Die
Lettre wird zwanzig und gönnt sich eine opulente
Geburtstagsausgabe, in der Alexandra Fuller, Rafael Sanchez Ferlosio, Nimrod, Ko Un, Tzvetan Todorov, Geert Lovink, Laszlo Vegel, Dzevad Karahasan, Jean-Pierre Fey und Evgen Bavcar und viele andere beschreiben, wie wir
jetzt leben.
Der in Berlin lebende russische
Philosoph Michail Ryklin schreibt über den Tod seiner Frau, der
Künstlerin Anna Altschuk, der für ihre Teilnahme an der Ausstellung "Achtung, Religion!" 2003 in Moskau der Prozess gemacht worden war (
mehr hier). "Nach Annas Verschwinden fand ich ein Tagebuch ihrer Träume der letzten fünf Jahre, während derer meine Frau und andere Künstler in Russland Opfer einer Hetzkampagne geworden waren. Im Radio, im Fernsehen und in der Presse wurden ganze Kübel Dreck über sie alle ausgegossen. Dann wurde meine Frau, deren Unschuld dem Gericht von vornherein klar war, als einzige angeklagt; nach über fünf Monaten ununterbrochener Beleidigungen und Erniedrigungen im Gerichtssaal sprach sie der Richter, dem
kein einziger Beweis ihrer Schuld vorgelegt werden konnte, von den Vorwürfen frei (was in Russland äußerst selten geschieht, denn Freisprüche schaden einer Richterkarriere). Ein Freispruch ist eine formal-juristische Angelegenheit. In einer autoritären Gesellschaft aber trägt jemand, der einmal zum Schuldigen auserkoren wurde, weiterhin das Stigma der Schuld. Die Moskauer Künstlerszene begriff,
wer die Macht hat (und damit, so denkt der Sowjetmensch von gestern, auch das Recht gepachtet hat), und wandte sich von Anna Altschuk ab."
Der chinesische
Dichter Liao Yiwu lässt die neunzehn Jahre nach dem Massaker vom
Platz des Himmlischen Friedens Revue passieren: "4. Juni 1990. Ich hatte die ersten Verhöre durchgemacht und auch die zwanzig Tage dauernde '
Wagenradtaktik', bei der man abwechselnd auf dich einprügelt, und bar jedes Glorienscheines befand ich mich nach wie vor in Untersuchungshaft in einem Gefängnis der Sicherheitspolizei in Geleshan bei Chongqing. Vor und nach mir wurden um die zwanzig Schriftsteller eingeliefert und mit unterschiedlichen Maßnahmen tyrannisiert. Ich erinnere mich schemenhaft an diese Tage, als man durch die den
Himmel spaltenden Eisengitter die schlechten Nachrichten vernahm und ich unter heruntergekommenen Kleinkriminellen die Frage diskutierte: Wie kann das schon ein Jahr her sein?"