Magazinrundschau - Archiv

Le Nouvel Observateur

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Magazinrundschau vom 15.12.2009 - Nouvel Observateur

In einem Interview spricht die in den USA lehrende iranische Literaturwissenschaftlerin Azar Nafisi ("Lolita lesen in Teheran"), deren Familienerinnerungen "Memoires captives" jetzt in Frankreich erscheinen, über den Kampf von Jugendlichen und Intellektuellen gegen die islamistische Diktatur. "Wir haben im Iran die religiöse Tradition des ketman, das ist das Recht zu lügen, um seinen wahren Glauben zu schützen, sobald er bedroht ist. Das hat eine außergewöhnlich erstickende Atmosphäre geschaffen. Die Schriftsteller dagegen lügen nicht ... Im Iran gibt es neben einer sehr dunklen Seite, einer hasserfüllten Gewalt der Ultras gegenüber dem Volk, auch eine helle, aufgeklärte. Die verkörpern Millionen junger Menschen, die mit unglaublicher Willenskraft zu einer Welt gehören wollen, die man ihnen verbieten will. Dafür setzten sie alle Waffen ein: Poesie, Humor, Literatur. Die Kultur, auch die von anderswo, ist eine Droge geworden. Der Wissensdurst ist unstillbar."

Zu lesen ist außerdem ein Gespräch mit dem albanischen Schriftsteller Ismail Kadare über den Stalinismus in seiner alten Heimat, Obama und den Nobelpreis, für den er so oft nominiert war, den er bisher aber nie bekam.

Magazinrundschau vom 08.12.2009 - Nouvel Observateur

"Ein Bestseller bringt die latenten Empfindlichkeiten einer Gesellschaft ans Licht", erklärt der Historiker Pierre Nora in einem Gespräch über Wesen und Definition eine Bestsellers. Von dessen drei Formen - gesteuert, absehbar, unerwartet - findet er naturgemäß die letzte Kategorie am interessantesten. "Er offenbart weder Gesetze des Marktes noch der Verlagsbranche, sondern die der Geschichte der Haltungen und Mentalitäten. Denn der unerwartete Erfolg bedeutet, dass an eine bisher ungeahnte Empfindlichkeit einer Gesellschaft gerührt wurde... In jeder Form legt der unerwartete Bestseller plötzlich einen historischen Moment frei: das Aufglimmen einer unterschwelligen Empfindlichkeit. Es ist, als würde das kollektive Unbewusste perforiert."

Magazinrundschau vom 01.12.2009 - Nouvel Observateur

Recht misstrauisch äußert sich der Geistesgeschichtler Michel Winock über die von Nicolas Sarkozy persönlich lancierte und von seinem Integrationsminister Eric Besson administrierte Debatte über die "nationale Identität" in Frankreich: "Eine ziemlich verdächtige Debatte. Geht es darum, die 'Identität' zu definieren, damit sie als Vorbild für die frisch nach Frankreich eingewanderten Ausländer dient, oder soll sie gerade vor ihnen schützen? Nationale Identität lässt sich nicht dekretieren. Wenn der Staat sich hier einmischt, dann doch wohl um normative Schlüsse zu ziehen, um eine Art Quintessenz des Franzosentums zu definieren, die es dann erlaubt, die guten von den schlechten Franzosenj zu unterscheiden, oder?"

Magazinrundschau vom 27.10.2009 - Nouvel Observateur

Anlässlich des Erscheinens eines Essaybands spricht Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk im Interview über das Verhältnis seines Landes zu Europa. Er selbst, erzählt er, habe früher immer die Differenzen hochgespielt, um seine türkische Identität besser fassen zu können, heute sehe er das vollkommen anders: "Die Türkei ist sichtbarer geworden, indem sie ihre Schönheiten ebenso zeigt wie ihre Schattenseiten, etwa die Menschenrechtsverletzungen, die Behandlung der Kurden (trotz beachtlicher Fortschritte) oder die problematische Beziehung zu ihrer Geschichte. Dieses einst verschlossene Land erlebt eine langsame, aber greifbare Entwicklung. Die jungen Generationen sind Europa gegenüber viel durchlässiger geworden, reisen viel mehr ins Ausland. Ich brauche daher nicht mehr für Europa als kulturelle Konstruktion oder Realität zu werben, weil es sehr präsent ist, auch wenn viele Türken kein Ideal darin sehen." Zu den europafeindlichen Kräften in seinem Land, einer Allianz aus Ultranationalisten, Mafia und einer militärischen Randgruppe, die auch ihn selbst massiv bedrohten, sagt er: "Sie werden derzeit gerichtlich verfolgt. Aber ihre Wühlarbeit war erfolgreich und hat den europäischen Konservativen wie Sarkozy und Merkel, die gegen unseren Beitritt sind, in die Hände gespielt."

Zu lesen ist außerdem ein Gespräch mit Volker Schlöndorff, dessen Erinnerungen jetzt in Frankreich erscheinen.

Magazinrundschau vom 20.10.2009 - Nouvel Observateur

Im Gespräch mit dem Nouvel Obs kritisiert Yasmina Reza die lautstarken Ab-in-den-Knast-Rufe Richtung Roman Polanski, mit dem sie ein gemeinsames Filmprojekt plante: "Ich erinnere daran, dass er nur der Verführung Minderjähriger angeklagt ist. Niemand steht über den Gesetzen, gewiss, aber es ist auch nicht jeder ein Richter, Anwalt oder Zeuge. Die Leute kennen weder die komplexeb und widersprüchlichen Akten des Prozesses noch die Protagonisten der Affäre. Welche Selbstsucht treibt sie zu öffentlicher Vorverurteilung? Was mich entsetzt, ist dieses Gebrüll, das jeder Legitimität entbehrt."

Magazinrundschau vom 06.10.2009 - Nouvel Observateur

Unter der Überschrift "Liebestaumel" überlegt der Philosoph Pascal Bruckner, der gerade den Essay "Le Paradoxe amoureux" veröffentlicht hat, wie sich symbiotischer Liebeswunsch und individuelle Autonomie eigentlich vertragen. Im Zuge der sexuellen Befreiung sind "Gefängnistüren aufgegangen", so Bruckner. Das werde allerdings nicht immer als Vorteil empfunden: "Im Gegenzug haben wir die Sicherheit der alten Geschlechtertrennung verloren. Wenn ich höre, dass Frauen sich beschweren, die echten Männer seien verschwunden, oder Männer behaupten, sie seien reingelegt worden, sage ich mir, dass beide der alten Rollenteilung nachweinen, die vielleicht ungerecht war, aber immerhin Klarheit bot: Sag' mir, wer du bist, damit ich weiß, wer ich bin. (...) Die allmähliche Auflösung des patriarchalischen Systems hat zu einer Männlichkeitskrise geführt ebenso wie zu einem schmerzlichen Lernprozess all ihrer neuen Freiheit für die Frauen. Ein Mann oder eine Frau zu sein funktioniert nicht mehr aus sich heraus, wenn die Geschlechtertrennung nicht mehr so geheimnisvoll ist wie früher."

Magazinrundschau vom 29.09.2009 - Nouvel Observateur

Der Essayist, Lyriker und Hochschullehrer Abdelwahab Meddeb plädiert auch in seinem jüngsten Buch "Pari de civilisation" (Seuil) erneut für einen modernen, aufgeklärten Islam als Verbindungsglied zwischen dem Osten und dem Westen. Im Gespräch erklärt er unter anderem, weshalb darüber eher im Westen als in der arabisch-muslimischen Welt selbst nachgedacht wird. "Die intellektuelle Kraft der islamischen Länder hat sich nach Europa und Amerika verlagert. Beide Länder partizipieren am postkolonialen Phänomen der Migration, auch der intellektuellen. Seither betreiben zahlreiche ursprünglich islamische Forscher und Akademiker Islamwissenschaft als eine internationale Wissenschaft. Ihr Beitrag befreit die Orientalistik vom Ethnozentrismusverdacht. (...) Unsere Arbeit hier hat dort Auswirkungen: Denn uns, die wir den Islam modernisieren wollen, stehen jene gegenüber, die die Moderne islamisieren wollen. Diese Modernisierungsarbeit betrifft auch Europa, weil wir im Westen einen modernen, der Säkularisation gerecht werdenden Islam brauchen."

Magazinrundschau vom 07.07.2009 - Nouvel Observateur

Unter der Überschrift "Netanjahus Schlamassel" kritisiert der israelische Schriftsteller David Grossman die Politik des israelischen Premiers. Er habe bei seinem Vorschlag einer Zweistaatenlösung für Israel und die Palästinenser keineswegs wie versprochen "ehrlich und mutig" gesprochen, sondern schlicht unterschlagen, was er sehr wohl wusste: dass die Landkarte der Siedlungen der Landkarte des Friedens widerspricht. Fast sehe es so aus, als habe Israel gar nicht mehr den Wunsch, Frieden zu schaffen. "Zwischen den Zeilen von Netanjahus spitzfindiger Rede, die den neuen Weltgeist hätte aufgreifen müssen, den Obama beschreibt, kann man lesen, dass es keinen Frieden geben wird, außer wenn man ihn uns vorschreibt. Es ist nicht leicht einzugestehen, aber es sieht so aus, als bliebe den Israelis und Palästinensern nur eine Wahl: zwischen einem sofortigen und zuverlässigen Frieden – der beiden Seiten durch eine Intervention der internationalen Gemeinschaft unter der Ägide der Vereinigten Staaten aufgezwungen wird – und einem Krieg, der unter Umständen härter und bitterer wird als alle vorangegangenen."

Magazinrundschau vom 16.06.2009 - Nouvel Observateur

Unter der Überschrift "Die große Enttäuschung" bilanziert der südafrikanische Schriftsteller und Kampfgefährte von Nelson Mandela, Breyten Breytenbach, in einem Gespräch die Zeit nach dem Ende der Apartheid. Sein jetzt erscheinender Essayband "Le Monde du milieu" (Actes Sud) enthält auch einen Brief an Mandela zu dessen 90. Geburtstag im vergangenen Jahr, in dem er sich bitter über die verheerenden Zustände im Land beklagt: Gewalt, Raub, Vergewaltigungen, Fortbestand des Rassismus und das Fehlen einer öffentlichen Moral. In seiner Analyse der Gründe dafür erklärt er: "Das ist die große Frage, die sich hier viele stellen: Sollten wir uns über die moralische Qualität der Befreiungsbewegung getäuscht haben? (...) Hat der ANC also versagt? Da spielen viele Faktoren eine Rolle. Bei der Umstellung und Erneuerung der Behörden mussten alte Beamte durch neue ersetzt werden. Dabei hat man enorme Kompetenz eingebüßt. Heute zeigt sich, dass 60 Prozent der Gemeinden im Land pleite sind, vor allem wegen Fahrlässigkeit der örtlichen Beamten. Man kann den alten Verwaltungskadern alles Mögliche nachsagen, aber sie haben eine Apparatschik-Kaste geschaffen, die das Land relativ gut verwaltet hat."

Magazinrundschau vom 09.06.2009 - Nouvel Observateur

In einem Interview spricht der britische Historiker Eric Hobsbawm anlässlich des Erscheinens seines Buchs "L'Empire, la democratie, le terrorisme", das Reflexionen über das 21. Jahrhundert versammelt, über die Pathologie des neoklassischen freien Wirtschaftssystems, den "Fundamentalismus des Markts" und prophezeit die Rückkehr von Marx und Keynes. Keynes Comeback gelte dabei dem "Techniker der Wirtschaft", denn er sei zwar ein brillanter Geist, aber im Gegensatz zu Marx kein großer Analytiker der Wirtschaftsgeschichte gewesen. Auf die Frage nach der Zukunft Amerikas meint er: "Die Geschichte des amerikanischen Imperiums ist auch so eine pathologische Aberration. Bush hat versucht, ein Weltimperium zu errichten. Der Irak-Krieg, der Teil dieses Projekts war, hatte keinerlei Berechtigung. (...) Die richtige Frage ist doch, zu wissen, ob das Projekt der Weltbeherrschung durch einen einzigen Staat - was beispiellos in der Geschichte ist - möglich ist, und ob die überwältigende militärische Überlegenheit der USA imstande ist, sie herzustellen und aufrechtzuerhalten. Die Antwort auf beide Fragen lautet: Nein."