Magazinrundschau - Archiv

Radar

31 Presseschau-Absätze - Seite 2 von 4

Magazinrundschau vom 16.11.2004 - Radar

Paloma Fabrykant präsentiert staunend einen neuen Star in Argentinien: Den Weltmeister im Kickboxen Jorge "Acero" ("Stahl") Cali. "Das gab es noch nie: So viele Zuschauer bei einem Kickbox-Kampf, und darunter so viele Leute aus der Oberschicht, und die meisten von ihnen Frauen. Acero Cali verteidigt seinen Titel gegen Tigre Rosiuk, und die Mädchen haben sich fein gemacht. Weit ausgeschnittene Kleider, Pfennigabsätze, glitzernder Schmuck ziehen während der Vorkämpfe die Blicke auf sich." Im Gespräch, zu dem Cali in der Arena des Hilton Hotel Buenos Aires erscheint, entpuppt sich der Stählerne als weniger glamourös: "Zuerst kommt für mich der liebe Gott, dann meine Familie. Ich wollte immer ein Anführer sein. Der Beste. Ich wusste, dass ich es schaffen würde, und habe mir einen harten Weg ausgesucht. Erst war ich Aluminium, dann Blech, dann Eisen, jetzt Stahl. So bin ich. Wäre ich nicht Sportler geworden, sondern Straßenfeger, würde ich dafür sorgen, dass mein Bezirk immer der sauberste von allen ist."

Radikalökologische Körperpolitik praktizieren die Norweger Tommy Hol Ellingsen und Leona Johansson: Für fünfzehn Dollar pro Monat lassen sie jeden, dem der Sinn danach steht, auf ihrer Website fuckforforest in Bild und Ton an ihrem Sexualleben teilnehmen - zehn Dollar davon gehen an Umweltstiftungen. Nur will bislang so gut wie keine dieses unkorrekte Geld annehmen. Beim Quart-Rockfestival im norwegischen Kristiansand hatten die beiden bereits einen Live-Auftritt. Sergio Olguin, der die Norweger vorstellt, hofft schwer auf Wiederholung beim nächsten Quilmes Rock Festival in Buenos Aires. Quilmes ist die größte argentinische Bierbrauerei.

Außerdem in Radar: Die zu erwartende Hymne von Rodrigo Fresan auf "2666", das über 1000 Seiten starke, soeben postum und unvollendet veröffentlichte Monumentalwerk des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolano (Mehr hier auf Spanisch und hier auf Deutsch. Und hier die ebenfalls sehr positive Besprechung von Andres Gomez Bravo aus Reportajes.)

Magazinrundschau vom 27.09.2004 - Radar

Und welches ist ihr Lieblings-Graham Greene? Die Kultur- und Literaturbeilage der argentinischen Tageszeitung Pagina 12 hat anlässlich des 100-jährigen Geburtstages des britischen Viel- und Meisterschreibers eine kleine Umfrage gestartet. Felisa Pinto erzählt, wie sie während des Falkland-Krieges von dem berühmten Schriftsteller eine Stellungsnahme erbat. Mit einer verfälschenden Überschrift, um sie an der Zensur vorbeizuschmuggeln, wurde seine Antwort damals von der Tageszeitung Clarin veröffentlicht. Greene gestand den Argentiniern durchaus ein Anrecht auf die abgelegenen Inseln zu, wünschte sich aber, dass der einmal angefangene Krieg das schnelle Ende der Militärdiktatur herbeiführe. So kam es dann ja auch.

In Sachen Erinnerungskultur und Umgang mit totalitärer Vergangenheit kann Buenos Aires von Berlin noch einiges lernen, glaubt Marcelo Brodsky. Vorbildhaft findet der Künstler "jenen in Straßen, Museen, Denkmälern und Debatten gemeißelten Blick auf die Vergangenheit, der die Gründung reiferer, bewussterer und toleranterer Gesellschaften erst ermöglicht". Brodsky stellt derzeit "Buena Memoria", eine Fotodokumentation über die Verfolgung während der Militärdiktatur, im Jüdischen Museum Berlin aus (weitere Veranstaltungen des Festivals Buenos Aires-Berlin, hier). Außerdem: ein Interview mit Norman Mailer, geführt von seinem Sohn John Buffalo Mailer, und zwei Rezensionen vielversprechender Bücher: die wohlwollende Besprechung des neuen Romans von Jaime Bayly, sowie die ebenfalls lobende Begutachtung einer Studie über das Treiben von Butch Cassidy und Sundance Kid in Patagonien, Anfang des 20.Jahrhunderts. Zumindest was diese beiden US-Gangster angeht, scheint Bruce Chatwin in seinem berühmten Reisebericht inhaltlich ziemlich geschludert zu haben.

Magazinrundschau vom 20.09.2004 - Radar

Radar rührt die Werbetrommel für Mario Bellatin. Der Mexikaner und Peruaner leitet eines der "eigenartigsten literarischen Projekte Lateinamerikas der letzten Jahre", findet die Kultur- und Literaturbeilage der argentinischen Tageszeitung Pagina 12. Nach kurzer Vorstellung kommt der Autor von "Der Schönheitssalon" und "Der blinde Dichter" auch selbst zu Wort. "Mein Anliegen ist es nicht, Botschaften zu übermitteln (...) Ich versuche Dinge zu benennen, aber ohne moralischen Ballast", meint er. Bellatin weiß auch einiges über die von ihm in Mexiko geleitete und tatsächlich so genannte "Dynamische Schriftstellerschule" zu berichten.

Ein weiterer Beitrag stellt den Chilenen Mauricio Electorat vor, der mit "La burla del tiempo" den diesjährigen Premio Biblioteca Breve gewann, jenen Literaturpreis also, der in den sechziger Jahren einiges zum Boom der lateinamerikanischen Literatur beitrug, dann aber eingestellt wurde. Seit nunmehr fünf Jahren wird er wieder vergeben - und hat wegen vermeintlicher Fehlentscheidungen schon einiges an Kritik auf sich gezogen . Bei "La burla del tiempo" scheint alles in Ordnung zu gehen. Rezensent Juan Sasturain jedenfalls bescheinigt dieser Schilderung einer Generation, die erst unter Diktator Augusto Pinochet erwachsen wurde, "triumphale literarische Qualitäten ". Handlungschauplätze sind nicht nur die chilenische Hauptstadt, sondern auch Paris, wo Electorat schon seit 1987 lebt.

Hochgelobt wird auch ein jüngst in den USA erschienener Band mit Interviews von Andy Warhol. "Warhol las keine Bücher. Er las Interviews. Seine Erklärung: Ich suche dort, was ich in meinen eigenen Interviews sagen könnte", erzählt Rezensent Rodrigo Fresan. Lesenswert ist auch die kurze, aber heftige Attacke des Franzosen Olivier Malnuit gegen die angeblich nicht nur amerikanische, sondern zu aller Unglück auch noch neoliberale "cyberculture". Toll schon der Leadsatz: "Das Problem mit der Zukunft ist, dass sie immer in den USA stattzufinden scheint."

Magazinrundschau vom 16.08.2004 - Radar

Reisender, kommst du nach Buenos Aires, besorge dir Radar, die Kulturbeilage der argentinischen Tageszeitung Pagina 12, und du wirst dein erstes Wochenende vor Ort lesend verbringen. Aber auch im Netz hat die aktuelle Ausgabe wieder reichlich Lokales wie Globales von Interesse zu bieten: Aufmacher diesmal ein Führer durch das übernatürlich-okkulte Buenos Aires. Seit neuestem wird sogar eine Stadttour auf den Spuren spektakulärer Gespenster und Verbrechen angeboten, zur Route gehört u. a. die deutsche Botschaft, die ehemalige wie die derzeitige.

Wer lieber den Spuren des Tango folgt, lese Julio Nudlers Geschichte der Gebrüder Monteagudo, "criollos portenos", wie sie Borges nicht schöner hätte erfinden können. Einen weiteren Lokalhelden feiert Martin Perez, den Comic-Zeichner Max Cachimba (im wirklichen Leben: Juan Pablo Gonzalez - s. a. hier). Zur Zeit arbeitet Cachimba, der angeblich ohne TV aufwuchs, an einer Adaptation der Äneis.

Reisender, kommst du nach Buenos Aires, vergiss auch den Walkman - oder jetzt: Discman - nicht, von Europa aus sind es non stop 12 Flugstunden. Norman Lebrecht gedenkt des 25. Geburtstages dieser Erfindung, von der seither weltweit 340 Millionen Exemplare verkauft worden sein sollen, was nach Ansicht des Gratulanten jedoch das langsame Sterben der Musik eingeleitet hat.

Außerdem in Radar: Luzide Überlegungen von Alejandro Katz zur aktuellen Lage der Buchverlage in Südamerika, die sich in nichts von hiesigen Verhältnissen zu unterscheiden scheint. Und ein langes Interview mit Chuk Palahniuk, einem Schriftsteller, der für seine schockierenden Beschreibungen von Gewalt jeder Art bekannt ist.

Magazinrundschau vom 02.08.2004 - Radar

Gleich mehrere Beiträge der aktuellen Ausgabe von Radar widmen sich dem Thema der literarischen Übersetzung. In einem Vorabdruck aus einer Untersuchung zur Praxis der Literaturübersetzung in Argentinien betont deren Autorin Patricia Willson den "demokratisierenden Charakter" des Übersetzens; daneben will sie die seinerzeit von Schriftstellern wie Jorge Luis Borges, Victoria Ocampo oder Jose Bianco angefertigten Übersetzungen von der Regel ausgenommen wissen, der zufolge Übersetzungen im Unterschied zu den übersetzten Originaltexten in oft überraschend kurzer Zeit veralten.

Der Schriftsteller und Filmregisseur Edgardo Cozarinsky wiederum erzählt von einem Treffen mit Übersetzern aus verschiedenen Ländern, die allesamt an der Übertragung seines Romans "El rufian moldavo" (mehr dazu hier) arbeiten (die deutsche Ausgabe wird im Wagenbach Verlag erscheinen). Unbehaglich wurde es Cozarinsky bei der von einem der Teilnehmer geäußerten Ansicht, es sei doch logisch, ein argentinisches Buch ins "amerikanische" (statt ins "britische") Englisch zu übertragen.

Für Argentinier, die auf (Neu)Übersetzungen nicht angewiesen sind, bespricht Ariel Magnus die soeben bei Suhrkamp erschienene deutsche Neuausgabe von Max Frischs Roman "Stiller": "Was reizt uns heute noch an diesem vor fünfzig Jahren erschienenen Buch? Wir kehren zu Stiller zurück wie Stiller in die Schweiz, weil wir hoffen, uns verändert zu haben, weil wir davon träumen, uns neu zu erfinden."

Mit einer anderen Form von Übersetzung und Neuerfindung beschäftigt sich die Argentinierin Josefina Fernandez in ihrem Buch "Cuerpos desobedientes". In einem ausführlichen Interview mit Radar beschreibt sie die sich verändernde -oder auch stagnierende - Situation der Transvestiten innerhalb der argentinischen Gesellschaft.

Magazinrundschau vom 19.07.2004 - Radar

Ein echtes Kuriositäten- und Gruselkabinett hat die Radar-Redaktion für die aktuelle Ausgabe eingerichtet: Zu Beginn rekonstruiert Moira Soto die reichlich exzentrische Lebens- und Liebesgeschichte von Hedwig Kiesler und Fritz Mandl - erstere legte sich später in Hollywood den Namen Hedy Lamarr zu, letzterer war Waffenhändler bzw. eine Art Karlheinz Schreiber des Dritten Reichs (s. a. hier), der in den vierziger Jahren in Argentinien untertauchte und fortan General Peron zu seinen besten Kunden zählen durfte; Manuel Puig hat aus dem Stoff seinen berühmten Roman "Pubis angelical" gemacht, und Radar bringt the whole story.

Ein echter Freak war auch Timothy Agoglia Carey, der sich durch seine verhängnisvoll infantile Begeisterung für die eigene Flatulenz um eine Filmkarriere brachte; da blieb ihm zeitlebens nur die Rolle eines "Segundon", also dieser (für die Geschichte des Kinos so unverzichtbaren) Schläger und Bösewichte im Hintergrund - u. a. Kubrick, Cassavetes, Coppola und zuletzt Tarantino müssen sich geradezu um ihn gerissen haben, erzählt Grover Lewis.

Wo das alles endet, beschreibt wiederum Moira Soto: Sie hat das Museum des Leichenschauhauses von Buenos Aires besucht: "Unbestrittener Star unter den Ausstellungsstücken ist der Leichnam einer Frau, der/die erst 'post mortem' zerstückelt wurde: er/sie wurde in Männerkleidern aufgefunden, da war Zerstückeln offensichtlich die angemessene Strafe für ein als 'Mann' zugebrachtes Leben."

Wer jetzt noch nicht genug hat, darf sich von Radar Bilder einer Webseite zeigen lassen, die (noch lebende) Hollywoodstars als Glatzköpfe präsentiert - womöglich, um ihnen oder auch den Betrachtern beizeiten den Kopf zurechtzurücken?

Magazinrundschau vom 05.07.2004 - Radar

Vielfältiges Heldengedenken in der aktuellen Ausgabe von Radar: Zum zehnten Todestag von Charles Bukowski (mehr) erinnern sich nicht nur verschiedene seiner argentinischen Leser der ersten Stunde an den großen Beat-Poeten, sondern Radar druckt auch ein langes Interview ab, das Sean Penn 1987 mit Bukowski führte. "Genet und Sartre nannten ihn 'den besten Dichter der USA', aber seine Freunde nennen ihn Hank", stellt Penn seinen Gesprächspartner vor, um Bukowski anschließend unter anderem diese unvergleichlich aktuellen Sätze über das Nichtstun zu entlocken: "Ob Schauspieler, Hausfrau oder was auch immer - es muss lange Pausen geben, während denen man nichts tut. Man legt sich aufs Bett und starrt an die Decke. Nichts zu tun ist sehr, sehr wichtig. Und wie viele Leute tun das in der modernen Gesellschaft? Sehr wenige. Deshalb sind die meisten total durch den Wind, frustriert, schlecht gelaunt und unerträglich."

Diego Fischerman wiederum gratuliert im Namen der Radar-Redaktion Chico Buarque de Holanda zum sechzigsten Geburtstag, dem "elegantesten, diskretesten und großmütigsten" aller brasilianischen Musikergrößen, wie ihn ein anderer Großer der brasilianischen Musik charakterisiert, Caetano Veloso, der seinerseits schon vor längerem unter dem Titel "Verdade tropical" die Biografie seiner Musikergeneration veröffentlicht hat.

Weiter geht's mit einem Reisebericht von Mariano Blejman. Er hat ein Filmteam begleitet, das die Dorfschule des bolivianischen Andennestes aufgesucht hat, in dem vor fast vierzig Jahren Che Guevara erschossen wurde: "Dorita Torrico erzählt mir, das sie zum Heiligen Che gebetet hat, damit sie einen Job bei den Dreharbeiten bekommt. So hat sie es geschafft, als Putzfrau und Küchenhilfe des Filmteams beschäftigt zu werden. Jetzt, kurz bevor alles vorbei ist, betet sie zum Che, dass es noch weitergeht und dass ihr jemand hilft, ihre Tochter zu finden, die in Argentinien verschwunden ist." Wie der Film "Di buen dia a papa" (mehr hier) von Fernando Vargas und Veronica Cordova zeigt, hat Che Guevara längst den unbestrittenen Status des Dorfheiligen von Vallegrande erlangt.

Außerdem in Radar: Ein Bericht von einem Kongress argentinischer Schriftsteller in La Plata sowie die Ankündigung eines Gegenkongresses zum großen "Congreso de la Lengua", den die spanische Real Academia im November in Argentinien abhalten wird: Protestiert werden soll gegen den Madrider "verticalismo" und eingefordert werden sollen "die nicht-spanischen Wurzeln des lateinamerikanischen Kontinents und dessen sprachliche Autonomie".

Magazinrundschau vom 21.06.2004 - Radar

Über das Verhältnis von Stadt und Krieg diskutiert Geschwindigkeitsspezialist Paul Virilio in einem langen Interview anlässlich des Erscheinens seines neuesten Buches "Ville panique": "Die Stadt, einst das Herz unserer Zivilisation, ist zum Herzen des Zerfalls, der Auflösung der Menschheit geworden. Von jetzt an sind Krieg und Stadt gleichzusetzen."

Passend dazu eine Kritik Guillermos Piros an W.G. Sebalds Kritik am deutschen Diskurs über den (Luft)Krieg und die deutschen Städte: "Sebalds Buch 'Luftkrieg und Literatur' zeigt nicht so sehr die Unfähigkeit der Deutschen auf, die Verheerungen des Krieges zu beschreiben, als die Unfähigkeit des Autors Sebald, zu begreifen, dass Vergessen und Schweigen nötig sind, um weiterzuleben, oder vielmehr, dass Leben und Schreiben gerade darin bestehen, im richtigen Maße zu erinnern und zu vergessen."

Im richtigen Maße erinnern und vergessen könnte eine der Leistungen des argentinischen Fernsehsenders Canal 7 sein. Zur Zukunft des in peronistischer Zeit gegründeten Staatssenders, der mit einem Zuschaueranteil von zeitweilig unter 1 Prozent bereits kurz vor dem Verschwinden stand, jetzt aber wiederbelebt werden soll, äußern sich sieben argentinische Publizisten. (Die website von Canal 7 ist z. Z. noch "en construccion". Mehr dafür hier.)

Ergänzend hierzu bespricht Leonardo Moledo ein Buch, in dem zweiundzwanzig Intellektuelle sich zum ersten Jahr argentinischer Wiederbelebungsversuche durch die Regierung Kirchner äußern.

Unverändert lebendig wie gewalttätig das Verhältnis zwischen den Anhängern der ewigen Fußball-Rivalen von Buenos Aires Boca Juniors und River Plate. Radar bringt eine Auswahl von Fan-Stimmen, die das letzte Lokalderby kommentieren (mehr davon hier).

Magazinrundschau vom 07.06.2004 - Radar

Kunst und Gewalt - oder auch gewalttätige Kunst - ist das Schwerpunktthema der aktuellen Ausgabe von Radar, dem Kulturmagazin der argentinischen Tageszeitung Pagina 12. Eine Themenwahl, die ihren Grund auch in Vorlieben von Radar-Starkritiker und Alleskönner Rodrigo Fresan (siehe auch hier) haben mag. So widmet Fresan einen langen Text dem Phänomen der von ihm so benannten "post-Columbine-Literatur". Als dessen wichtigste Vertreter nennt Fresan Nick McDonell beziehungsweise dessen Roman "Zwölf", Booker-Preisträger D.B.C. Pierres "Jesus von Texas", Douglas Coplands "Hey Nostradamus", Jim Shepards "Project X" und Dennis Coopers "My Loose Thread": "Vor über 50 Jahren flog Holden Caulfield von der Schule und verlor und fand sich auf den Seiten von 'Ein Fänger im Roggen' (Lieblingsbuch des Mörders von John Lennon): 'Ich möchte sie umbringen, all diese falschen Leute', sagt Caulfield immer wieder. Für Caulfields Enkel scheint inzwischen der Moment gekommen zu sein, vom Wort zur Tat zu schreiten. Zum Beweis spielen sie kaltblütig 'Battle Royale' und beten Nacht für Nacht zum Herrn der Fliegen."

Damit nicht genug liefert Fresan in derselben Ausgabe auch ein Porträt von James Ellroy, dem selbsternannten "Demon Dog" der nordamerikanischen Literatur: "Ist Philip Roth der Große Jüdische Schriftsteller, Thomas Pynchon & Don DeLillo & Paul Auster die Große Trias der Postmoderne, John Updike der Große WASP und Toni Morrison die Große Schwarze, dann ist James Ellroy das Große Monster der Literatur."

Wie sich die Gewalttätigkeit der Verhältnisse im Dokumentarfilm abbilden lässt, hat in allen möglichen Varianten Joao Batista de Andrade vorgeführt, der Altmeister des brasilianischen Dokumentarfilms - aber immer "ohne off-Kommentar, eine der größten Schwächen dieses Genres: derlei Literatur verwandelt die Wirklichkeit in ein harmloses Abenteuer", wie Andrade in dem ihm gewidmeten Text von Horacio Bernades zitiert wird.

Außerdem in Radar: Eine euphorische Besprechung der jüngst von Cesar Aira herausgegebenen Gesamtausgabe der Gedichte des "argentinischen Pasolini" Osvaldo Lamborghini; und eine historisch-textkritische Reise von David Vinas durch Gefängnisse im tiefsten Süden Argentiniens, in Feuerland.

Magazinrundschau vom 17.05.2004 - Radar

Wenn irgendwo auf dieser Welt heute noch die Fahne der Psychoanalyse hochgehalten wird, dann bekanntlich in Argentinien. Die aktuelle Ausgabe von Radar, dem Kulturmagazin der argentinischen Tageszeitung Pagina 12, eröffnet mit einem langen Interview mit Elisabeth Roudinesco, altgediente Weggefährtin von Jacques Lacan und Vizepräsidentin der "Societe internationale d'histoire de la psychiatrie et de la psychanalyse" (mehr). Zentrales Thema des Interviews wie auch von Roudinescos letztem Buch ist "die Familie". Besonders spannend wird das Gespräch mit Maria Moreno, wenn die befragte Psychoanalytikerin ihrerseits Fragen stellt: "Und wie erklären die Unterdrücker hier in Argentinien ihren Kindern, dass sie die Mörder ihrer verschwundenen Eltern sind?" Beziehungsweise, wenn Roudinesco über das Recht eben dieser unter der Militärdiktatur geraubten Kinder spekuliert, nichts über ihre wahren Eltern zu erfahren. Überhaupt: Sind die biologischen Eltern zwangsläufig die wahren? Wohlmeinend heißt es dafür zum Schluss: "Die Dogmatiker sitzen in Europa und den USA. Die Zukunft der Psychoanalyse liegt in Argentinien."

Ein anderer Veteran rebellisch-aufklärerischer Zeiten, von dem ebenfalls schon lange nichts mehr zu hören oder zu lesen war, ist der Jazz-Bassist Charlie Haden. Die verdienstvollen Radaristas lassen ihn im Interview in aller Ausführlichkeit erzählen, unter anderem, was es für ihn bedeutet, in diesen Tagen US-Bürger zu sein, und was er seinen Schülern am California Institute of the Arts mit auf den Weg gibt: "Ich sage ihnen, dass sie gute Menschen werden müssen, dann werden sie vielleicht irgendwann auch gute Musiker."

Ein Künstler, der zum Urgestein der Musikszene von Buenos Aires gehört, und, ob guter Mensch oder nicht, außerdem ein legendärer "Frauenheld", ist Cacho Castana. Luis Bruschtein lässt den Schöpfer von mehr als 2.500 Musikstücken aus seinem Leben zwischen Tango und Elvis Presley berichten: "Die besten Stücke schreibt man, wenn einen eine Frau verlassen hat - wahrscheinlich, weil man ein Spinner ist oder weil man einfach gerne leidet, wer soll das wissen."