Magazinrundschau

Top-Qualitätsfrauen von innen und außen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
23.04.2024. Die London Review beschreibt den staunen machenden internationalen Drogenhandel, den das kleine Montenegro betreibt. New Lines beleuchtet das Schicksal der Pamiri, einer Minderheit in Tadschikistan. Meduza porträtiert die estnische Glasmeisterin Dolores Hoffmann. Artforum sucht einen neuen Blick auf den Impressionismus. Harper's sucht nach den Gründen für den Niedergang der US-Filmindustrie.

London Review of Books (UK), 25.04.2024

Alexander Clapp schickt eine lange, zugleich aufregende und deprimierende Reportage aus Montenegro, das sich seit dem Zerfall Jugoslawiens in der Hand von zwei Mafiabanden, den Kavačis und den Škaljaris befindet, die, unterstützt vom Premierminister Milo Dukanović in dessen 32-jähriger Regierungszeit, den Staat vollständig korrumpiert haben. "Montenegro ist kein Beispiel für die Vereinnahmung des Staates durch das organisierte Verbrechen. Vielmehr sind die Kartelle ein verlängerter Arm des Staates. Sie stehen in Kontakt mit dem Staat, werden von ihm geschützt und bereichern die Leute, die ihn leiten." Es ist vor allem der Drogenhandel, der die Mafia so immens reich gemacht hat. Rauschgift wird mit größter Finesse über die Adria gen Westen geschifft, und auch hier hat der Staat jahrzehntelang geholfen: "Montenegriner bildeten den Großteil der staatlichen jugoslawischen Handelsmarine. Die Schifffahrtsakademien in Bar und Kotor bildeten Zehntausende von Seeleuten aus, die auf mehr als 350 staatlichen Schiffen alles Mögliche transportierten, von Holz bis hin zu Waffen für afrikanische Antikolonialbewegungen. Nach dem Zerfall Jugoslawiens gingen einige dieser Seeleute in den Ruhestand, andere begannen mit dem Schmuggel, wieder andere traten in private Reedereien ein. In den 2000er Jahren boten montenegrinische Offiziere und Ingenieure den adriatischen Kartellen eine Chance, ins Kokaingeschäft einzusteigen. Heute arbeiten siebentausend Montenegriner auf Frachtschiffen. Fast ein Drittel davon ist bei der Mediterranean Shipping Company (in bestimmten Kreisen als Montenegrinische Schifffahrtsgesellschaft bekannt) beschäftigt. Im Jahr 2019 gingen mehr als hundert FBI-Agenten im Hafen von Philadelphia an Bord eines MSC-Schiffs, der Gayane, und entdeckten achtzehn Tonnen Kokain - eine milliardenschwere Beute -, die in Schiffscontainer eingeschweißt und mit Nüssen und Wein gefüllt waren. Es war die größte Drogenrazzia auf See in der Geschichte der USA." Seit Dukanović abgewählt wurde, versuchen neue Leute, den Staat zu entkriminalisieren. Ob es klappt? Steht in den Sternen.

Greg Afinogenov liest zwei Bücher über den russischen Imperialismus, "The Russian Conquest of Central Asia: A Study in Imperial Expansion, 1814-1914" von Alexander Morrison und "Iran at War: Interactions with the Modern World and the Struggle with Imperial Russia" von Maziar Behrooz. Morrison hat seine eigene These dazu entwickelt, warum Russland zwischen 1853 und 1885 die muslimischen Khanate Chiwa und Chochand, das Emirat Buchara und viele Turkmenenstämme unterwarf und ihr Land annektierte: Er "zeichnet das Bild eines ungeschickten, allmählichen Prozesses, der typischerweise durch die von den Russen selbst geschaffenen Sicherheitsdilemmata vorangetrieben wurde", so Afinogenov: "Nachdem sie eine befestigte Grenze in der trockenen, landwirtschaftlich unproduktiven südlichen Steppe errichtet hatten, stellten sie fest, dass es unmöglich war, ihre neuen Festungen aufrechtzuerhalten oder zu versorgen - ein Problem, das lösbar schien, wenn nur eine stabilere Reihe von Festungen errichtet werden könnte. Da diese Expansion immer mehr gefährlichen Widerstand seitens der Khanate hervorrief, erforderte das Streben nach Sicherheit die Unterwerfung ihrer Kerngebiete und die Niederschlagung der damit verbundenen Aufstände." So führte eine Eroberung zur anderen, aber auch das Streben nach Ruhm und Reichtum der russischen Offiziere trug zum russischen Imperialismus bei, zum Beispiel mit Strafexpeditionen, die denen der Briten an Grausamkeit nicht nachstanden, wie Afinogenov bemerkt.

Weitere Artikel: Terry Eagleton fragt: Woher kommt Kultur? Alexandra Walsham liest Michael Hunters Band "Atheists and Atheism before the Enlightenment: The English and Scottish Experience" und Michael Woods sah im Kino Rodrigo Morenos "The Delinquents".

New Lines Magazine (USA), 22.04.2024

In den USA boomt die "Reproduktionsindustrie", stellt Paige Bruton fest und erhält in ihren Gesprächen mit verschiedenen Akteuren zum Teil dystopische Einblicke in die Branche. Das Geschäft mit Eizellen-Spenden ist sowohl für Unternehmen als auch für Spenderinnen eine lukrative Sache: ein kalifornisches Unternehmen, das im Beitrag nicht identifiziert werden will, sagt Bruton, dass eine Frau mit dem Abschluss einer renommierten amerikanischen Universität bis zu 150.000 US-Dollar für ihre Eizellen-Spende bekommen kann. Nicht nur den Uni-Abschluss können sich die Eltern bei ihren Spenderinnen aussuchen, sondern auch Haar-und Augenfarbe, Körperbau, Größe, Ethnie und bei manchen Agenturen sogar Eigenschaften wie eine musikalische Begabung. Bei den sogenannten Designerbabies gilt auf jeden Fall, so Bruton, je spezifischer desto teurer. Dr. Wendy Chavkin, Professorin an der Columbia-University, erzählt Paine, dass nicht nur genetische Merkmale, die konventionellen Schönheitsidealen entsprechen, als höherwertig eingestuft werden, sondern auch manche Ethnien den Vorzug erhalten: "Weiße, jüdische oder ostasiatische Spender werden von Kliniken und Wunscheltern bevorzugt behandelt und manchmal auch besser bezahlt. Sie argumentiert, dass die Industrie nicht nur die Körper von Frauen zu Waren macht, sondern auch rassistische und exklusive Schönheitskonventionen bedient, die 'gegen jedes Glaubenssystem verstoßen, das wir haben'. Wie in jeder Branche, so Bruton weiter 'hat sich auch hier ein Angebot an vermeintlich besseren oder Nischenleistungen entwickelt. Wenn wir auf Mädchen stoßen, die als Spenderinnen in Frage kommen oder die ein frohes Herz haben, sprechen wir sie an', sagt Alexis Fuller, die Geschäftsführerin von Golden Egg Donation, einer Agentur mit Sitz in Calabasas, Kalifornien, die sich auf das spezialisiert hat, was sie auf ihrer Website als 'Top-Qualitätsfrauen von innen und außen' bezeichnet."

Michal Kranz beleuchtet das Schicksal vieler Tadschiken, die vor Repression und Verfolgung aus ihrem Heimatland fliehen müssen. Vor allem Mitglieder der "Pamiri", einer ethnischen Minderheit in Tadschikistan, werden vom Regime Emomali Rahmons, der das Land seit dreißig Jahren regiert, marginalisiert, so Kranz. In den letzten Jahren steigerte sich die Unterdrückung zu einer systematischen Zerstörung der pamirischen Kultur: Die Pamiris haben ihre eigene Sprache, berichtet Kranz, und im Gegensatz zur Mehrheit in dem mehrheitlich sunnitischen Land praktizieren sie den Ismailismus, eine Untergruppe des schiitischen Islam. Ihre Art muslimische Feiertage zu feiern, wirkt auf andere Muslime befremdend, meint Kranz, oft werden dabei Lieder gesungen. Ziel der Flucht der meisten Pamiri ist Polen, was angesichts der rechten Regierung der letzten Jahre überraschen kann. Doch das Land hat unkomplizierte Aufnahme-Regelungen für die Schutzsuchenden und wird für viele so zu einer neuen Heimat. Die Angst vor Verfolgung können viele allerdings nicht ablegen, wird Kranz bei seiner Recherche bewusst: "Nach einem kürzlichen Treffen von Gemeindeleitern strömten Menschen aller Altersgruppen in ein unscheinbares Gemeindezentrum im Süden Warschaus, um dort zu feiern. Obwohl der freiwillige ismailitische Sicherheitsbeamte mir nicht erlaubte, die Versammlung von oben zu beobachten, sah ich ältere Frauen, die Teller mit Essen trugen, junge Männer mit Akustikgitarren in der Hand und modisch gekleidete Frauen, die sich untereinander unterhielten, als sie hineinströmten. Wie üblich trug fast keine der Frauen einen Hidschab oder eine andere Kopfbedeckung. 'Wir waren uns einig, dass dies ein Ort sein sollte, der frei von Politik ist, ein Ort, an dem man sich trifft, isst und zusammen ist', sagte mir ein Mann, der aus Angst vor Konsequenzen seinen Namen nicht nennen wollte."

Meduza (Lettland), 19.04.2024

Aliide Naylor porträtiert die estnische Glasmeisterin Dolores Hoffmann, geboren 1937 als Tochter eines Deutschen, der den Säuberungen Stalins zum Opfer fiel. Zeitlebens blieb sie eine Gegnerin der Sowjetunion und Verfechterin von Estlands Unabhängigkeit. "Im August 1991 versuchten sowjetische Truppen, den Fernsehturm von Tallinn zu stürmen. Estnische Kommunikationsmitarbeiter hatten sich darin verbarrikadiert und riskierten ihr Leben, um die Verbindungen des Landes zur Außenwelt zu schützen, während Estland um die Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit kämpfte. Sowjetrussische Fallschirmjäger versuchten, sich Zugang zum zweiten Stock des Gebäudes zu verschaffen, und begannen, eine Wand aus Buntglasfenstern einzuschlagen, doch die Metallverstrebungen hielten sie zurück. 'Das Glas kann zerbrochen werden, aber das Blei lässt einen nicht hinein', sagt Hoffmann. Die Fenster, die inzwischen restauriert und an der Südseite des Fernsehturms angebracht wurden, sind das Hauptwerk der Künstlerin. Das Werk mit dem Titel 'Das Fernsehen ist ein Fenster zur Welt' wurde 1980 zusammen mit dem Fernsehturm eingeweiht (...). Es besteht aus riesigen, leuchtend bunten Scheiben, die sich vom Boden bis zur Decke erstrecken, und zeigt in der Mitte Reporter, während sich zu beiden Seiten globale Ereignisse abspielen. 'Fernsehen ist Kino - Dokumentarfilm. Ich wollte das gleiche Gefühl hervorrufen', erklärt Hoffmann. Das Ergebnis ist eine verblüffende Kombination aus traditioneller Glasmalerei und Glasmalerei, die die Farben des Fernsehspektrums verwendet. Die roten Tafeln zeigen die Welt der Kunst, die blauen die Welt der Wissenschaft und die grünen die verschiedenen Generationen, die im Fadenkreuz der Geschichte stehen."
Archiv: Meduza

Artforum (USA), 22.04.2024

Der Impressionismus bewegt sich auf einer "janusköpfigen Position zwischen avantgardistischer Gegenkunst und bürgerlicher Kitsch-Deko", befindet Harmon Siegel für das artforum. Das war vor 150 Jahren schon so, als die Bewegung entstanden ist, und bis heute streiten Kritiker darum, ob diese Stilrichtung nicht als letzte 'wahre' Kunst gelten darf. "Heute sind wir eher geneigt, uns mit den Kritikern zu solidarisieren, die die Tugend dieses Stils gesehen haben, und die herablassende Verachtung der anderen zu rügen. Aber ich glaube, das ist falsch. Diejenigen, die den Impressionismus reizvoll und zart fanden, haben sein Ansinnen fehlinterpretiert und nicht verstanden, wie die Gemälde die Werte, die sie hervorhoben, damit unterminiert haben. (…) Diejenigen, die den Impressionismus als arge Täuschung angesehen haben, haben ihn wirklich verstanden. Sie haben ihn aus den richtigen Gründen gehasst und die Bedrohung wahrgenommen, die er für lang etablierte künstlerische Standards bedeutet hat." Wie soll man nun mit dem Impressionismus angemessen umgehen? Siegel schlägt vor: "Sich für den Impressionismus interessieren bedeutet, die Widersprüche zu akzeptieren. Es bedeutet, ich kann den Renoir, den ich bewundere, nicht ohne den Renoir haben, der mich peinlich berührt, es gibt die leichenähnliche Hand nicht ohne den fluffigen Affenpinscher. So sehr ich mir den Impressionismus modern und nur modern wünsche, er wird immer - muss immer - mit einem Bein im Kitsch stehen. (…) Diese unauflösbare Dichotomie macht es umso wichtiger, sich weiterhin mit der Stilrichtung auseinanderzusetzen, auf seine fortbestehende Wichtigkeit als eine Kritik des modernen Lebens zu insistieren, sich durch den doppelten Boden der Schönheit zu ihren hässlichen Seiten durchzuschlagen."
Archiv: Artforum

New York Times (USA), 20.04.2024

Samanth Subramanian porträtiert im Magazine den indischen Politiker Rahul Gandhi, der natürlich aus der bekannten Dynastie stammt. Er ist der Sohn von Sonia und Rajiv Gandhi, ein Enkel der indischen Premierministerin Indira Gandhi und ein Urenkel von Indiens erstem Premierminister Jawaharlal Nehru und außerdem ehemaliger Vorsitzender der Kongresspartei. Seine Chancen im Wahlkampf gegen Narendra Modi werden eher skeptisch beurteilt. Subramanian schildert Gandhi als schlechten Redner. Aber die Massen kommen trotzdem zu seinen Auftritten. Nebenbei erfährt man, wie unglaublich anstrengend so eine indische Wahlkarawane, Yatra genannt, sein muss - Subramanian war geraten worden, Gandhi ein Weilchen auf seiner Tour zu begleiten, in der Hoffnung, einen Gesprächstermin zu bekommen: "Wie ich feststellen musste, gab es bei der Yatra viel Stop and Go. Zwei- oder dreimal am Tag bewegte sich Gandhis Jeep - und seine Karawane aus Polizeiautos, SUVs und einem Fahrzeug mit einem Gerät namens 'Jammer' (das Bomben aufspüren soll) - durch eine Stadt und hielt an einer Kreuzung für eine Rede an. Dann eilte der Konvoi zu seinem nächsten Einsatz, wobei er versuchte, weite Strecken durch den dichten Verkehr von Uttar Pradesh zurückzulegen, und stets hinter dem Zeitplan zurückblieb. Der Tag endete auf einem abgesperrten Campingplatz, wo alle in Schiffscontainern mit Kojen schliefen. Hier hatte Gandhi seinen eigenen Bereich, wo er mit sich örtlichen Funktionären der Kongresspartei traf oder mit seinem Coach Jiu-Jitsu trainierte."
Archiv: New York Times

HVG (Ungarn), 18.04.2024

Die Publizistin Boróka Parászka kommentiert die Enttarnung der außenpolitischen Rhetorik (und somit auch das Scheitern der Außenpolitik) der ungarischen Regierung nach dem jüngsten Angriff Irans auf Israel. "Es gibt keine 'Pro-Kriegs'-Partei, lediglich im privaten Waffenarsenal der putinistischen ungarischen Regierungspropaganda. Dort gibt es sie sehr wohl, denn das ist es, womit Orbán-Ungarn seinen Lebensunterhalt verdient: eine Hälfte der Gesellschaft zu spalten und zu stigmatisieren, sie mit ständigen Etiketten zu brandmarken, sie ihrer eigenen Botschaft zu berauben, jede sinnvolle gesellschaftliche Debatte zu untergraben und dann alle anderen auf dem so geschaffenen politischen Schlachtfeld auf demütigende Weise zu besiegen und zu vernichten. Diesmal im Namen des 'Friedens'. Zu dieser Scheindebatte, zu diesem innenpolitischen Kräftemessen unter dem Vorwand des Krieges, sagt Viktor Orbán seit Monaten, dass seine Regierung und ihre Anhänger den Frieden wollen." Seit einigen Wochen ist diese Rhetorik jedoch eingedampft, so Parászka. "Einen Monat vor dem Angriff auf den Iran hat nämlich unser befreundetes Land Russland eine gemeinsame Militärübung mit dem Iran und unserem anderen befreundeten Land China organisiert. (...) Es gibt kein 'in der Mitte stehen', 'das ist nicht unser Krieg', kein Bluffen und Feilschen mit dem Aggressor. Am Wochenende des Angriffs auf Israel wurde die ganze Kriegstreiberei entlarvt, die Viktor Orbán seit zwei Jahren betreibt."
Archiv: HVG
Stichwörter: Ungarn, Iran

Istories (Lettland / Russland), 19.04.2024

Nach dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine wurden viele Kinder nach Russland verschleppt und dort in Waisenhäuser und Internate integriert oder von russischen Familien adoptiert. Istories konnte einige Kinder fragen, was ihnen seit der "Evakuierung" widerfahren ist. Die Russen "'halfen uns - brachten uns Kleidung, Fahrräder, Roller. Aber seelisch konnte ich es nicht mehr ertragen', sagt die 17-jährige Marina. Marina beschreibt sich selbst als schwierigen Teenager und glaubt, dass der Wechsel der Umgebung negative Auswirkungen auf sie hatte, so dass sie in Kursk 'ungezogen' war. Eineinhalb Monate nach der Evakuierung stritt sie sich zum Beispiel mit dem Direktor und lief weg. 'Ich habe mich frei gelassen und bin fast bis an den Stadtrand gelaufen, aber dort war der Boden schlammig und die Hunde waren groß und wütend', sagt Marina. 'Ich rief den Mitarbeiter der Schule an und bat ihn, mich abzuholen. Sie hielten mich unter den Armen und fragten mich: 'Was ist, wenn du wieder wegläufst?' Sie brachten mich zurück in das Internat und baten mich, meine Sachen zu packen. Sie sagten, ich hätte eine neurologische Störung und brachten mich in eine psychiatrische Klinik. Ich verbrachte dort zwei Wochen. Wegen der Medikamente, die sie mir gaben, wollte ich ständig schlafen. Man kann nicht einmal mehr lächeln, so entspannt sind die Muskeln. Aber schließlich freundeten wir uns mit dem dortigen Chefarzt an, und er erlaubte mir sogar, meine Medikamente abzusetzen.'"
Archiv: Istories

Harper's Magazine (USA), 01.05.2024

"Die TV-Branche, Streaming und Hollywood stehen komplett in Flammen", so leiteten wir vor einem Jahr einen Artikel in der Magazinrundschau ein - und es könnte als Fazit auch unter Daniel Bessners großer und wegen ihrer Detail- und Informationsfülle äußerst lesenswerter Reportage über Niedergang und Krise der amerikanischen Filmindustrie stehen. Seine Beobachtung in nuce: Die digitalen Disruptionen haben das Geschäftsmodell der Branche gründlich zerlegt, der Einfall internationaler Großkonzerne und -Fonds hat die Lage nicht verbessert. Die Leidtragenden sind insbesondere die Drehbuchautoren, die sich in die Position proletarischer Subalterner abgedrängt sehen, während Gehälter, Dividenden und Auszahlungen auf höheren Ebenen dramatisch zugenommen haben. Kein Umfeld, in dem Kreativität und Experimentierwille florieren können. "Die Studios, nun in viel größere Unternehmen und Finanzinstitutionen eingebunden, stehen nun mit Blick auf viel engere Horizonte unter Aufsicht. Letzten Sommer sprach ich mit dem Geschäftsführer eines Film- und TV-Studios, das in jüngsten Jahren von einem Privat-Equity-Fonds aufgekauft wurde. 'Früher gab es diese großen, verkrusteten, traditionsreichen Firmen, die viel langfristiger geplant haben', erzählte er. 'Die konnten Verluste absorbieren und Risiken auf sich nehmen. Aber jetzt geht es nur noch um Quartalsbilanzen. Das einzige, was zählt, ist das nächste Vorstandsmeeting. Da trifft man keine Entscheidungen mehr, die sich langfristig auszahlen. Man denkt nur noch daran: 'Wie komme ich auf meine Zahlen?' Effizienz und Risikovermeidungen bestimmen mehr und mehr das Spiel. In den Jahren nach der Rezession fand unter Spielfilm-Autoren, wie Howard Rodman es ausdrückt, 'eine langsame Erosion' der eigenen Lebensgrundlage statt. Für die neuen Bosse war die Menge an Geld, die die Studios dafür ausgaben, um Drehbücher zu entwickeln - von denen viele nie umgesetzt würden - offensichtlich Fett, das man sich abschneiden konnte. ... Am Ende der Zehnerjahre lag es auf der Hand, dass sich etwas ändern müsste, anderenfalls würde die Industrie gut ausgebildete Talente aushungern. 'Die Sopranos hätte es nie gegeben, wenn David Chase nicht fast 30 Jahre fürs Fernsehen gearbeitet hätte', sagt Blake Masters, der Writer-Producer und Schaffer der Showtime-Serie 'Brotherhood'. 'Die Sopranos wären gar nicht schreibbar gewesen, wenn da nicht jemand wirklich alles vom Fernsehen verstanden und es in Gänze gehasst hätte.' Jason Grote, der an 'Mad Men' beteiligt war, bestätigt: 'Prestige-TV entstand nicht so sehr, weil neues Blut nach Hollywood kam, sondern weil einfach viele Veteranen, die in der Lage waren, solche Geschichten zu erzählen, auch in der Lage waren, sich damit durchzusetzen.' Netflix, die anderen Streamer und die Fernsehsender haben nicht nur die individuellen Karrieren von Drehbuchautoren destabilisiert, sie betrieben auch Raubbau an der Zukunft der Industrie."