Magazinrundschau - Archiv

Merkur

228 Presseschau-Absätze - Seite 2 von 23

Magazinrundschau vom 10.01.2023 - Merkur

Felix Ackermann reist an die polnisch-litauische Grenze, zur berühmten Lücke von Suwałki, jenem Korridor, der die russische Enklave Kaliningrad mit Belarus verbindet. Gegen die vielen Gedächtnislücken, die mit dieser Region verbunden sind, helfen die KünstlerInnen vor Ort auf die Sprünge: "In Sejny hatten (der Theatermacher) Krzysztof Czyżewski und seine Frau Małgorzata schon in den 1990er Jahren die Weiße Synagoge zu einem wichtigen regionalen Kulturzentrum für Litauer, Polen und Nachfahren der Überlebenden der Shoah gemacht. Im Pogranicze-Verlag erschien die polnische Übersetzung von Grigori Kanowitschs Roman über die Stadt Jonava, in deren Ortsteil Rukla heute die Bundeswehr in Litauen stationiert ist. Timothy Snyder, der mit seinem Buch 'Bloodlands' 2010 der blutgetränkten Zone der Vernichtung zwischen Sowjetunion und Deutschem Reich einen Namen gegeben hatte, kam in den vergangenen Jahren stets im August mit der Historikerin Marci Shore und ihren amerikanischen Studierenden aus Yale nach Krasnogruda, um gemeinsam mit Studierenden aus der Ukraine Texte zu diskutieren. Dieses Mal sind viele der Teilnehmer an der Front, um mit der Waffe für den Fortbestand der Ukraine zu kämpfen. Czyżewski hält die Lücke von Suwałki als Metapher für eine militärische Bedrohung der Region für unpassend: 'Die sowjetischen Panzer, die in Kaliningrad und in Belarus stationiert sind, bieten keinen Anlass zur Sorge. Selbst Finnland und Schweden verfügen über weitaus effizientere Waffensysteme, deren Reichweite bis hierher geht. Und sie sind bald Teil der NATO', erklärt er in Krasnogruda. So sei es entscheidend für einen Sieg gegen Putin, sich auf die eigenen Werte zu besinnen und für diese konsequent einzustehen. Er fügt hinzu: 'Viele Menschen im Westen Europas können sich dank des langen Friedens nach 1945 nicht mehr vorstellen, dass das absolute Böse wirklich existiert.' Deshalb unterstützte er im Sommer 2022 auch die öffentliche Spendenaktion zum Kauf einer türkischen Kampfdrohne vom Typ Bayraktar, zu der der polnische Publizist Sławomir Sierakowski aufgerufen hatte. Gemeinsam mit der kulturellen Elite Polens und über zweihunderttausend Spendern gelang es ihnen, innerhalb von vier Wochen über 4,5 Millionen Euro zu sammeln."

Außerdem: Till Breyer diskutiert verschiedene Formen des Asylrechts als individuelles Recht und in der historischen Version des territorialen Recht etwas beim Kirchenasyl.

Magazinrundschau vom 06.12.2022 - Merkur

Der Begriff der Werte stehen wieder hoch im Kurs, in der Kunst und in der Politik. Der Verfassungsrechtler Christoph Möllers erhebt dagegen Einspruch. Werte - Frieden, Freiheit, Sicherheit, Geschlechtergerechtigkeit, Solidarität - verbinden seiner Ansicht nach hohen moralischen Anspruch mit maximaler Folgenlosigkeit und Vagheit: "Außerhalb der formalisierten Welt des Verfassungsrechts, namentlich in der Politik, erscheinen Werte als adressatenlose Kategorien. Mit der Anrufung eines Rechts wird immer auch der Adressat einer Pflicht fixiert. Mit der Anrufung eines Wertes ist weder etwas dazu gesagt, wer ihn verwirklichen soll, noch dazu, was geschieht, wenn man ihn ignoriert. Die Rede über Werte wird unscharf, wenn es an Konsequenzen geht. Kann man gegen einen Wert 'verstoßen'? Und muss man für ihn eintreten oder ihn gar durchsetzen? Zu dieser Unschärfe gehört auch der nahtlose Übergang vom Sein zum Sollen: 'Sind unsere demokratischen Werte in Gefahr?' wird in der Diskussionsrunde einer bürgerlichen Wochenzeitung gefragt. Gegenfragen: Warum sollten demokratische Werte in Gefahr sein, nur weil die Demokratie in Gefahr ist? Oder gibt es gar keinen Unterschied zwischen Demokratie und demokratischen Werten? Und wenn nicht, warum formuliert man es dann so?" Besonders vage wird es Möllers zufolge in der neuen "wertegebundenen Außenpolitik": Zum Ersten sind die zu verteidigenden Werte eben deswegen Werte, weil sie die 'Unseren' sind. Sie entstehen durch nackten Verweis auf die eigene politische Gemeinschaft. Zum Zweiten folgt diese Umstellung aus einem Primat der Sicherheit, keiner moralischen, sondern einer genuin politischen Kategorie. Die Umsteuerung der deutschen Außenpolitik ist nicht der Einsicht in den normativen Mangel geschuldet, sich mit Diktaturen einzulassen, sondern der praktischen Erkenntnis, dass dies politisch gefährlich sein kann. Völlig konsequent bestreitet die Bundesaußenministerin daher die Unterscheidbarkeit von Werten und Interessen, die sich beide, so ausdrücklich formuliert, als Koalition von Amnesty International und BDI gemeinsam verwirklichen lassen."

Magazinrundschau vom 08.11.2022 - Merkur

Die Besserwisserei der Querdenker, die sich mit ihrer permanenten Kritik an wissenschaftlicher Basis zu kritischen Geistern stilisieren, erinnert Historiker Benedikt Sepp in gewisser Weise an die Pose der Kritik, die auch schon bei den Achtundsechzigern zu einer permanenten  Radikalisierung geführt hatte: "Die prinzipielle Haltlosigkeit der antiautoritären Kritik - Haltlosigkeit im Sinne des Fehlens eines inhaltlichen Fixpunkts - und die zunehmende Abschottung von der Umwelt führten jedoch nicht nur zu einer inhaltlichen Radikalisierung, sondern tendenziell auch zu einem Verständnis von Politik, das sich stark mit dem Selbstverständnis der eigenen Person verwob: Wo geglückte Kompromisse mit der politischen Umwelt als Gefährdung der eigenen Radikalität gesehen werden konnten, bemaß sich der Erfolg von Aktionen, Demonstrationen und Diskussionen nicht mehr unbedingt an ihrer Wirkung auf möglichst viele Außenstehende, sondern am Verfestigen der fundamentaloppositionellen Haltung bei den schon Überzeugten. Auseinandersetzungen mit der Polizei etwa sollten auch dazu dienen, die 'autoritäre Struktur des bürgerlichen Charakters in uns tendenziell zu zerstören [und] Momente der Ich-Stärke, der Überzeugung zu schaffen', so Rudi Dutschke. Als eigentliche Grundlage radikaler Opposition wurden damit die eigene widerständige Existenz und Identität verstanden - und diese mussten damit immer wieder durch immer extremere oppositionelle Akte bestätigt werden."

Außerdem: Nils Güttler rümpft die Nase über Historiker wie Yuval Harari oder David Christian, die trotz eisener Nichtbeachtung durch Wissenschaft und gehobene Buchkritik ihre Big-History-Bücher in Weltbestseller verwandelten, meist über Ted-Talks.

Magazinrundschau vom 11.10.2022 - Merkur

Cristina Nord bilanziert die Film- und Videoarbeiten auf der Documenta fifteen und muss zugeben, dass sie nicht besondern glücklich wird mit all den eindimensionalen Agitprop- und Folklorefilmen. Ästhetischen Mehrwert erlebt sie selten, am Ende steigt bei ihr der unbehagliche Gedanken auf, dass die Kunstschau unter Okwui Enwezor vor zwanzig Jahren schon weiter war als jetzt unter Ruangrupa. Dass ihr Beharren auf Komplexität westlicher Arroganz entspringt, glaubt sie eigenlich nicht. Der Beweis: "Im hintersten Raum der documenta-Halle verebben meine Zweifel für die Länge eines Spielfilms. Das Kollektiv Wakaliga Uganda zeigt hier neben vielen Filmplakaten und Requisiten einen ihrer No-Budget-Filme, Football Kommando. Mit einem deutschen Fußballstar, seiner ugandischen Frau und ihrem Sohn, der verschwindet, was eine action- und trickreiche Ermittlung nach sich zieht. Hier wird das eigentlich teure Medium Film zu einem fröhlichen DIY-Spektakel, fast für umsonst, pointen- und einfallsreich, wagemutig in den Appropriationen (Kung Fu ist in den meisten Actionszenen das Mittel der Wahl) und Mehrdeutigkeiten (der deutsche Fußballer heißt Ruminiger). Hier gibt es kein Othering, keine Selbstexotisierung und schon gar keinen Miserabilismus. Versprochen wird nicht viel, außer vielleicht ein Beschäftigungsprogramm für die Bewohnerinnen und Bewohner des Wakaliga-Slums in Kampala, die sich von den Kollektiv-Mitgliedern zu Kostüm- oder Maskenbildnern ausbilden lassen können. Und vielleicht, dass Quatsch seine ganz eigenen Utopien generiert, indem er die Notwendigkeit von Sinnproduktion übermütig infrage stellt."

Magazinrundschau vom 06.09.2022 - Merkur

Ziemlich harsch antwortet die Osteuropa-Historikerin Franziska Davies auf einen Text des Politikwissenschaftlers Ulrich K. Preuß, der die deutsche Russlandpolitik zwar als gescheitert bezeichnete, aber nicht von vorn herein einen Fehler darin sehen wollte, Russland als Partner zu betrachten (unser Resümee). Das macht Davies fassungslos: "Wie kann man einen Staat in eine europäische Sicherheitsordnung integrieren, der das Fundament dieser Ordnung - die Souveränität europäischer Staaten und die territoriale Unverletzbarkeit ihrer Grenzen - eindeutig ablehnt, und zwar nicht erst seit dem Februar 2022. Freilich ist damit nicht gesagt, dass eine 'Zeitenwende' im Jahr 2014 den gegenwärtigen Krieg verhindert hätte. Was aber zumindest hätte minimiert werden können, ist die fatale Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas. Besonders verhängnisvoll war die hundertprozentige Übernahme der Gasspeicher des Versorgers Wintershall durch den russischen Riesen Gazprom im Jahr 2015. Genehmigt wurde die Übernahme vom Wirtschaftsministerium unter Sigmar Gabriel. Dass Gazprom nicht von der kleptokratischen russischen Diktatur zu trennen ist, war schon damals ebenso bekannt wie die russische Strategie, Gas als Instrument der Außenpolitik einzusetzen. Putin und seine Entourage zielten darauf ab, Deutschland von russischen fossilen Brennstoffen abhängig zu machen und die Ukraine durch NordStream 2 zu schwächen. Moskau machte auch keinerlei Hehl daraus, dass die Pipeline ein antiukrainisches Projekt war."

Magazinrundschau vom 05.07.2022 - Merkur

Die deutsche Russlandpolitik ist gescheitert, das steht für den Politikwissenschaftler Ulrich K. Preuß fest, aber heißt das auch, dass sie von vornherein ein Fehler war? Und gar im Sinne Talleyrands schlimmer als ein Verbrechen? Preuß verteidigt Frank-Walter Steinmeiers Politik der Annäherung durch Verflechtung als absolut legitim und vom Grundgesetz sogar geboten gegen die Vorwürfe des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk, gegen bellizistische Medien und gegen die "normativ hochgerüsteten Grünen": "Die Idee, ein Ende des Krieges oder zumindest einen stabilen Waffenstillstand mit mehr oder noch effizienteren Kriegswaffen erzwingen zu wollen, führt in eine im Wesentlichen von Trümmern gesäumte Sackgasse. Dass ausgerechnet die Grünen diesen fantasielosesten aller Wege zum Frieden verfolgen, ist fast schon tragisch zu nennen. Wer unter ihnen hat das Beispiel des 4. August 1914 vor Augen, jenes Tages, an dem die Reichstagsfraktion der SPD aus patriotischem Pflichtgefühl den Kriegskrediten für die kaiserliche Regierung zustimmte und damit die Schleusen für einen 'gerechten Krieg' mit verheerenden Folgen öffnete?"

Weiteres: Der Philosoph Gunnar Hindrichs denkt über das Zivile und das Kriegerische bei Habermas und Arendt nach.

Magazinrundschau vom 14.06.2022 - Merkur

Der Historiker Jan Plamper trägt Episoden aus seinem Leben als international aufstrebender Forscher zusammen, der er in Petersburg, London oder Berlin mit Putins immer düsterer werdendem  Machtsystem in Berührung kam: "2010. American Academy am Berliner Wannsee, Abendessen zu Ehren einer US-Kollegin. Eine gut vernetzte Mitarbeiterin der Academy erzählt, dass sie im selben Tennisclub wie der russische Botschafter spielt. Bei der Verteilung der Rollen im Doppelspiel kam es neulich zu folgender Szene: Der Botschafter sagte seiner Frau, sie habe freie Wahl, da sie ja den höheren KGB-Rang besitze. Hahaha. Als ein ebenfalls anwesender deutscher Kollege das hört, schaudert es ihn. Er bleibt bei der nächsten Einladung zum Neujahrsball der russischen Botschaft, der immer opulenter und Fixpunkt im Leben der Berliner High Society geworden ist, daheim. 2010. Die Stories über einen Mit-Zivi in Russland Anfang der 1990er werden immer wilder. Damals kiffender Skater oder skatender Kiffer, Zyniker, hat er mehr schlecht als recht Jura studiert - allein die Fachwahl ein Treppenwitz in den Augen aller, die ihn in den Neunzigern kannten. Dann als Anwalt bei Gazprom und anderen kremlnahen Unternehmen angeheuert. Gerade soll er in Toulouse gewesen sein, um für Präsident Medwedew bei Airbus eine Spezialmaschine abzunehmen: mit vergoldeten Wasserhähnen auf dem Klo."

Aleida Assmann liest beeindruckt Christiane Hoffmanns Buchs "Alles, was wir nicht erinnern", für das die Journalistin und mittlerweile Regierungssprecherin den Weg ihres Vaters zurückverfolgte, der einst als Kind aus Schlesien fliehen musste: "Anders als das Vergessen könnte dieses Buch mit seiner Erinnerungsarbeit und seinem nachträglichen Durcharbeiten dazu beitragen, den Fluch der Flucht zu bannen und kommende Generationen von dieser Geschichte zu befreien. Aus diesem dialogischen Erinnern könnte ein neuer Heimat- und Verlust-Diskurs entstehen, der unterschiedliche Geschichten anerkennt und dabei immer auch das Gemeinsame im Blick behält: die Verletzlichkeit aller Menschen und den Wunsch nach Sicherheit als universales Grundbedürfnis." Nur im Print findet sich eine deutsche Übersetzung von Kwame Anthony Appiahs Essay über Frantz Fanon aus der New York Review of Books.

Magazinrundschau vom 03.05.2022 - Merkur

Um sich die Aggressionsbereitschaft und die Lust an der schlechten Laune bei den Querdenkern zu erklären (wobei man beides heute auch bei vielen linken Gruppen findet), blickt der Literaturwissenschaftler Steffen Martus zurück auf die neunziger Jahre, als Christian Kracht und Botho Strauß, die Politik ästhetisierten und "das Sich-irgendwie-grundsätzlich-schlecht-Fühlen" zum Fundament einer politischen Radikalopposition machten, wie Martus schreibt: "Im 18. Jahrhundert war die 'Ästhetik' als Wissenschaft vom 'Grund der Seele' etabliert worden, jener Zone also, wo aus unbedachten Kleinigkeiten und unscheinbaren Anzeichen folgenreiche Handlungen erwachsen und die daher kultiviert werden muss. Wo Argumente nicht verfangen, weil dazu keine Disposition bestand und weil man keinen Geschmack an einem bestimmten Denkstil und seinen Voreinstellungen fand, da sollten nicht zuletzt die Künste für entsprechende Neigungen sorgen. Weil es um untergründige Strömungen ging, schlug auch für Strauß die Stunde der wahren Poesie als Schöpfung desjenigen, der den 'Mut zur Sezession' aufbringt. Er interessierte sich dezidiert nicht dafür, wie man demokratische Prozesse konkret etwa vor jenem Wählerstimmenmonopoly bewahren könnte, das bei der Planung der ersten Bundestagswahl im wiedervereinigten Deutschland einen schalen Geschmack hinterließ. Stattdessen handelte er vom 'Demokratismus' als allgemeiner Befindlichkeit der Massengesellschaft. Er grübelte nicht darüber, wie sich politische Entscheidungen mit wirtschaftlichen Gegebenheiten so harmonisieren lassen, dass die damals gerade laufende Arbeit der 'Treuhandanstalt' nicht so verheerend wirkte; ihn beschäftigte der 'Ökonomismus' als Zeitgeistphänomen. Und die Gestaltung einer humanen Einwanderungspolitik war ihm ebenso egal wie die Frage, wie sich Moral und Politik ohne Selbstüberforderung oder -überschätzung verbinden lassen. Oder wie man politische Mehrheiten für den Klimaschutz gewinnt. Strauß zielte stattdessen andeutungsreich aufs Große und Ganze, und dort steht man gewöhnlich vor Entwicklungen, die sich wie Naturereignisse jeder systeminternen Gegenmaßnahme entziehen und daher harten, umfassenden Protest verdienen."

Außerdem: Jana Volkmann wirft angesichts der jahrhundertelangen Ausbeutung von Tieren die Frage auf, ob sich marxistische Arbeitstheorien auch auf diese geschundenen Kreaturen anwenden ließen.

Magazinrundschau vom 05.04.2022 - Merkur

Das Bundesverfassungsgericht hat schon immer auch politische Entscheidungen gefällt, räumt Uwe Volkmann ein, aber mit Blick auf das Urteil zur Klimagerechtigkeit für künftige Generationen sieht er eine neue Stufe erreicht. In der enormen Politisierung dieses Verfahrens sieht Volkmann das Ergebnis einer Moralisierung des Rechts, die den Kampf für die gerechte Sache vor gerichten austragen will: "Damit fügt es sich in eine Form der Prozessführung, die in den letzten Jahren immer weiter professionalisiert worden ist und sich mittlerweile ihrerseits zu einem eigenen Typus verfestigt hat, der 'strategic litigation' genannt wird: als, wie es auf einer einschlägigen Internetseite heißt, Versuch, 'weitreichende gesellschaftliche Veränderungen über die Einzelklage hinaus zu bewirken'. Auch zahlreiche andere Fälle vor dem Bundesverfassungsgericht der jüngeren Zeit lassen sich ihm zuordnen: Hinter den Klagen gegen Verschärfungen der Polizei- und Sicherheitsgesetze stand und steht regelmäßig die 'Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V.', die gerade zu diesem Zweck gegründet wurde und ein 'Besseres Recht durch strategische Klagen' zu ihrem Vereinsmotto hat; die Klage zur Anerkennung eines dritten Geschlechts im Personenstandsrecht war betrieben von einer 'Kampagne für eine dritte Option', die sich mittlerweile offenbar aufgelöst hat, nachdem sie ihre Ziele durch das Urteil erreicht sah."

Elena Meilicke erliegt der schauerlichen Faszination der Mommy Media: "Ich sehe den gesponsorten Content, die kaum verhüllten Werbe- und Verkaufsabsichten, ich sehe den Konservatismus und Klassismus in diesen Darstellungen erfolgreicher Mutterschaft. Ich sehe, wie eng abgesteckt das Feld dessen ist, was als 'gute' und erstrebenswerte Mutterschaft angepriesen wird: Geld muss sie haben, einen Mann muss sie haben, Geschmack und Stil, und natürlich Kinder muss sie haben, viele, je mehr desto besser. Ich sehe das alles, und dennoch üben diese Seiten eine unwiderstehliche Faszination auf mich aus. Gierig sauge ich die Bilder von einem schönen, hellen, strahlenden Familienleben ein, die so frei sind von Sorgen, Nöten, schlechten Gefühlen und beengten Verhältnissen, von Selbstzweifeln und Eintönigkeit."

Magazinrundschau vom 01.03.2022 - Merkur

Der Soziologe Steffen Mau zieht die häufig behauptete Spaltung der Gesellschaft in Modernisierungsgewinner und -verlierer, Globalisten und Kommunitaristen oder Anywheres und Somewheres in Zweifel. Die Empirie habe hier eine "ernstzunehmende Vetoposition", schreibt er, eine subjektive Deklassierung großer Teile der einfachen Schichten sei nicht so klar erkennbar wie oftmals angenommen: "Die Polarisierungsmetapher geht damit womöglich am eigentlichen Thema vorbei und versperrt den Blick auf die politische Soziologie neuer Konfliktkonstellationen. Sie verlegt gesellschaftliche Konflikte fälschlicherweise in die Mitte der Gesellschaft und überhöht sie zugleich, statt von moderaten Differenzen innerhalb der Gesellschaft und eher stärkeren Radikalisierungen am Rand auszugehen. Irrig ist auch die Annahme, in den politischen Konflikten spiegele sich eine vorgelagerte Spaltung der Gesellschaft, in dem Sinn, dass das Soziale ein Apriori des Politischen sei. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Ein soziales Schisma ist vor allem dort zu finden, wo politische Unternehmer, Massenmedien und Parteien Konfliktthemen besonders stark bespielen und akzentuieren - 'Lager' mit konsistenten politischen Glaubenssystemen werden politisch und medial hergestellt. Dann wäre die Politisierung bestimmter gesellschaftlicher Fragen kein Reflex einer vorhandenen und vorpolitischen Polarisierung, sondern erst die Politisierung und Aufladung von Konflikten führte zu Polarisierungen."

Die Zürcher Kulturfunktionärin Barbara Basting beschreibt den Sog der Globalisierung, von dem sich der Kunstbetrieb in ihren Augen durchaus willig hat mitziehen lassen und der junge Künstlerinnen und Künstler immer früher erfasst: "Der frühe Sprung über die Grenzen des eigenen Landes, die Einladung zu einer der immer zahlreicheren, zumeist mit touristischen oder sonst wie merkantilen Hintergedanken gegründeten Biennalen ist für die Karriere von Künstlern und Künstlerinnen heute außerordentlich wichtig. Ihr Bewusstsein für die weltumspannende Konkurrenz wird oft schon in der Akademie geschärft. Manche Künstler zirkulieren danach jahrelang durch Auslandsateliers, unterstützt von einer Kunstförderung, die dem Trend zur Entgrenzung mit der Verschickung an Orte folgt, die wahlweise zu den etablierten Drehscheiben der Kunst gehören oder ein künftiger hot spot zu werden versprechen."