin und ihrer Zeit widerspiegeln'. Ach so! Danke für den Hinweis! Und da wohl unsere Empfindlichkeiten geschont werden sollen, teilt man uns mit, dass es die Herausgeberin und ihre Mitarbeiterinnen bei dem heiklen Thema der 'häufig marginalisierte Gruppen wie schwarze Amerikaner und Juden' 'in einigen extremen Fällen [...] es für ihre Pflicht [hielten], Pat [sic] das Recht zu verweigern, sich zu äußern, wie sie es getan hat, als sie noch am Leben war'. Uff! Wir waren fast beleidigt. Was aber auch nicht so schlecht wäre, denn die Kehrseite der redaktionellen Entscheidung ist, dass die aktuelle Aufmachung des Textes den notorischen Rassismus und Antisemitismus der Autorin fast unsichtbar macht."

Außerdem in En attendant Nadeau ein Gespräch Mit Richard Powers über seinen letzten Roman "Erstaunen".

Magazinrundschau vom 19.10.2021 - En attendant Nadeau

Jean-Pierre Salgas bespricht Kora Vérons große Biografie über einen Klassiker des Postkolonialismus und Miterfinder der Idee der "Négritude": "Aimé Césaire - Configurations". Dabei stellt er auch das inzwischen berühmte Holocaust-Zitat Césaires in den Kontext, das hier mal in aller Ausführlichkeit wiedergegeben wird. Es ist ein Urdokument jener Opferkonkurrenz, die spätere Diskurse über den Holocaust vergiftet - Césaire behauptet, der Holocaust würde nur als besonders schlimmes Verbrechen wahrgenommen, weil er ein Verbrechen von Weißen an Weißen sei. Weniger bekannt ist in der deutschen Debatte, dass Césaire damit quasi die offizielle Position der Kommunistischen Partei vertrat, deren Abgeordneter er war. Ganz liest sich das Zitat über den Nationalsozialismus so: "Ja, es würde sich lohnen, das Vorgehen Hitlers und des Hitlerismus präzise im Detail zu studieren und dem sehr vornehmen, sehr humanistischen, sehr christlichen Bourgeois des 20. Jahrhunderts zu offenbaren, dass er einen Hitler in sich trägt, von dem er nichts weiß, dass Hitler in ihm wohnt, dass Hitler sein Dämon ist, dass es nur unlogisch ist, wenn er ihn schmäht, und dass, was er Hitler nicht verzeiht, nicht das Verbrechen an sich ist, das Verbrechen gegen den Menschen, die Erniedrigung des Menschen an sich, sondern dass dieses Verbrechen gegen den weißen Mann verübt wurde, dass der weiße Mann erniedrigt wurde, und dass er auf Europa die kolonialistischen Verfahren angewandt hat, die bisher nur auf die Araber in Algerien, die Kulis in Indien und die Neger in Afrika angewandt wurden." Dieses Zitat, so Salgas, stand in einer Broschüre, für die der KP-Grande Jacques Duclos das Vorwort schrieb. Erst 1956 wandte sich Césaire, wie so viele, vom Stalinismus ab.

Frankreich gedachte am Wochenende des 17. Oktober 1961. An diesem Datum hat die Pariser Polizei ein Massaker an demonstrierenden Algeriern angerichtet. Polizeichef war der schon in der Vichy-Zeit berüchtigte Kollaborateur Maurice Papon. Pierre Benetti und Pierre Tenne unterhalten sich mit Jim House, Autor eines neu aufgelegten Buchs zu diesen Geschehnissen. Auch in Algerien wurde des Massakers erst spät gedacht, weil die französische Sektion des FLN, die die niedergeschlagene Demo an diesem Tag organisiert hatte, nach der Unabhängigkeit internen Purifizierungen zum Opfer fiel: "Es ist wichtig zu verstehen, dass sich die ehemaligen Akteure der Französischen Föderation des FLN in der algerischen Gesellschaft marginalisiert und ausgeschlossen fühlen. Zugleich kehrten viele Algerier nach der Unabhängigkeit zurück, blieben in Frankreich oder wechselten hin und her. Heute gilt der 17. Oktober 1961 in den Medien als eines der Schlüsseldaten des Krieges; dieser Status wurde jedoch erst spät erlangt und geht auf die politischen Debatten in Frankreich zwischen 1980 und 2000 zurück. Der Stellenwert der algerischen Einwanderung im Kampf um die Unabhängigkeit wurde allmählich besser anerkannt, und damit auch der 17. Oktober 1961."

Magazinrundschau vom 31.08.2021 - En attendant Nadeau

Der Name Georgi Demidow ist in Deutschland noch völlig unbekannt. Die Genfer Editions des Syrtes, ein auf russische Literatur spezialisiertes Verlagshaus, bringen jetzt den ersten Band einer mehrbändigen Ausgabe von Demidows Schriften aus dem Gulag heraus. In einem fingierten Prozess als "trotzkistischer Terrorist" verurteilt, verbrachte Demidow 14 Jahre in den Gulags von Kolyma und West-Sibiriens. Warlam Schalamow hat ihn in zwei Erzählungen als Ingenieur Kripejew verewigt und schilderte ihn als einen der mutigsten Menschen, die ihm je begegnet waren. Später zerstritten sie sich, möglicher Weise auch darüber, wie der Gulag literarisch zu bewältigen sei. Dabei ähnelten sich ihre Herangehensweisen teilweise, schreibt David Novarina: Denn beide Autoren wählten die Form kürzerer erzählerischer Texte. Allerdings schildert er Demidows Novellen als im traditionelleren Sinne literarisch: Anders als Schalamow habe Demidow den Glauben an das Funktionieren literarischer Formen nicht aufgegeben: Die Novelle bleibe bei ihm eine Erzählung, die von einer "unerhörten Begebenheit" handelt. Den Tod allerdings "hätte der Gulag-Überlebende niemals beschönigt. Demidow erwähnt den Friedhof eines Bergbaulagers: 'In einer Baracke der Sterbenden, die ganz nah am Friedhof lag, fand man Suppenreste mit Bruchstücken menschlicher Knochen. Die morgendlichen Appelle hatten aber niemals eine Unterzahl angezeigt. Es handelte sich also nicht einfach um Kannibalismus, sondern um das Essen von Toten.' Der Macht von Demidows Zeugenschaft kann man sich kaum entziehen." Novarina beteuert auch gleich: "Wer auch immer einen leichten Schrecken oder einen inneren Widerstand verspürt, wenn er er diesen Erzählungsband öffnet, wird bald gefangen sein von den klug konstruierten Erzählungen Demidows."

Magazinrundschau vom 22.06.2021 - En attendant Nadeau

In Frankreich ist unter dem unauffälligen Titel "Historiciser le mal" eine kritische Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf" herausgekommen. Der Übersetzer Olivier Mannoni spricht mit Santiago Artozqui über eine sehr spezielle Arbeit - und die Zusammenarbeit mit dem Herausgeber Florent Brayard. "Er ist ein angesehener Historiker, den ich vor allem durch sein bemerkenswertes Buch über Auschwitz ("Auschwitz, enquête sur un complot nazi", Seuil, 2012) kannte. Er hat mir gegenüber gleich klargestellt, dass er meine Arbeit demolieren wird. Er wollte keine Übersetzung nach den Regeln der Kunst, sondern eine Übertragung von Hitlers Text: einen Text, der so überladen, so 'verdreht' im Wortsinn, so schlecht geschrieben und gedacht - damit meine ich: so chaotisch in seiner Struktur - ist, wie das Original. Ich wusste sofort, dass ich das ablehnen muss: zwei Jahre Arbeit zerstören lassen, Hunderte von Stunden, die ich damit verbracht hatte, ein Gleichgewicht herzustellen, wenn auch ein wackliges, das war doch absurd. Und doch habe ich dann zugesagt, ohne eine Sekunde zu zögern. Was Florent Brayard von mir verlangte, war einsichtig, evident. Und ich habe die Prosa Hitlers dann hundertprozentig so wiedergegeben, wie sie war." Sonia Combe erzählt die Geschichte der kritischen Ausgabe.