Magazinrundschau - Archiv

The Paris Review

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Magazinrundschau vom 10.10.2017 - Paris Review

In der Paris Review porträtiert Edward White die russische Kampffliegerin Lilja Litwjak, die in der sowjetischen Frauen-Kampffliegerstaffel flog, die die 29-jährige Flugnavigatorin Marina Raskova 1941 gegründet hatte. Mit 20 war Litvyak eine individualistische, furchtlose und unheimlich begabte Fliegerin. Sie gilt als die erste Frau in der Geschichte, die im Luftkampf feindliche Flieger tötete. Im Juli 1943 verschwand sie mit ihrem Flugzeug, Überreste wurden nie gefunden. Aber hätte sie, die ihr Haar blondierte, ihre Uniform mit einem Pelzkragen aufpeppte und sich in einer männlichen Fliegerwelt behauptete, im agressiv erzwungenen Konformismus der Nachkriegs-Sowjetunion überleben können? "Es mag seltsam erscheinen, dass Litwjak es wagte, sich so frei ausdrücken, bedenkt man, dass sie pausenlos überwacht wurde - nicht nur von ihren Vorgesetzten, sondern auch von den Spitzeln der Partei und des Staates. Doch trotz all des Horrors, den der Krieg mit sich brachte, erlebten viele Sowjetbürger ihn als eine Oase der (relativen) Freiheit, als man sprechen und handeln konnte, ohne ständig befürchten zu müssen, die Parteilinie zu überschreiten. 'Zu denken', schrieb beißend Nadeshda Mandelstam an ihre Freundin Anna Achmatowa, 'dass wir die besten Jahre unseres Lebens im Krieg hatten, als so viele Menschen getötet wurden, als wir hungerten und mein Sohn Zwangsarbeit leisten musste.'"

Magazinrundschau vom 08.08.2017 - Paris Review

Billy Bragg, der Veteran unter Englands Protestbarden, hat ein Buch über Skiffle geschrieben. Im Interview plaudert er über die Gitarre im britischen Nachkriegspop, den Einfluss von Lonnie Donegan, und den Wandel von Jugendkultur: "In England markiert Skiffle den Beginn von Musik als kulturelle Avantgarde der Jugend. Das gibt es ja heute so nicht mehr. Diese Rolle hat Musik verloren. Heute macht man das anders. Wenn man wütend ist oder sich mit einem Menschen oder einer Sache identifizieren will, dann braucht man nicht mehr das Album zu kaufen oder sich wie sein Held kleiden, man ist kein Mod oder Ted mehr, kein Rocker oder Punk. Heute macht man das mit seinem Profil in den sozialen Medien. Natürlich gibt es aber immer noch Leute da draußen, die mit ihrer Musik eine Kante zeigen, für die Musik noch der wichtigste Weg ist, etwas mitzuteilen. Aber sie sind so marginalisiert wie es Leadbelly war. Bei uns sind das die Grime-Musiker -  junge, urbane Schwarze - , die HipHop und jamaikanischen Dancehall mixen. Das waren übrigens die einzigen, die sich bei den Wahlen für Jeremy Corbyn ausgesprochen haben. Mit vielleicht zwei oder drei Ausnahmen wie mich und die anderen üblichen Verdächtigen, die das sowieso immer tun."

Magazinrundschau vom 11.07.2017 - Paris Review

Adam Begley, Autor eine neuen Biografie über den großen Fotografen Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon), blättert für die Onlineausgabe der Paris Review das Gästebuch des seinerzeit schon berühmten Porträtisten auf: Nadar bat Berühmtheiten seiner Zeit, sich mit Vignetten, Kompositionschnipseln oder Gedichten zu verewigen. Das Original des Gästebuchs ist über verschlungene Wege in eine Bibliothek in Philadelphia gelangt. Und die Promis defilierten nur so: "Der Anarchist Pierre-Joseph Proudhon, Erfinder des Slogans 'Eigentum ist Diebstahl' donnerte 'Außer den Peinigern kenne ich nichts Abscheulicheres als die Märtyrer'. Viele Seiten später taucht ein weitere Anarchist aus, der russische Aristokrat und ruhelose Revolutionär Michail Alexandrowitsch Bakunin, der in französischer Schreibweise unterzeichnete: Bakounine. Er kam am 7. August 1862 zu Besuch und hinterließ die rätselhafte Warnung: 'Achten Sie darauf, dass die Freiheit Ihnen nicht von Norden kommt.' Ein Jahr zuvor hatte hatte er eine wagemutige Flucht aus Siberien angetreten. Unter Bakunins Signatur findet sich eine Skizze zweier Holzpantinen von Jean-François Millet. Nadar betrachtete Millet als einen der besten französischen Maler der Zeit und pries seine Kunst als 'im Kern demokratisch'. Bakunin und Millet - was für ein Zusammentreffen!"


Magazinrundschau vom 18.04.2017 - Paris Review



In ihrer Kolumne für die Paris Review denkt Megan Mayhew Bergman über die Heldin nach. Wo kommt sie her, was zeichnet sie aus? Anlass ist ein wunderbares Foto von einem Mittagessen 1959 im Haus der Schriftstellerin Carson McCullers. Mit am Tisch: Marilyn Monroe, Isak Dinesen (auch bekannt als Tania Blixen) und Arthur Miller. "Carson trägt schwarz und eine deprimierte Haltung. Marilyn, in Pelz und tiefem Dekolletee, erzählt eine Geschichte, wie sie Pasta mit einem Fön fertig kochte. Isaks Wangenknochen stellen sich unter dem Saum ihres Turbans selbst vor. Sie erinnert sich an den ersten Löwen, den sie getötet hat, isst an diesem Tag wenig mehr als Austern, Weintrauben und Amphetamine. Acht Jahre später sind sie alle tot. Für mich verkörpert dieses Bild die gebrochene Natur der Weiblichkeit: etwas Sinnliches, Intellektuelles und Eigensinniges, das in einem einzigen Körper existiert." 

Magazinrundschau vom 08.03.2016 - Paris Review

Vor 60 Jahren zierte Alfred E. Neumann zum ersten Mal in der heutigen Gestalt ein MAD Magazine. Woher das seitdem untrennbar mit der Comic- und Satirezeitschrift verbundene Maskottchen allerdings stammt, darüber streiten sich die Gelehrten, wie wir von Sam Sweet erfahren. Tatsächlich entpuppt sich die Vorgeschichte des charakteristischen Zahnlücken-Grinsegesichts als eine Art Vorläufer heutiger Mems, deren Ursprünge ebenfalls oft im Dunkeln liegen. Eine ziemlich frühe Emanation hat der Popkulturforscher Peter Reitan beim Auswerten alter Zeitungsscans ausfindig gemacht: "Als er eine alte Ausgabe des Los Angeles Herald durchsah, fiel ihm ein bekanntes Gesicht auf, das ihn aus der Ecke anblinzelte. Das wuschelige Haar, der fehlende Zahn - Neumann. Unter dem Gesicht stand zu lesen: 'What's the good of anything? - Nothing!' Es handelte sich um Reklame für ein Stück namens 'The New Boy'. Die Zeitungsausgabe datierte auf den 2. Dezember 1894. ... Das ursprüngliche Bild, schlussfolgerte Reitan, basierte wahrscheinlich entweder auf Bert Coote oder James T. Powers, zwei gummigesichtige, rothaarige Schauspieler, die für die ersten Inszenierungen des Stücks auf der Bühne standen. Wie Reitan ausführt, dürfte die Werbung 'wohl in jeder Stadt zu sehen gewesen sein, in der das Stück während seiner fünf Jahre dauernden Tourneen gastierte', was die spätere Omnipräsenz des Jungen erklären würde. Man nutzte das Konterfei für politische Karikaturen und wenig später für mehr Werbung, inklusive der Grafik für 'Atmore's Pie'. Jeder neue Aufgriff inspirierte eine neue Welle von Nachahmern: Die Figur spaltete sich auf und vervielfältigte sich, was wiederum ihr Mem-Potenzial bestärkte und ihre Ursprünge kaschierte." Mehr zu dieser Geschichte auch in diesem Blogposting.

Magazinrundschau vom 13.01.2015 - Paris Review

In einem Interview über seinen neuen Roman "Unterwerfung" erklärt Michel Houellebecq, warum er in absehbarer Zeit eine muslimische Partei in Frankreich für recht wahrscheinlich hält: "Ich habe versucht, mich an die Stelle eines Muslims zu versetzen und erkannt, dass sie in der Realität in einer total schizophrenen Situation sind. In der Regel sind Muslime nicht an wirtschaftlichen Dingen interessiert. Ihre großen Interessen liegen in dem was wir heute gesellschaftliche Belange nennen. In diesen Dingen sind sie offensichtlich sehr weit entfernt von der Linken und noch weiter von den Grünen. Man denke nur an die Schwulenehe, dann wird klar, was ich meine. Aber sie können auch nicht rechts wählen, schon gar nicht die extreme Rechte, die sie vollkommen ablehnt. Wenn ein Muslim also wählen will, was soll er dann tun? Die Wahrheit ist, dass er in einer unmöglichen Situation steckt. Niemand repräsentiert ihn. Darum erscheint mir eine muslimische Partei sinnvoll. [...] Auf der Ebene, die wir gewöhnlich Werte nennen, haben Muslime mehr gemeinsam mit der extremen Rechten als mit der Linken. Es gibt eine fundamentalere Opposition zwischen Muslimen und Atheisten als zwischen Muslimen und Katholiken. Das scheint mir offensichtlich."

Magazinrundschau vom 11.06.2014 - Paris Review

In der Paris Review denkt Karl Ove Knausgaard anlässlich einer Fotoserie von Thomas Wågström (Bildbeispiele im Text) in einem schönen langen Essay über die andere Seite des Gesichts nach, genauer: das Genick. Hier der Anfang: "Wenn ich an das Genick denke, dann fallen mir dazu als erstes die Guillotine ein, Enthauptungen, Hinrichtungen. Das ist ein bisschen seltsam, den ich lebe in einem Land, in dem es keine Hinrichtungen gibt, auch keine Guillotinen. Enthauptungen gar sind ein völlig marginales Phänomen in der Kultur. Dennoch, wenn ich an das Genick denke, denke ich: hack es durch."

Magazinrundschau vom 27.01.2014 - Paris Review

"Ich erwachte kürzlich eines Morgens und fand mich in einen 70jährigen Mann verwandelt", beginnt der kanadische Filmregisseur David Cronenberg sein von der Paris Review dokumentiertes Vorwort zu einer englischen Neuübersetzung von Kafkas "Die Verwandlung". Aber lässt sich Kafkas Erzählung wirklich ohne weiteres als Allegorie auf das menschliche Altern verstehen? "Gewiss, einen Geburtstag sieht man schon von Weitem, und wenn er eintritt, sollte das keinem Schock gleichkommen. Und wie einem jeder wohlwollende Freund sagen wird, ist 70 auch nur eine Zahl. ... Die zwei Szenarien, Gregors und meines, scheinen so unterschiedlich, dass man sich fragen könnte, warum ich mir überhaupt die Mühe mache, beide zu vergleichen. Ich aber sage: Die Quelle der Transformation ist dieselbe. Wir beide erwachten in einem Zustand erzwungenen Bewusstseins dessen, was wir wirklich sind. Und dieses Bewusstsein ist grundlegend und unumkehrbar. In beiden Fällen entpuppt sich die Wahnvorstellung als neue, vorgeschriebene Realität. Und das Leben geht nicht weiter wie bisher."
Stichwörter: Cronenberg, David, Wir Beide

Magazinrundschau vom 09.07.2013 - Paris Review

In aller Ausführlichkeit spricht Jesse Baron mit dem Schriftsteller Karl Ove Knausgaard über dessen sehr akribische, Proust'sche Art und Weise, sein persönliches Umfeld und seine Erinnerungen zu literarisieren. Sehr schön sind seine Überlegungen über den Zusammenhang von Welt und Sprache, die er bei einer konzentrierten Lektüre des Alten Testaments entdeckte: "Alles darin ist gegenständlich, nichts abstrakt. Gott ist gegenständlich, auch die Engel und alles andere hat mit Körpern in Bewegung zu tun, was sie sagen und tun, nie, was sie denken. ... Im sechsten Band von 'Min Kamp' schreibe ich auf vierhundert Seiten über Hitlers 'Mein Kampf'. Hitler verbrachte ein Jahr ohne einen anderen Menschen zu sehen, er saß nur in seinem Zimmer und las. Wenn er das Zimmer verließ, ließ er keinen an sich heran und so blieb er, ungebrochen, für den Rest seines Lebens. Bezeichnenderweise gibt es in seinem Buch ein 'Ich', ein 'Wir', aber kein 'Du'. Und während ich über Hitler schrieb, massakrierte ein junger Norweger, der zwei Jahre ganz für sich alleine war und ein Manifest mit einem starken 'Ich', aber ebenso ohne ein 'Du, geschrieben hat, auf einer Insel 69 Kinder. ... Die Lücke zwischen der Sprache und der Welt, die Betonung der materiellen Aspekte der Welt und wie Hitler 'Mein Kampf' schrieb, brachten mich zu Paul Celan, weil die Sprache, in der er schrieb, von den Nazis zerstört wurde. ... Mit einem Mal repräsentierte keines dieser Wörter mehr etwas Allgemeines, das ein 'Wir' implizieren würde, da das 'Wir' in dieser Sprache nicht mehr sein 'Wir' war. Deshalb ist sein letztes Poem über die Shoah ein Gedicht, in dem jedes Wort zum ersten Mal geschaffen zu sein scheint, komplett einzigartig, da das 'Wir' verloren ist, aus einem Abgrund geschöpft, einer Nichtsheit. Und darin wird etwas anderes als die Geschichte sichtbar, namentlich das Äußere der Sprache, das sich tatsächlich nicht denken lässt, denn Gedanken sind Sprache, und doch ist es gegenwärtig, noch immer da. Es handelt sich um die Welt, jenseits unseres Zugriffs, und um den Tod." Außerdem weist Baron auf diesen Essay über Knausgaards Werk hin.

Pedro Almodóvar bietet in einem Text über Komik Einblick in die Inszenierung seiner eigenen Komödien und stellt außerdem die von ihm bewunderte "Mediterrane Schule" des Schauspiels vor: "Was in der Mediterranen Schule dominiert ist die Leidenschaft der Figuren, ihre Sinnlichkeit und Offenheit, als ob die Figuren sich selbst oder die anderen nicht respektieren. Diese Qualität passt sehr gut zu Komödien. Die Frauen und Männer sind aus Fleich und Blut, sie haben sich nicht die Haare extra richten lassen, sie rufen viel und laut und verlieren die Kontrolle. Es wirkt so, als würden sie einander verschlingen, auch wenn im Nachhinein alles so aufgelöst wird, wie es sich gehört - im Bett. Sie sind weniger elegant als die Engländer, aber dafür sexier. Diese Bodenständigkeit und Realitätsverhaftung ermöglicht es der Mediterranen Schule die sozialen Probleme mit viel Humor anzusprechen und sich über die Begrenztheiten des Lebens - oder dessen Tragödien, je nachdem, in welcher Zeit wir sind - zu amüsieren, um damit Licht und Gelächter durch die Schwärze scheinen zu lassen. Ein Meister, nicht festlegbar und einzigartig, der mit den größten lokalen Exponenten dieser Art des Schauspiels gearbeitet hat, war Luis García Berlanga."

Magazinrundschau vom 24.07.2012 - Paris Review

Der amerikanische Musiker und Journalist Brian Cullman erzählt, wie er in jungen Jahren zufällig London-Korrespondent des New Yorker Musikmagazins Crawdaddy wurde. Seine prägendste Erinnerung hat er im Haus des befreundeten Musikers John Martyn, wo er 1970 dem damals 21-jährigen Nick Drake begegnete, vier Jahre vor dessen Tod: "Ein Vorhang von ungekämmten dunklen Haaren hing ihm ums Gesicht und verdeckte alles außer seinen Augen. Er sah als, als wäre er stoned. Er sah aus, als schliefe er. Er sah aus, als sei er die wachste Person in der Geschichte der Menschheit. Alles davon. Jedes Mal, wenn ich diese Szene im Kopf durchspiele, ist sie anders. Und jedes Mal ist sie wahr. Er trug ein ausgefranstes weißes Hemd und Jeans und Stiefel und eine schwarze Cordjacke, die eine Nummer zu groß war. Normalerweise achte ich nicht besonders auf Kleidung, aber mein erster Gedanke war: Wo kriege ich eine schwarze Cordjacke her?"

Hier eine Demo-Aufnahme von Nick Drakes Song "Hazey Jane", der am Ende des Artikels zitiert wird: