Magazinrundschau - Archiv

Lettre International

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Magazinrundschau vom 23.03.2010 - Lettre International

In der neuen Lettre erzählt die iranische Autorin Shiva Arastuie eine Geschichte. Hier der Anfang: "Jemand hatte zu deiner Mutter gesagt: 'Die ist doch 'ne Opiumleiche.' Das warst du gewesen, wusstest aber nicht genau, wann. Ein Mann schrubbte den Hallenboden. Drei Frauen waren dort. Und zwei weitere. Die böse Frau beschimpfte dich. Mit den widerwärtigsten Flüchen, die man zu Frauen sagen kann. Sie deutete mit dem Zeigefinger auf dich. Auf die intimsten Stellen deines Körpers. Der dir so lieb und wichtig war. Die dreckigsten Worte, die sich für eine Frau finden lassen. Nach den schönsten Worten, schwärmerischsten Blicken auf deinen Körper war es nun soweit, dass die hässlichste Frau der Welt sich an dein Bett stellte und deine weibliche Schönheit in den Schmutz zog. Der Mann schrubbte noch immer den Hallenboden. Die Frau hatte ihr Gesicht mit dem Tschador umhüllt, ganz eng. Außer einem Laken lag nichts auf deinem Körper. Du schämtest dich vor dem Putzmannn. Nur das fühltest du."

Außerdem: Frank Berberich unterhält sich mit dem iranischen Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan über die Situation im Iran (Auszug). Jane Mayer schreibt über die gezielten Tötungen durch ferngesteuerte amerikanische Drohnen (Auszug). Heribert Gold erinnert sich an Haiti (Auszug). Sema Kaygusuz erzählt vom Leben in Istanbul (Auszug). Michel Peraldi beschreibt den molekularen Kapitalismus von Istanbul (Auszug). Andrzej Stasiuk steht auf einem Friedhof in den Karpaten und unterhält sich mit den Toten (Auszug). Und Raoul Schrott formuliert eine Politik des Heiligen (Auszug).

Magazinrundschau vom 06.10.2009 - Lettre International

Die neue Lettre ist eine prächtige fette Doppelnummer zum zwanzigjährigen Jubiläum des Mauerfalls! Der Philosoph Harry Lehmann vertritt die gewagte These, die DDR sei vor allem an ihrem Design gescheitert (Auszug). Schon die simpelste Marktforschung war konterrevolutionär: "Selbst wenn es Untersuchungen gegeben hat, die aus sozialer Herkunft, Bildung und Einkommen Rückschlüsse auf den auseinanderdriftenden Bevölkerungsgeschmack zogen, so dürfte dieses politisch brisante Material meist im Giftschrank verschwunden sein. Designabteilungen, die sich an derartigen Konsumentenanalysen orientiert hätten, wären augenblicklich zu Zellen der Konterrevolution geworden. Mit solchem Geheimwissen entwickelte Produkte hätten nicht nur soziale Unterschiede sichtbar gemacht, sondern diesen zudem eine Kristallisationsfläche in der Warenwelt gegeben - und sie damit in der Gesellschaft verstärkt." In Hanns Malte Meyers "Goldener Banane" hätte Lehmann übrigens eine "ultimative Notlösung" für das gescheiterte Einheitsdenkmal gesehen.

Abseits der Berlin-Artikel unternimmt Schriftsteller Carsten Probst eine Reise ins Georgien nach dem Krieg und findet keinerlei Hinweise auf Entspannung in der Region: "Ich verließ das Hotel mit dem mulmigen Gefühl, einer Propagandaveranstaltung beigewohnt zu haben, deren Groteske nur von dem Schrecken übertroffen wurde, dass sich die georgische Regierung auch nach anderthalb Jahrzehnten noch weigerte, ihren aus Abchasien geflohenen Landsleuten feste Wohnungen zu bauen. Dass sie sie in diesen Provisorien versauern ließ, um damit symbolisch ihre Gebietsansprüche auf Abchasien zu demonstrieren, anstatt ihnen unter Zuhilfenahme internationaler Unterstützung ein neues Leben anzubieten."

Weiteres: Das Interview Frank Berberichs mit Ex-Finanzsenator Thilo Sarrazin (Auszug) hat bereits für einiges Aufsehen gesorgt - in der Welt, im Tagesspiegel, in der Berliner Zeitung - weil sich Sarrazin abfällig über die Berliner Araber und Türken geäußert hat. Journalist Iain Sinclair wandert vom Alexanderplatz bis zum Telegraphenberg (Auszug) und stellt fest, dass Berlin das neue Hackney ist. Ex-Merve-Verleger Peter Gente liefert Erinnerungssplitter seiner Berlinzeit. Die großartige Swetlana Alexijewitsch (mehr hier) schreibt staccato über das Ende des Kommunismus. German Sadulajew erzählt vom Leben als Tschetschenischer Rebell und und und ...

Magazinrundschau vom 30.06.2009 - Lettre International

Ein Schwerpunkt der Lettre ist der Avantgarde gewidmet. Eduardo Subirats beschreibt in seiner Kritik der Avantgarde, wie sie die Autonomie der Kunst beseitigt hat, um jene "in die absolute Wahrheit der industriellen Produktion und des kapitalistischen Spektakels" zu integrieren: "Deshalb verteidigten die Futuristen den industriellen Krieg; deshalb stellte sich Dsiga Wertow in den Dienst der Propaganda des sowjetischen Staates; deshalb ordnete Le Corbusier die architektonische Form den Bedürfnissen der industriellen Produktion und Expansion in der Dritten Welt unter... Die Dialektik der Avantgarden kulminierte in einem instrumentellen Formbegriff, dem sogenannten Funktionalismus, der zum totalen Ordnungsprinzip erhoben wurde. Damit erfüllte sie das romantische Ideal des totalen Kunstwerks und kehrte zugleich seinen Sinn um. Ihr Ziel war nun nicht die Integration der Künste, um den künstlerischen Ausdruck einer Epoche zu erreichen, sondern ihre Eingliederung in eine neue universelle, antiästhetische Semantik. Die letzte politische Konsequenz der Dialektik der Avantgarden ist totalitär." (Hier das spanische Original)

Außerdem: Tzvetan Todorov untersucht das Verhältnis der Avantgarde zur Diktatur (Auszug) und beschreibt auch, wie ihr Fundamentalismus und der Wille, aus dem Nichts zu schaffen, auch den Majakowski und Marinetti zusammengeführt hat: "Die beiden werden sich am 20. Juni 1925 in Paris erneut treffen und zusammen essen. Ihre Dolmetscherin ist beunruhigt: Worüber könnten ein Bolschewik und ein Faschist reden? Das Treffen verläuft jedoch offenbar in einer vollkommen freundschaftlichen Atmosphäre."

Und Philip Gourevitch berichtet aus Ruanda über die schwierige Versöhnungspolitik fünfzehn Jahre nach dem Völkermord. Begegnet ist er etwa dem genocidaire Jean Girumuhatse, der von einem Gacaca-Gericht zu elf Jahren Gefängnis verurteilt worden war und nun in sein Dorf zurückgekehrt ist. (Auszug auf Deutsch, hier das Original aus dem New Yorker als pdf)

Magazinrundschau vom 24.03.2009 - Lettre International

Die Lettre hat Juri Afanassjews großartigen Essay über das Ende Russlands ins Deutsche übersetzt! Sein Blick zurück beginnt mit der Schilderung der großen Leere, die er empfindet angesichts der jüngsten Handlungen der russischen Regierung, die vom Volk so "enthusiastisch unterstützt" werde wie in den dreißiger Jahren. "Die Leere ist noch schmerzlicher geworden nach der Ermordung von Dimitri Cholodow, Larisa Judina, Galina Starowoitowa, Sergej Juschtschenko, Anna Politkowskaja und Magomed Jewlojew; nachdem Andrej Pjontkowski des 'Estremismus' angeklagt und Michail Beketow brutal zusammengeschlagen wurde. Die Leere wird noch unerträglicher, wenn man den Intellektuellen unserer Zeit nicht als Individuen zuhört, sondern sie als Kollektiv, als die Stimme eines eigenen 'Ethos' bzw. einer ethnischen Gruppe vernimmt. Kurz gesagt, unsere Intellektuellen (ausgenommen eine Handvoll Personen) stehen heute auf Seiten der Regierung, nicht auf der Seite der Bevölkerung. Dies ist wohl der Hauptgrund dafür, dass die Bevölkerung immer noch nur 'Bevölkerung' ist und nicht zu einem 'Volk' werden konnte. Noch dichter wird die Dunkelheit, die unsere Intelligenzija heute ausstrahlt, wenn man ihre Tradition von mehr als einem Jahrhundert ins Auge fasst. Man spricht und schreibt darüber nicht gern laut als von einer Realität, die bis zu Ende gedacht ist. So entgleitet schon das Problem der 'Tradition der russischen Intelligenz' in die Leere, verschwindet in Dunkelheit." (Hier ein Auszug auf Deutsch und hier ein Bericht in der NZZ über Reaktionen in Russland auf den Artikel.)

Übersetzt wurde auch ein Teil von Bela Hamvas' 1960 erschienenem Essay "Direkte Moral und schlechtes Gewissen". Er beginnt so: "Man kommt überhaupt nicht voran. Der Intakte ist ungebildet, der Gebildete ist korrupt. Vor dem Intakten muss die Bildung verleugnet werden, und vor dem Gebildeten muss das Intakte verleugnet werden. Man kommt überhaupt nicht voran." Die Übersetzer, Gabor Altorjay und Carsten Dane, arbeiten übrigens seit sechs Jahren auf eigene Rechnung an einer deutschen Übersetzung von Hamvas' 1500-seitigem Hauptwerk "Karneval". Die bereits übersetzten ersten 633 Seiten können Subskribenten hier lesen.

In der Lettre dürfen wir außerdem lesen: kurze Auszüge aus den schrägen Geschichten "Aurach" von Marek Kedzierski und "Der Bauernkaiser" von Liao Yiwu, Tsering Shakyas Schilderung des Kampfs der Tibeter um kulturelle Autonomie, Mahrokh Charliers Beschreibung des muslimischen Mannes, Steven Weinbergs Essay "Ohne Gott", Wolfgang Storchs Untersuchung über Dichter und Philosophen im Mahlstrom der preußischen Geschichte und Haukur Mar Helgasons Brief aus Island. Martin Geck schließlich erzählt, was Richard Wagner an Mendelssohn aufregte: er war ein "jüdisches Glückskind".

Magazinrundschau vom 16.12.2008 - Lettre International

Wenn man im Ostblock "junge Zwiebeln, frische Almbutter, wenn möglich Radieschen, außerdem zwei weiche Eier" bestellte, brachte der Kellner "auf einem schönen alten Tablett" drei alte Zwiebeln, von denen er die äußeren Schalen abgezogen hatte, und einen alten gesalzenen und gekümmelten schwarzen Rettich. Für Peter Nadas verkörpert sich hier das Wesen der Simulation: "In jenen Jahren war das die große Idee dieser Gesellschaften zu ihrem Selbsterhalt: der Erfindungsreichtum, das Improvisieren, die Mimikry, die Simulation. Was konnte wodurch ersetzt, was konnte womit ausgetauscht werden, was konnte womit verborgen, bemäntelt werden, wie konnte man etwas umbenennen, verdecken, und vor allem: Was konnte man sich heimlich aneignen? Und da die Dinge auch von den dazu gerufenen nicht benannt beziehungsweise ständig und unberechenbar mit anderen Namen versehen wurden, als ihnen natürlicherweise zustanden, funktionierten die Worte im Gespräch nur noch als vorsichtige Anspielung, nicht als Benennung. Es kam so weit, dass im wesentlichen der Unterschied zwischen Ja und Nein verschwand."

Die Lettre hat einen Auszug des Nadas-Textes ins Netz gestellt. Auszüge lesen darf man außerdem unter anderem aus Dimitris Dimitriadis Erzählung "Transport" und aus Amitav Ghoshs "Wildnisfiktionen".

Magazinrundschau vom 14.10.2008 - Lettre International

Die weißrussische Journalistin Swetlana Alexijewitsch hat zwei lange Interviews mit Russen geführt, einer Mutter, die in stalinistischen Arbeitslagern aufgewachsen ist, und ihrem Sohn, einem Offizier, der in Afghanistan gekämpft hat und heute italienische Sanitärtechnik verkauft. Die Mutter erzählt: "Bis ich drei wurde, lebte ich bei meiner Mutter im Lager. Alle Kleinkinder waren bei ihren Müttern. Das erfuhr ich später von meiner Mutter ? Sie erzählte mir, daß kleine Kinder oft starben. Im Winter wurden die Toten in große Tonnen gesteckt, darin lagen sie bis zum Frühjahr. Die Ratten nagten an den Körpern. Im Frühling wurden die toten Kinder dann begraben ? Das, was von ihnen noch übrig war ? Mit drei Jahren kamen die Kinder in die Kinderbaracke. Mit vier, nein, eher mit fünf setzt meine Erinnerung ein ? Ich erinnere mich an einzelne Episoden ? Morgens sahen wir durch den Stacheldrahtzaun, wie unsere Mamas antraten und gezählt wurden. Sie wurden gezählt und zur Arbeit gebracht. Nach draußen, wo wir nicht hin durften. Wenn mich jemand fragte: "Woher kommst du denn, Kleine?" antwortete ich: "Aus dem Lager". "Draußen", das war eine andere Welt, etwas Unbegreifliches, Erschreckendes, etwas, das für uns nicht existierte."

William Dalrymple untersucht die Verbindung von Liebeskunst und Spiritualität in Indiens Kultur, die offenbar einen wohltuenden Einfluss auf die Muslime hatte: "Interessanterweise bedeutete die islamische Herrschaft aber keinen Bruch mit der langen indischen Tradition des erotischen Schrifttums. Das "Kamasutra" überstand diese Zeit nicht nur, sondern es bekehrte mit der Zeit auch die ursprünglich prüden muslimischen Herrscher Indiens zu einem lustvollen Leben." Erst die christlichen Briten machten damit Schluss.

Auszüge lesen darf man außerdem aus Sergio Benvenutos Rückblick auf Paris im Jahr 1968. Iain Sinclairs Reportage über den Londoner Osten, der gerade den Olympischen Spielen 2012 zum Opfer fällt. Pascal Dusapins Antrittsvorlesung am Lehrstuhl für künstlerische Kreation am College de France. Georg Stefan Trollers Überlegungen zur Kunst des Interviews. Candace Allens leidenschaftlichem Plädoyer für Barack Obama.

Magazinrundschau vom 17.06.2008 - Lettre International

Die Lettre wird zwanzig und gönnt sich eine opulente Geburtstagsausgabe, in der Alexandra Fuller, Rafael Sanchez Ferlosio, Nimrod, Ko Un, Tzvetan Todorov, Geert Lovink, Laszlo Vegel, Dzevad Karahasan, Jean-Pierre Fey und Evgen Bavcar und viele andere beschreiben, wie wir jetzt leben.

Der in Berlin lebende russische Philosoph Michail Ryklin schreibt über den Tod seiner Frau, der Künstlerin Anna Altschuk, der für ihre Teilnahme an der Ausstellung "Achtung, Religion!" 2003 in Moskau der Prozess gemacht worden war (mehr hier). "Nach Annas Verschwinden fand ich ein Tagebuch ihrer Träume der letzten fünf Jahre, während derer meine Frau und andere Künstler in Russland Opfer einer Hetzkampagne geworden waren. Im Radio, im Fernsehen und in der Presse wurden ganze Kübel Dreck über sie alle ausgegossen. Dann wurde meine Frau, deren Unschuld dem Gericht von vornherein klar war, als einzige angeklagt; nach über fünf Monaten ununterbrochener Beleidigungen und Erniedrigungen im Gerichtssaal sprach sie der Richter, dem kein einziger Beweis ihrer Schuld vorgelegt werden konnte, von den Vorwürfen frei (was in Russland äußerst selten geschieht, denn Freisprüche schaden einer Richterkarriere). Ein Freispruch ist eine formal-juristische Angelegenheit. In einer autoritären Gesellschaft aber trägt jemand, der einmal zum Schuldigen auserkoren wurde, weiterhin das Stigma der Schuld. Die Moskauer Künstlerszene begriff, wer die Macht hat (und damit, so denkt der Sowjetmensch von gestern, auch das Recht gepachtet hat), und wandte sich von Anna Altschuk ab."

Der chinesische Dichter Liao Yiwu lässt die neunzehn Jahre nach dem Massaker vom Platz des Himmlischen Friedens Revue passieren: "4. Juni 1990. Ich hatte die ersten Verhöre durchgemacht und auch die zwanzig Tage dauernde 'Wagenradtaktik', bei der man abwechselnd auf dich einprügelt, und bar jedes Glorienscheines befand ich mich nach wie vor in Untersuchungshaft in einem Gefängnis der Sicherheitspolizei in Geleshan bei Chongqing. Vor und nach mir wurden um die zwanzig Schriftsteller eingeliefert und mit unterschiedlichen Maßnahmen tyrannisiert. Ich erinnere mich schemenhaft an diese Tage, als man durch die den Himmel spaltenden Eisengitter die schlechten Nachrichten vernahm und ich unter heruntergekommenen Kleinkriminellen die Frage diskutierte: Wie kann das schon ein Jahr her sein?"

Magazinrundschau vom 18.03.2008 - Lettre International

Vier Interviews mit "einfachen" Chinesen hat Liao Yiwu geführt - mit einem Rechtsabweichler, einem Guquin-Meister, einem Dreifachfräulein ("Mädchen, die mit ihren Gästen Karaoke singen, trinken und schlafen") und einem Leichenwäscher, der einst einem erstochenen Anführer der Roten Garden ein Lächeln ins Gesicht massierte: "Ich nahm eine Zahnbürste und stach damit in ein Nest von Würmern, die Zunge war schon weggefault! Ich bin schnell hinausgerannt, um frische Luft zu schnappen. Schließlich kam ich zurück, putzte ihm gründlich die Zähne und verteilte kesselweise Desinfektionsmittel darin. Das nennt sich Leichenverschönern - es war wie Kloputzen! Ich verwendete einen ganzen Nachmittag darauf, um diesen grimmigen Gesichtsausdruck wieder in das altbekannte Lächeln zu verwandeln. Die Roten Garden waren ganz gerührt von meiner gewissenhaften Arbeit und streiften mir ein rotes Band über den Arm, skandierten laut 'Man lerne von der Arbeiterklasse!' und machten mich zu einem regelrechten Mitglied ihrer Organisation."

Außerdem in diesem sehr lesenswerten Heft: Giwi Margwelaschwili führt uns in das Herzgebirge der Gedichtwelt. Abgedruckt ist eine Rede von Seymour M. Hersh, der in Groningen über Vietnam, Irak, Iran und das Versagen der Presse sprach (hier das Original als pdf). Dokumentiert werden drei Artikel von Milan Kundera (Auszug), Vaclav Havel und wieder Milan Kundera, die sich 68/69 über die Bedeutung des Prager Frühlings für die tschechoslowakische und europäische Geschichte stritten. Wolfgang Kraushaar schreibt über Sartre in Stammheim (Auszug). Abgedruckt ist ein Auszug aus dem Buch "Glowa w mur Kremla - Mit dem Kopf gegen die Kremlmauer" der polnischen Journalistin Krystyna Kurczab-Redlich: Über Jahre hat sie akribisch Indizien dafür zusammengetragen, dass nicht tschetschenische Terroristen, sondern der russische Geheimdienst FSB für die Sprengungen von Wohnhäusern in Russland 1999 verantwortlich ist (mehr hier).

Magazinrundschau vom 18.12.2007 - Lettre International

In einem aus der London Review of Books übernommenen Text warnt der britische Historiker Perry Anderson Europa davor, sich selbst zu überschätzen: "Nun ist Selbstzufriedenheit in Europa nichts Ungewöhnliches. Aber die gegenwärtig vorherrschende Stimmung geht weit darüber hinaus. Was hier entsteht, ist ein grenzenloser Narzissmus, bei dem die Spiegelung auf dem Wasser aus der Zukunft unseres Planeten ein Abbild des Betrachters macht. Wie lässt sich ein solches Maß an politischer Eitelkeit erklären? Sicher: Die politische Landschaft auf dem europäischen Kontinent hat sich in den letzten Jahren verändert, und Europas Bedeutung in der Welt hat zugenommen. Reale Veränderungen können surreale Träume erzeugen. Um so wichtiger ist es, darauf zu achten, ob diese Visionen noch eine Verbindung zur Wirklichkeit aufweisen." (Hier das englische Original)

Außerdem zu lesen sind eine Analyse von Joshua Hammer zur Lage in Pakistan, Harun Farockis Protokoll seines WM-Projekts "Ball und Bildschirm" und Michael Taussigs Reise zu Walter Benjamins Grab.

Magazinrundschau vom 02.10.2007 - Lettre International

Der Komponist Wolfgang Rihm denkt im Interview über das Hören nach, das nicht nur auf "atavistische Regungen" im Hörer angewiesen sei. "Für die meisten emotionalen Reaktionen auf das Hören bedarf es außerdem eines kulturellen Vorentscheids. Der Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht sprach davon: Man hatte einem afrikanischen Stamm den Trauermarsch aus Beethovens Eroica vorgespielt. Und dort nahm man diese Musik als lustig wahr. Das zeigt: Man braucht die kulturelle Übereinkunft, dass das, was wir gerade hören, 'pathetisch' sei. Es muss irgendwann als solches beschriftet worden sein: 'Vorsicht, Pathos!' Oder: 'Endlich! Pathos!' Ohne dieses Korsett scheint die Musik nicht zu funktionieren. Den Hörer, der von nichts weiß, der völlig unvorbereitet ist, gibt es nicht. Der Hörer, der unser Wunsch als Musiker ist, der offen und rein kommt, um zuzuhören, was wir ihm sagen, ist eine schöne Vision. Hörer sind immer vorbereitet. Manchmal aber nicht auf das Gehörte."

Auszüge lesen dürfen wir außerdem u.a. aus einem Artikel des schwedischen Publizisten Göran Rosenberg, der auf einer Reise zur Beerdigung seiner Tante Bluma in Israel über das Ghetto nachdenkt - das polnische Ghetto seiner Vorfahren und das Ghetto, in das Israel sich verwandelt hat. Klaus Heinrich schickt eine Heine-Freud-Miniatur. Christian Linder schreibt über Böll. Und Freeman Dyson schickt Visionen von einer grünen Technik.

Nur im Print schreibt Wolfgang Storch über Viscontis Deutschland. Und der bulgarische Schriftsteller Haralampi G. Oroschakoff fragt sich, ob die "alte 'Orientalische Frage' nach einem hundertjährigen Winterschlaf wieder zum Leben erwacht".