Magazinrundschau - Archiv

Tygodnik Powszechny

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Magazinrundschau vom 27.10.2009 - Tygodnik Powszechny

Der polnische Mittelalterhistoriker Karol Modzelewski, 1937 in Moskau geboren und aufgewachsen, war ebenso bekennender Kommunist wie systemkritischer Dissident. Im Interview kritisiert er die Historiografie, die sich mit dem Kommunismus weniger analytisch als exorzistisch beschäftige. Und er wehrt sich gegen den Anspruch, Geschichte nutzbar zu machen: "Muss denn Geschichte etwas lehren? Wird es nicht Zeit, erwachsen zu werden, statt sich dauernd nach irgendwelchen Lehrern umzuschauen?! 'Historia magistra vitae' - die Geschichte kann uns lustige oder belehrende Geschichten erzählen, aber Rezepte, wie wir leben sollten, müssen wir selbst schreiben."

Außerdem: Der Historiker Bartlomiej Noszczak erinnert daran, dass der Vatikan unter Pius XII. nicht nur zum Holocaust geschwiegen hat, sondern auch zu den Besatzungsverbrechen im Polen in Zweiten Weltkrieg, die zum großen Teil Katholiken betrafen. Und Michal Olszewski erklärt, warum sich die polnische Regierung mit dem geplanten Klimafond der EU so schwer tut - nach einigen Berechnungen würde der polnische Beitrag fast fünf Prozent der jährlichen Staatsausgaben betragen: "So gesehen würde auf der Landkarte eine zusätzliche, riesige Wojewodschaft erscheinen, bevölkert durch die Armen aus Afrika, Asien und Südamerika, ohne Zugang zu Wasser, Ackerland und Grundnahrungsmitteln."

Magazinrundschau vom 20.10.2009 - Tygodnik Powszechny

Vom Mai dieses Jahres bis Juli 2010 wird in Polen das "Jahr der Unabhängigen Kultur" gefeiert. "Wenn wir heute über 1989 oder breiter über die 70er und 80er Jahre diskutieren, wird die Kultur meistens vergessen. Dabei war die Untergrundkultur in Volkspolen ein für den Ostblock außergewöhnliches Phänomen, und trug dazu bei, die Räume der Freiheit zu erweitern, und somit 1989 vorzubereiten", sagt der Historiker Lukasz Kaminski.

"Sobocinski hört das Bild. Ja, er hört es - bevor er es sieht. Bevor er auf spektakuläre Weise zum führenden polnischen Kameramann wurde, gehört er zu den bekanntesten polnischen Jazzmusikern". Lukasz Maciejewski feiert den 80. Geburtstag von Witold Sobocinski, der durch Filme mit Andrzej Wajda, Krzysztof Zanussi oder Roman Polanski berühmt wurde. Und es gibt einen autobiografischen Essay von Herta Müller.

Magazinrundschau vom 13.10.2009 - Tygodnik Powszechny

Auch Roman Graczyk ärgert sich über die Kultur- und Medienschaffenden, die Roman Polanski verteidigen: "Wenn ich mir die Verteidiger Polanskis anhöre, habe ich den Eindruck, sie träumen davon, dass sich in unseren Zeiten wieder eine 'Dreyfus-Affäre' ereignen möge. Da es aber einen wirklichen Fall dieser Art nicht gibt, muss er geschaffen werden. Immer wieder werden Anwärter für diese Rolle gesucht - diesmal fiel die Wahl auf Roman Polanski."

Adam Boniecki, der Chefredakteur von "Tygodnik", schreibt in seinem Nachruf auf Marek Edelman: "Edelman blieb sein ganzes Leben lang 'der letzte Anführer des Ghettoaufstands'. Es war wohl nicht einfach für ihn, zumal er nie die Rolle eines verdienten Veteranen annehmen wollte. Wie soll man leben, wenn man nolens volens eine historische Gestalt ist? Jacek Kuron charakterisierte Edelmans Sicht folgendermaßen: 'Für ihn war jeder Verfolgte ein Jude, unabhängig davon, wann und wo er unterdrückt wird. Er bewertete die Gegenwart aus der Perspektive des Einsatzes für die Verfolgten und Schwachen'. Das klingt schön, ist aber unheimlich schwierig." Weitere Artikel dazu im speziellen Dossier.

Weitere Artikel: Andrzej Stasiuks neuer Roman "Taksim" erzählt nichts Neues, behauptet Dariusz Nowacki. "Man kann immerhin sagen, dass der Autor dafür gesorgt hat, dass der Roman auf verschiedene Arten gelesen werden kann, auch quer zur realistischen Konvention, in der er gehalten ist. Diese Perspektive ist sehr attraktiv - die Entzifferung der Symbole und Metaphern im Buch scheint eine interessantere Tätigkeit zu sein, als der Versuch, die launische Handlung zu zähmen". Daneben gibt es ein Interview mit Stasiuk. Und: am 10. Oktober marschierte zum ersten Mal eine Parade der Atheisten und Agnostiker durch eine polnische Stadt - ausgerechnet das konservative Krakau, wo Karol Wojtyla Erzbischof war. Die Motive der Veranstalter und die Gegenstimmen beleuchtet Tomasz Poniklo.

Magazinrundschau vom 06.10.2009 - Tygodnik Powszechny

Stanislaw Lem wollte nie, dass sein Sohn Schriftsteller wird. Um so enttäuschter war er, als Tomasz nach absolviertem Physikstudium anfing, englische Literatur zu übersetzen. Nun hat dieser eine Art Biografie seines Vaters geschrieben, erzählt Jan Strzalka in der Bücherbeilage von Tygodnik. Es ist keine Abrechnung geworden, denn, wie Tomasz Lem zugibt, "im Vergleich mit der Familie eines Thomas Mann beispielsweise hatten wir mit meiner Mutter geradezu ein wunderbares Leben". Lems Schwächen werden zwar dargelegt, aber auch sein Charme und Außergewöhnlichkeit. "Ein witziges, diskretes, aber zugleich ehrliches Buch", lobt Strzalka.

Besprochen werden außerdem Jan Jozef Szczepanskis Tagebücher aus den Jahren 1945-56, die gerade als erster Band der geplanten Gesamtedition erschienen sind. Für Tomasz Fialkowski sind sie "ein wichtiges Element der Autorenwerkstatt, ein Justieren der Blickschärfe, ein Üben am Ausdruck, eine Schule der Bündigkeit, der Personencharakteristik, des lebendigen Dialogs". Zwei Kritiken widmen sich deutschen Büchern, die gerade ins Polnische übersetzt wurden, nämlich Juli Zehs Roman "Schilf" und dem "Lexikon des Unwissens" von Kathrin Passig und Aleks Scholz.

Magazinrundschau vom 29.09.2009 - Tygodnik Powszechny

Schon Wochen vor dem "Kongress der polnischen Kultur" gab es kritische Diskussionen über ihren institutionellen Zustand. Nun widmet das Magazin dem Ereignis ein Dossier. "Nicht die Kultur ist in der Krise", meint der Theaterregisseur Krystian Lupa im Interview, "sondern das Milieu, das durch keine Verwaltungsreform geheilt werden kann". Das Verhältnis von Politik und Kultur müsse überdacht werden, so Lupa, nur fehle es in Polen an entsprechenden Eliten. "Vielleicht ist eine Stimme von außerhalb notwendig... Was für ein Echo hätten wir hierzulande, wenn eine Diskussion über die polnische Kultur in der französischen oder deutschen Presse begänne! Glauben Sie nicht?"
Stichwörter: Lupa, Krystian

Magazinrundschau vom 22.09.2009 - Tygodnik Powszechny

Kurz nachdem die sowjetische Armee am 17. September 1939 Polen überfiel, beging der Schriftsteller und Maler Stanislaw Ignacy Witkiewcz, genannt "Witkacy", Selbstmord. "Für ihn erfüllten sich im September 1939 seine düsteren Prophezeiungen - über das unabwendbare Ende der europäischen Zivilisation und eine neue Welt, in der für ihn kein Platz war", meint der "Witkacologe" Janusz Dengler. Paradoxerweise sind wir heute erst (wieder?) bereit, sein Schaffen neu zu interpretieren, sagt Dengler im Interview. Witkiewiczs Vision einer uniformierten Gesellschaft, scheint sich in der Gleichmacherei durch Konsum zu erfüllen. "Wenn Witkacy erführe, dass die Menschen heute den ganzen Sonntag im Einkaufszentrum verbringen und sich dabei Schaufenster anschauen, würde er schreiend rausstürmen und sich in den Kopf schießen".

Außerdem: Einer neu erschienen Biografie des Künstlers von eben jenem Janusz Dengler ist eine separate Rezension gewidmet. Anita Piotrowska hat Paolo Sorrentinos Film über Giulio Andreotti mit Begeisterung gesehen, und fragt: "Selbst wenn wir einen Politiker wie Andreotti nicht hatten, könnten wir nicht wenigstens solche Filme haben?" Dem Jahrestag des sowjetischen Einmarsches in Polen und dem damit einher gehenden Ende einer polnischen Präsenz in den heutigen Westgebieten der Ukraine und Weissrusslands sind zahlreiche Artikel gewidmet. Kinga Halacinska und Tomasz Potkaj erinnern daran, dass sich die Polen mit der Geschichte der "Kresy" immer noch schwer tun, trotz aller Nostalgiereisen und vielfältiger Kontakte in den früheren Ostgebieten. Nicht zufällig entstand ein virtuelles "Kresy"-Museum auf Initiative der Auslandspolen, berichtet Michal Kuzminski.

Magazinrundschau vom 15.09.2009 - Tygodnik Powszechny

Vor über hundert Jahren beschrieb Wladyslaw Reymont in seinem Roman "Das gelobte Land" (1898) am Beispiel der damaligen Textilmetropole Lodz wie der "Raubtierkapitalismus" im Kern funktioniert. 1974 hat Andrzej Wajda hat den Roman verfilmt, und jetzt hat ihn der Theaterregisseur Jan Klata fürs Theater bearbeitet und dabei nichts beschönigt", wie er im Interview versichert. "Man muss sich klar machen, was passiert ist, als im 19. Jahrhundert der Geist aus der Flasche gelassen wurde. Wie er sich immer mehr dematerialisiert, immer mehr von der von Reymont beschriebenen Fabrik getrennt wird, und zu einem Versprechen, einer puren Vision wird. All diese Betriebe sind doch heute geschlossen, und in etwas anderes verwandelt worden. Wir haben es hier mit einer Flucht von der Produktion zur Dienstleistung, von der Dienstleistung zum Konsum zu tun. In diesem Kontext wird der Titel 'Das gelobte Land' immer bedrohlicher - das Versprechen neuer Länder, neuer Attraktionen, neuer Wirklichkeit wird immer illusorischer: ein Wechsel ohne Deckung, eine Art Junk-Aktie". (Die Inszenierung kommt im Frühjahr 2010 nach Berlin, bei der Nachtkritik gab es bereits eine Kritik der Lodzer Premiere.)

Denkbar gelangweilt war Michal Olszewski von den Gedenkfeiern zum Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs: immer die gleichen Rituale. Gleichzeitig, so Olszewski, findet eine Banalisierung der historischen Erzählung statt. Während die letzten Zeitzeugen abtreten, nehmen Inszenierungen verschiedener Art einen immer wichtigere Rolle in der öffentlichen Darstellung der Kriegsereignisse ein. "Nicht mehr die Veteranen in Schulen, nicht Gedenksäle oder vergessene Museen für die Heldentaten der polnischen Armee gestalten unser historisches Bewusstsein. Je mehr Jahre vergehen, desto weniger Tabus bleiben, desto weniger Ereignisse, vor denen man die Augen verschließen möchte, desto weniger Worte, die man nicht auszuprechen vermag. Der Krieg wurde zum Spielfeld der Interpretationen, mit manchmal dummen, manchmal gnadenlosen Spielen. Was früher als Blasphemie galt, ist heute ein Scherz von kurzer Lebendauer, ein Diskussionsthema oder Antrieb für patriotische Gefühle. Die Grenzen dessen, was in der Kriegserzählung erlaubt ist, verschwimmen langsam."

Magazinrundschau vom 01.09.2009 - Tygodnik Powszechny

In einer Sonderbeilage zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vor siebzig Jahren zitiert Patrycja Bukalska aus Erinnerungen über die Zeit unmittelbar vor und nach Kriegsausbruch: "Ende August erfuhr ich von der Mobilisierung, und schloss im Schrank meine angefangene Doktorarbeit ein", schreibt Zdzislaw Jezioranski. "Der Gedanke kam mir nicht, dass es für immer sein, und dieses vielversprechende Kapitel meines Lebens keine Fortsetzung erleben würde. Ja, man spürte eine angenehme Erregung über das, was kommen würde, aber es sollte nur eine kurze oder längere stürmische Episode sein, nach der alles wieder in alte Bahnen zurückkehrt und das normale Leben wieder aufgenommen wird. (...) Alle waren guter Dinge, niemand machte sich Sorgen."

Außerdem: Joachim Trenkner erzählt in einer Art Countdown die letzten 12 Tage des Friedens nach; Piotr M. Majewski vom "Museum des Zweiten Weltkriegs" (im Entstehen) analysiert die polnische Verteidigungsstrategie im September 1939; Tomasz Zuroch-Piechowski erinnert daran, dass die berühmte Westerplatte mehr als nur ein Verteidungspunkt war (und ist); Bartlomiej Noszczak rekonstruiert Hitlers Weg zum Krieg und zum Pakt mit Sowjetrussland.

Nicht, dass der 1983 verstorbene Schriftsteller Miron Bialoszewski in Vergessenheit geraten wäre, aber mit dem erstmaligen Erscheinen seines Buches "Chamowo" kann man ihn neu entdecken. "Es scheint, als wären wir nun gereift, und könnten seine Texte richtig schätzen - wir, das heißt die polnische Kultur in ihren besseren Leser- und Autorenschichten", schreibt Adam Poprawa.
Stichwörter: 12 Tage

Magazinrundschau vom 04.08.2009 - Tygodnik Powszechny

In Polen wird über Antisemitismus diskutiert. Der polnisch-jüdische Philosoph Jan Hartmann plädiert dafür, auch die radikalen Stimmen zuzulassen: "Wahre Antisemiten interessieren sich wirklich für uns Juden, und wissen viel über uns. Wir sind für sie wichtig, und das ist doch schon etwas." Deshalb ist Hartmann für schonungslose Offenheit im polnisch-jüdischen Dialog: "Wenn wir das Recht jedes Menschen respektieren, Juden oder den Judaismus, beziehungsweise Polen oder den Katholizismus nicht zu mögen, finden wir den Weg aus dem Labyrinth der komplizierten und weiterhin schlechten Beziehungen zwischen unseren Nationen."

Auch dieses Jahr wurde der Jahrestag des Warschauer Aufstands von August-Oktober 1944 feierlich begangen. Jacek Zygmunt Sawicki erinnert aus diesem Anlass an die schwierige Entstehungsgeschichte des Denkmals im Zentrum Warschaus, das erst 1989 eingeweiht werden konnte. Und Patrycja Bukalska feiert fünf Jahre Museum des Warschauer Aufstands. "Es wurde im letzten möglichen Moment errichtet - so, dass die Aufständischen nicht nur geehrt, sondern auch verstanden werden konnten."

Im Gespräch mit dem Dokumentarfilmer Jacek Blawut, dessen erster Spielfilm gerade in die Kinos kam, wird das Verhältnis des Künstlers zu seinem Thema diskutiert. "Der Mensch ist außergewöhnlich durch seine Schwächen. Dann erst sieht man seine Größe. Mich fasziniert die Situation des Falls, die jeden betreffen kann. Niemand wird als Bahnhofsbettler geboren, man muss erst fallen, manchmal von ganz weit oben. Filme sind für mich ein Schlüssel, um zu begreifen, warum wir hier sind, warum wir so gemacht wurden, was am Ende des Weges ist. Mit meinem Helden durchschreite ich langsam diesen Weg". Blawuts Spielfilmdebüt wurde jetzt beim Filmfestival "Era Nowe Horyzonty" in Wroclaw gezeigt, für das sich Anita Piotrowska im separaten Artikel begeistert.

Und Przemyslaw Wilczynski beschreibt eine neue Geschäftsidee aus dem Dunstkreis des "Web 2.0". Auf zostawslad.pl (etwa: eine Spur hinterlassen) kann jeder registrierte Nutzer eine Art "virtuelles Testament" hinterlegen, das bestimmte Personen nach seinem Tod einsehen dürfen: Tagebuchnotizen, Fotos, Audiodateien etc. Noch verdienen die beiden Gründer, zwei Studenten, damit kaum Geld. Auch eine Werbestrategie ist schwierig. Andererseits fehlt es nicht an jungen Patienten von Hospizien u.ä., die fast bis zum Schluss das Netz nutzen.

Magazinrundschau vom 30.06.2009 - Tygodnik Powszechny

Oft werde er im Ausland gefragt, wie es in Polen um den Nationalismus steht, schreibt der Publizist Ryszard Holzer. Dabei werde der Begriff in die Nähe von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit u.ä. gerückt, und auch in Polen selbst werde er eher pejorativ verstanden. Doch Holzer gesteht: "Ich bin ein Nationalist. Denn es geht mich wirklich etwas an, welche Rolle meine Nation und mein Staat in 50, 60 oder 70 Jahren in der Welt spielen wird - in Zeiten also, die ich selbst bei größtem medizinischen Fortschritt nicht erleben werde. Und das begreife ich als Nationalismus: eine so tiefe Identifikation mit der eigenen Nation und dem Staat, dass man einen Teil der persönlichen Ambitionen und Träume auf die Gemeinschaft überträgt."

Joachim Trenkner fuhr ins deutsch-polnische Grenzland und sieht eine schleichende Revolution - fernab politischer Diskussionen Berlins und Warschaus reift das Bewusstsein für Gemeinsamkeiten, und auch über die teilende Geschichte wird anders gesprochen. "Hausherr zu sein bedeutet auch, die dunklen Kapitel seiner Wohnorte zu kennen", zitiert er den Journalisten und Aktivisten Robert Ryss. "Beschämende oder kontroverse Themen sollten lieber mit eigenen Händen entdeckt werden, weil es sonst jemand auswärtiges macht, vielleicht mit bösen Absichten. Über dunkle Kapitel der Geschichte zu sprechen, schwächt nicht unsere Identität oder unseren Patriotismus, sondern stärkt sie", sagt der Chefredakteur einer Lokalzeitung.