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Von Georg Klein
22.11.2004. "Blut bleibt Blut! Als eine Beschwörungsformel flüstere ich mir diese dreisilbige Allerweltsweisheit zu..." Heute startet Georg Klein im Kölner Literaturhaus sein "Ensuite", eine neuartige mehrtägige Veranstaltung, in der der Autor sein Werk und die Lieblingswerke von Lieblingsautoren vorstellen wird. Den Perlentaucher lässt er partizipieren, indem er ihm seine neueste Erzählung zum Vorabdruck lässt: "Europa erleuchtet". Ein dunkles Stück!
(In "Ensuite" lässt Georg Klein das geneigte Publikum in Köln an einer Werkschau ganz eigener Art teilhaben. Georg Klein wird eigene Werke lesen, er wird Werke von Lieblingsautoren lesen. Er wird über David Lynch sprechen. Und er wird mit Wolfgang Reinhard über die Bekömmlichkeit von Vergangenheit, Geschichte und Historie sprechen. Weitere Informationen finden Sie hier. Wir danken Georg Klein für die Rechte zum Abdruck folgender dunkler Begebenheit. D. Red. )

Europa erleuchtet

Blut bleibt Blut! Als eine Beschwörungsformel flüstere ich mir diese dreisilbige Allerweltsweisheit zu, sobald die modernen Umstände mich erneut fühlen lassen, wie tief das Metier meines Meisters in Verruf geraten ist. Die Menschen dieser Übergangsepoche, der Kerl und die Maid des jungen Dritten Jahrtausends, sie sehen in dem, was mein Herr mit hohem Ernst betreibt, nichts als ein Spektakel, das dem Kitzel und der Belustigung dient. Schuld haben die amerikanischen Lichtspiele. Ach, solange das kalifornische Bildimperium währt, werden vom Tun meines Herrn nur bunte Zerrbilder bekannt sein.

In solider Verschwiegenheit verrichten der Meister und ich unser Handwerk. Bitter nötig ist es wie eh und je. Ich weiß dies - auch wenn mir bisweilen zumute ist, als hätte es uns beide, den großen Hugo Gottschling und mich, samt unserer Arbeit in eine völlig unverständige Parallelzeit verschlagen.

An einem kühlen Septembernachmittag, am Tag des kalendarischen Herbstbeginns, trafen wir mit dem Zug erneut in Praha-Holosovice ein. Wir fliegen beide nicht gern. Und als uns die Unterführung, tschechisch traurig, vom Bahnsteig Richtung Taxistand schleuste, lugte ich durch das Guckloch, das ein Londoner Schneider vor vielen Jahren in den weiten Umhang meines Herrn geschneidert hatte. Schwer, ja überschwer bierbäuchig sieht er, der Hagere und Hochgewachsenene, aus, wenn er mich so, verborgen unter englischem Tweed, am Leib trägt. Aber es ist in diesen Zeitläuften besser, kein unnötiges Aufsehen zu erregen. Jedes Mal, wenn mein Meister sich so verunstaltet, wenn er mich als falsche Wampe schleppt, wünsche ich mir, er würde meine Geschichte kennen und wüßte davon, wie ich mich einst - ganz und für immer - in die Obhut der Häßlichkeit begeben habe.

Ich wage nicht zu behaupten, daß ich bereits auf dem Bahnhof nach einem Vorzeichen Ausschau hielt. Jedoch stach mir noch in der Unterführung etwas auffällig Einschlägiges ins Auge. An einer neuen Verkaufsbude wurden außer dem üblichen Touristentand nun auch eine Vielzahl alberner Gummimasken angeboten. Man hatte versäumt, die dünnen Latexlarven mit Papier auszustopfen, und so war meist erst auf den zweiten Blick zu erkennen, welche Physiognomie die schlaffen Züge darstellen sollten: das Grinsen des aktuellen amerikanischen Präsidenten, das Mondgesicht eines einstigen deutschen Bundeskanzlers oder die mädchenhafte Hübschheit eines englischen Fußballwunders. Unseren Feind aber, unseren durch alle Zeiten sich gleich gebliebenen Gegner erkannte ich sofort, einfach an dem, was ihm da, mehr schlecht als recht aus Kautschuk gegossen, aus dem Oberkiefer über die Unterlippe ragte. Und so hörte mich Hugo Gottschling unter seinem Umhang, nahe seinem Herzen, laut auffauchen. Sogar ein kampflustiges Grunzen entfuhr mir, und in einem unbeherrschbaren Reflex begannen meine elfenbeinharten Beißer aufeinanderzuklappern.

Wie stets bezogen wir bei Vu Wonglova Quartier. Das Thai-World liegt fast direkt am Altstädter Ring, dem historischen Herzen der Stadt, und nicht wenige der vielen tausend Touristen, die dort täglich die Runde machen, muß das Schild an der buttergelben Barockfassade verwundern. Thailändische Massagen werden im ersten und zweiten Stockwerk des alten Prager Bürgerhauses angeboten. Und obschon eine Informationstafel am Eingang eigentlich keinen Zweifel an der physiotherapeutischen Seriosität des Etablissements läßt, kommen nicht selten Einheimische wie Ausländer mit männlich eindeutigen Absichten in die erste Etage gestiegen.

Für meinen Herrn und mich hat unsere Organisation seit Jahr und Tag ein hübsches Zimmerchen unter dem Dach reserviert. Der Meister verstaute Umhang und Tragegeschirr im Schrank, nahm den schwarzen Anzug aus dem Koffer, um ihn aufzuhängen. Dann wusch er sich Hände und Füße und gurgelte lange mit Odol, seinem geliebten deutschen Mundwasser. Für mich ließ er ein Glas mit Wasser vollaufen und gab den üblichen Schuß Mango-Sirup zu. Zuletzt schaltete er noch den Fernseher ein, warf die Lederschlaufe am Ende meiner Kette über den Bettpfosten und drückte mir, bevor er in den Salon hinunterging, die Fernbedienung in die Pfote.

Vu Wonglova, die vier waschechte Thailänderinnen und eine Halbchinesin als Masseusen beschäftigte, legte bei Hugo Gottschling stets selbst Hand an. Während ihre Daumen die richtigen Reflexzonen preßten, flüsterte sie dem Meister in ihrem eleganten Tschechisch und in ihrem nicht weniger schönen Deutsch zu, was er erfahren sollte. Gottschling sagt, daß es keine der exotischen Angestellten mit den Massagekünsten der Chefin aufnehmen könne. Im Spiel der Hände von Vu Wonglova stecke die allergrößte Ausdruckskraft. Es müsse sich um eine bis in die Fingerspitzen gewanderte Sprachbegabung handeln. Wäre Frau Wonglova nicht Fußtherapeutin geworden, hätte sie gewiß ausgefallene Sprachen studiert. Alles Mögliche, das hellbiedere Norwegisch wie das sinister melancholische Rumänisch, würden ihr in diesem Falle gleichermaßen geläufig über ihre feingeschwungenen Lippen fließen.

?Madame Wonglova' pflegt mein Herr sie vor mir meist zu nennen. Manchmal sprach er sie auch so an und verstand es dann, das französische ?Madame' mit einem raffinierten Päuschen gegen ein geheimnisvoll gongendes ?Wonglova' abzusetzen. Aber dies ist nicht mehr als ein Spiel mit Klängen. Abgesehen von einem Lidstrich, der ihren Augen ein Hauch Fernost verlieh, war nie etwas an unserer Gastgeberin asiatisch. In Gesicht wie Gestalt verkörpert sie nicht mehr und nicht weniger als jene hellhäutige und zartgliedrige mährische Jungfrau, von der die Volksweisen ihrer Heimatregion singen.

Der Meister und ich waren aus Sachsen zurück nach Prag gekommen. Im lieblichen Leipzig hatten wir, von Vollmond zu Vollmond, vier Wochen darauf verwandt, in einem behutsamen Suchgang, in einer sich engziehenden Spirale, die Heimstätte eines Feindes ausfindig zu machen. Schließlich stand fest, wo wir ihn ausheben mußten. Die Jugendstilvilla der ehemaligen dänischen Handelsmission ist vielleicht die letzte bedeutende Leipziger Kriegsruine, von Panzergranaten pittoresk durchlöchert, idyllisch zwischen einem kleinen Park und einem verwahrlosten Friedhof gelegen. Als wir - ein fetter mitteldeutscher Spätsommermond hing hoch am Himmel - durch ein Kellerloch in das Gebäude einstiegen, waren wir guten Mutes, fündig zu werden.

Schon am Fuß der Treppe hatte die übermenschlich feine Nase des Meisters den Geruch des Gegners aufgenommen, und im Erdgeschoß verdichtete sich der Duft so, daß auch ich ihn erschnüffeln konnte. Bald entdeckten wir das Versteck: Im zweiten Stock war eine marmorne Schreibtischplatte gegen die Wand gekippt. Einen Haufen braunen Eichen- und Buchenlaubs hatte es mit den Jahren durch die zerbrochenen Fenster davorgeweht. Unter der Platte, unter dem Schrägdach aus Marmor, hatte sich unser Feind aus den flachgedrückten Leibern mumifizierter Katzen eine schlichte, aber anrührend kommode Liegestatt bereitet. Ich geiferte vor Aufregung. Aber der Meister schüttelte nur stumm den Kopf. Ein kurzes Schnuppern an dem zu kleinen Kegeln aufgehäuften Mäusekot und ein forschender Blick in die staubschweren Spinnennetze hatten ihm bereits verraten, daß dieser Schlupfwinkel, daß dieses Depot des Bösen schon lang verlassen war.

In Prag indes sollte es Neues geben. Noch kurz vor unserer Heimreise hatte uns der Hinweis in unserer Leipziger Pension erreicht. Der Anruf kam aus der Neuen Welt. Ich durfte meinen Lauscher neben dem Ohr des Meisters an das winzige Mobiltelefon pressen und mithören. Hugo Gottschlings altmodisch näselndes Englisch wechselte mit dem saloppen Schwadronieren eines blutjungen, aber als verläßlich geltenden Bostoner Kollegen. Das Greenhorn in Übersee hatte in der Tat etwas zu bieten: Der Feind sei in Prag! Wir hielten den Atem an, als der Ami ins Detail kam. Ja, es gibt ihn, den göttlichen Wink! Es gibt Hinweise, deren Stichhaltigkeit und Frische unsereinem sogleich über junge Enttäuschung wie über alten Gram hinweghelfen.

Als der Meister nach der Massage zu mir in die Mansarde zurückkehrte, schaltete er den Fernseher aus, schlüpfte aus den Schuhen und legte sich aufs Bett. Ich hockte mich vor seine nach thailändischen Kräutern duftenden Socken und hörte mir an, was er im weiteren erfahren hatte. Der transatlantische Verdacht hatte sich vielversprechend verdichtet.Von Madame Wonglova schien uns in der gewohnt gründlichen Weise vorgearbeitet. Dieses Mal konnten wir uns die vorsichtige Annäherung, das große Ritual des Anschleichens, sparen. Ich hopste vor Gier auf der Stelle. Der Meister ermahnte mich zur Geduld. Schon heute abend wollte er das verdächtige Gebäude unter die Lupe nehmen.

***

Unser Tun im Dienst der Organisation zwingt uns meist, wie Vagabunden zu leben. Und wenn wir nach einem gelungenen Einsatz, sobald alles zufriedenstellend vollstreckt ist, für wenige Tage nach Prag kommen und der Meister bei einer Flasche rotem Absinth Entspannung sucht, faßt er mir gerne in den Nacken, beutelt mich scherzhaft und nennt mich sein kleines altes Zigeunerchen. Obwohl wir berufsbedingt keine wirkliche Heimat haben und wohl bis zuletzt keine Ruhe finden dürfen, bleiben wir beide der tschechischen Hauptstadt besonders verbunden. Denn hier, wo Europas Gemüt seit tausend Jahren zu lächeln versteht, fanden wir zueinander. Unter einem Prager Dach wurden mein Herr und ich - es ist wohl tausend Monde her - ein Paar.

Der Lucerna-Filmpalast führte uns zusammen, just als dessen Verführungskraft ihren Höhepunkt erreichte. Gerade war die Innenbeleuchtung von Gaslicht auf Kohlefadenglühbirnen umgestellt worden, aber noch hatte in diesem einmaligen Lichtspieltempel der Tonfilm nicht seine zwiespältige Herrschaft angetreten. Hier im Lucerna, im großen Vorführsaal des prächtigsten Kinos der alten Welt, sprang ich dem Meister zum ersten Mal auf den Schoß. Und einen schwankenden Schicksalsmoment lang war, unter dem zuckenden Schweif des Projektionsstrahls, unentschieden, ob Hugo Gottschlings Verblüffung in ein unwilliges Wegscheuchen oder in ein vorsichtiges Streicheln münden würde.

Damals war ich nichts als der demütige Leibeigene des alten Borislav Bodor, der während der Vorstellung das Pianoforte und bei Bedarf auch das Harmonium spielte. Bodor genoß im Prag der Zwischenkriegszeit den Ruf eines Filmbegleiters, dem kein Akkord zu schlüpfrig, kein Effekt zu deftig war. Aber auch das Schlichte und Zarte lag Bodor, sofern es eine Stummfilmszene verlangte, in Bodors Händen. Vor der Vorstellung und während der Pausen, in denen die Filmrollen gewechselt wurden, hüpfte ich, sein Domestik, durch die Reihen der Zuschauer und verkaufte aus einem kleinen Bauchladen gesalzene Pistazien und karamelisierte Mandeln.

Süßer als Zucker, bitterer als Mandelkern schmeckt meinem Gedächtnis der Augenblick, als ich die Gestalt des Meisters erspähte. Er saß allein in der Mitte der letzten Reihe und notierte sich etwas in ein schwarzes Büchlein. Mit dem dünnen silbrigen Stift strich er sich ab und zu auch das gewellte Haar aus der Stirn. Für einen Filmkritiker, für einen der vielen freien Feuilletonisten der damals zahlreichen Prager Tageszeitungen, hätte man den hübschen, jungen Mann halten können. Ich jedoch, zum Belustigungstier, zum Lakaien eines Filmbeklimperes herabgesunken, erkannte in diesem Fremden das potentielle Genie - das aufglänzen wird, sobald es sich einem selbstgewählten Zwang unterwirft. Und ich konnte nicht anders, als diese Verheißung sofort recht äffisch wild zu lieben.

Es dämmert und draußen weht ein überraschend laues Lüftchen. Wir erleben den ersten Abend dieses Septembers, der nicht unangenehm kalt, sondern fast verführerisch mild ist. Vu Wonglova hat uns persönlich zum Ort der anstehenden Tat begleitet. Die Sache scheint ihr mehr noch als sonst eine Herzensangelegenheit, vielleicht, weil sich der Feind erstmals so unverschämt nahe eingenistet hat, in einem Gebäude, das kaum zehn Minuten Fußweg vom ihrem Salon entfernt liegt. Wir verharren auf der gegenüberliegenden Straßenseite, um uns eine ungefähre Vorstellung von der Architektur des Verstecks zu machen, und Frau Wonglova erzählt uns, daß das Haus als Fernmeldeamt errichtet wurde.

Häßlich ist es; aber ich weiß, welche Schwäche der Meister ausgerechnet für diesen plumpen, ja dreisten Stil hat. Wie eine graue, brunftig angeschwollene Kröte duckt der Bau sich zwischen erheblich ältere Gebäude. Auch die tschechoslowakische Republik wollte, bevor sie von den wirklich großen Mächten gedemütigt und geknechtet wurde, ein paar Jahre lang großtun, und dieses Streben hat hier in Prag in zahlreichen Zweckbauten, in Ämtern, Krankenhäusern und Kasernen seinen Ausdruck gefunden. Das ehemalige Fernmeldeamt ist hervorragend restauriert. Der Granit seiner Fassade wurde offenbar porentief von den Ablagerungen sieben schmutziger Jahrzehnte gereinigt. Der neue Verwendungszweck ist mit hohen Neonbuchstaben über das Portal geschrieben: Casino Bohemia! Man hat Röhren mit einem hellen, fast wässrigen Rot gewählt, das gut mit dem Grau des Steins korrespondiert. Ich schlüpfe unter den Umhang.

Madame Wonglova hat sich plötzlich entschlossen, uns auch noch in das Gebäude hinein zu begleiten. Nur weil wir kommen, um unsere Arbeit zu tun, findet heute Abend kein Spielbetrieb statt. Der Pförtner ist informiert und begrüßt Vu Wonglova mit Namen. Zwei ungetüme Sicherheitsdienstler begaffen stumm und ungebührlich lang den Schrieb des Casino-Managements, den ihnen der Meister gereicht hat. Währenddessen gibt ein Dritter unser Eintreffen per Handy weiter.

Endlich lassen sie uns weiter. Nur einen Spalt wird eine der hohen, samtgepolsterten Türen, die aus dem Vestibül in die Erdgeschoßspielhalle führen, für uns aufgehalten. Vu Wonglava schlüpft voraus. Mein Herr muß mich, den vor seinem Leib Verborgenen, durch die knapp bemessene Lücke zwängen. Drinnen sind wir zu Dritt allein. Der Saal ist blendend hell. Tausendundein rubinroter Kristallklunker formen einen gewaltigen Deckenlüster, einen riesigen Tropfen, der alles Licht an sich zieht und vielfältig gebrochen auf uns herabschleudert.

Auch die Spielmaschinen, die Einarmigen Banditen an den Wänden, stehen unter Strom. Die halbmechanischen Automaten bewegen ihre Rotationsscheiben, sie klingeln und glocken und stoßen leise Lockrufe aus. Die Tondesigner der Glücksspielindustrie haben große Sorgfalt darauf verwandt, diese Geräusche im Niemandsland zwischen Sprache und Tierlaut anzusiedeln.

Der Meister läßt mich aus dem Umhang, führt mich aber noch an langer Kette. Ich stoße schnüffelnd in verschiedene Richtungen vor, umkreise meinen Herrn, der mitten im Raum, im bunten Geflacker, im Gurren und Fiepsen der amerikanischen Glücksgeräte verharrt und so auch die Balustrade im Auge behalten kann. Dort oben geht es zu den kleineren Roulett- und Kartenspielräumen, aber wir haben guten Grund, den Feind hier unten zu vermuten.

Wieder und wieder ist Madame Wonglava gezwungen, über meine Kette zu hüpfen. Sie tut dies mit lässiger Grazie, obwohl ihr enges langes Kleid und die eleganten halbhohen Schuhe ihr dabei einiges an Körperberrschung abverlangen. Man könnte glauben, sie habe sich für einen wirklichen Casino-Besuch hergerichtet. Zum ersten mal sehe ich sie Schmuck tragen: eine Halskette aus rotbbraunem Bernstein und dazugehörende Ohrsticker. Ihr schöne, nur ein wenig zu große Handtasche pendelt bei jedem Hochspringen weit nach vorne, als enthielte sie etwas Schweres. Mich wundert wirklich, daß Frau Wonglova weiterhin bei uns ist. Draußen muß es inzwischen dunkel sein. Der Feind ist gewiß schon im Aufwachen befangen, und er muß spüren, wie nah wir ihm sind. Obwohl es in all unseren Arbeitsjahrzehnten keine siebenmal vorkam: Wir können nicht ausschließen, daß er unserem Anschlag auf die Ewigkeit seines Lebens mit einer Verzweiflungsattacke zuvorkommt.

Das Licht erlischt. Wir kennen diese Tricks! Sofort bin ich bei Fuß, und der Meister klickt den Karabinerhaken der Kette auf. Ich trage mein Kampfhalsband, meine prächtige Kriegshalskrause. Für mich, seinen treuen Adlatus, hat sie mein Herr einst eigenhändig aus dem Einband eines uralten böhmischen Meßbuches geschnitten. Der edle Wälzer fiel uns in die Hände, als wir - der zweite Weltkrieg rollte durch Europa - vier Monate lang auf einem zerbombten Güterbahnhof bei Budapest Unterschlupf fanden. Dort standen ganze Waggons voll mit Gemälden, Möbeln und anderen Antiquitäten. Raubgut aus aller Herren Länder. Wir sahen uns gründlich um, fanden den katholischen Schmöker und Hugo Gottschling hatte Muße und Lust, etwas für mich zu basteln. In das durch stete Fettung jahrhundertelang geschmeidig gehaltene Kalbsleder des Buchrückens hat er Nieten aus geweihtem Silber eingelassen. Natürlich kann dieses kirchliche Brimborium keinen unserer Feinde ernstlich schrecken, aber die bloße Form, die katholische wie die historische, stärkt uns beide, die stets aufs Neue fiebrig-nervösen Angreifer.

Der heutige Gegner ahnt genau so wenig wie seine Vorgänger, daß die Finsternis mein liebstes Revier ist. Ich bin ein Makabei, ein kambodschanischer Nachtpavian, ein fast weißes Männchen mit hellblauen Augen. Die legendären Khmer-Könige haben diese großen Hundsaffen einst über arabische und chinesische Kaufleute in ihr Reich importiert. Die weißen Makabei wurden zur Jagd auf Vögel eingesetzt, vor allem auf Papageien, die bei den Khmer wegen ihrer Fähigkeit, die menschliche Stimme nachzuahmen, hohe Verehrung genossen. Sobald sie schlafen, lassen sich diese klugen und wehrhaften Vögel von einem gut abgerichteten Affen wie Obst aus den Dschungelwipfeln pflücken.

Ein einziger der Einarmigen Banditen ist trotz des Stromausfalls nicht ganz erloschen. Ein zartes Glimmen umspielt den unteren Rand seines Anzeigefeldes. Die Symbolscheiben zittern, als flösse ihnen noch ein Quentchen elektrischer Energie zu. Mit flatterndem Umhang nimmt der Meister Anlauf. Ein Fußstoß, der jedem Kickboxer zur Ehre gereichen würde, läßt den Spielautomaten erbeben. Ein zweiter, dann ein dritter gezielter Tritt aus dem Stand, und das untere Blech der Verkleidung fliegt klappernd zur Seite. Eine Duftwoge schlägt uns entgegen. Auch einen Normalsterblichen, auch Madame Vu Wonglova, muß dieses überreiche Aroma, als wäre Zeit das stärkste Gewürz, ahnungsvoll bestürzen. Da unten im Fußteil des wuchtig breiten Automaten hält er sich verborgen! Und ohne jeden Zweifel handelt es sich um ein besonders altes, um ein hochehrwürdiges Exemplar der verhaßten Rasse.

Jene US-Amerikaner, die uns auf seine Spur führten, hatten nicht einmal bemerkt, wie sich dieses Wesen an ihrem überzuckerten Blut gelabt hatte. Die Reisegruppe, vor allem Ehepaare im Rentenalter, befanden sich auf Europa-Tour. Mittags war man von Wien kommend in Prag eingetroffen. Am Nachmittag tippelte man dann gemeinsam über die Karlsbrücke, die meisten schafften sogar den Aufstieg zum Hradschin. Nach dem Abendessen wollten sich einige mit einem Spielchen für die Mühsal des Schauens belohnen. Hier unten, im Erdgeschoß des Casino Bohemia, hier bei den Einarmigen Banditen, gelten keine Bekleidungsvorschriften. Auch ohne Krawatte, ja selbst in Shorts und Turnschuhen darf man auf den Drehhockern Platz nehmen und die Automaten mit tschechischen Kronen füttern. Wahrscheinlich mußten die langen Fingernägel des Feindes, sichelförmig gekrümmt und bis in die Spitzen bläulich durchnervt, nicht einmal ein Jeanshosenbein lüften. Und den nadelspitzen Eckzähnen war allenfalls eine Frottee-Socke im Wege. Willfährig, nahezu nackt, rosa und kaum behaart bot sich das feistgewordene Fleisch der Neuen Welt unserem greisen Wiedergänger zu Biß und Trank.

Die nordamerikanischen Touristen gönnten der Goldenen Stadt nur einen guten halben Tag. Zwei Nächte später begann dem einen oder anderen die Wade zu jucken. Die schmerzende Stelle schien eine Entzündung rund um zwei Insektenstiche zu sein. Man verdächtige das Hotel in Peterburg. Den Russen war immer allerlei Ungeziefer zuzutrauen. Zuhause in den USA stellten die Ärzte dann eine Infektion mit einem seltenen Schleimpilz fest, einem Schimmel, der nur im erdfeuchten Dunkel, in sauerstoffarmer und ammoniakhaltiger Atmosphäre gedeiht. Man verschrieb die einschlägigen Breitbandantimykotika. Aber bei einem Patienten in Boston wollten die Beschwerden nicht abklingen. Der behandelnde Dermatologe machte sich kundig und bestellte ein sündteures Naturheilmittel, das speziell gegen diesen Gruftpilz hilft. Es wird von einer kleinen Versandapotheke in Genf aus geschützten Hochgebirgskräutern hergestellt und direkt an Fachärzte verschickt. Unsere Organisation, Der Heilige Bund Der Jäger, ist über jede Lieferung informiert.

Er kommt! Da kommt er und zeigt sich! Unser Gegner schiebt sich auf den Ellenbogen in winzigen Rucken aus dem Bauch der Spielmaschine. Kurios zusammenkrümmt, die Knie auf der Brust, muß er in seinem blechernen Sarg gelegen haben. Ich weiß, daß ich der einzige bin, der sein Hervorkriechen so deutlich sehen kann, wie es der rührenden Langsamkeit, der verhaltenen Pracht dieses Aktes angemessen ist. Die Augen des Meisters sind im Gang der Jahrzehnte nicht schärfer, sondern milder, also trüber geworden. Hugo Gottschling weigert sich, eines der Nachtsichtgeräte zu benutzen, die bei den jüngeren Kollegen längst selbstverständlich in Gebrauch sind. Auch wenn mein Herr nun höchstens schemenhaft sieht, was ich bläulich phosphoreszierend wahrnehme, mit dem Stolz des Untergebenen freue ich mich mit daran, wie entschlossen er zumindest in die richtige Richtung starrt, den Pflock aus in Weihrauch gebeiztem Kirschbaumholz in Brusthöhe erhoben. Madame Wonglova schaut zu mir herüber, sie wirkt gefaßt, nur ihre Finger nesteln am Verschluß ihrer Handtasche. Es ist Zeit: Aus voller Kehle kreische ich dem Feind meinen Kampfschrei entgegen.

Er antwortet! Er spricht! Er hat das Haupt dazu ein wenig angehoben. Sein Schädel ist ledrig kahl; allein im Nacken wächst ihm noch spinnwebfeines Haar, das eine lilafarbene Restlichtaura umspielt. Sein lippenloser Mund formt, zu einer Schnute gespitzt, zweifellos Wörter, auch wenn mich nur ein hauchzartes Fauchgeräusch erreicht. Mit einem einzigen Sprung säße ich ihm im Nacken. Es wäre leichtes Spiel. Die Knochen der Feinde, vor allem das Gebein solch alter Exemplare, sind brüchig wie morsches Holz. Aber es wäre unritterlich, ihn zu erledigen, bevor er zu Ende gesprochen hat. Zumindest dem Meister, dem noblen Gottschling, würde es mißfallen, wenn ich affenhaft kurzen Prozeß mit dem Hervorgekrochenen machte.

Er meint mich! Mir gilt sein heiseres Flüstern! Und schon bin ich ihm so nah, daß mir kein Satz mehr entgeht. Mich, den Subalternen, hat er mit Namen gerufen. "Method! Method!" ächzte es aus seinem Schlund. "Method! Bruder in Christo, erkennst du mich denn nicht?"
Nein! Tausendmal nein! Was gäbe es für mich, das helläugige Gegenwartstier, an diesem Urgreis, diesem pergamentenen Knochensack, denn zu erkennen? Er ist mir Exemplar unter Exemplaren. "Method" hin, "Method" her! Der da bleibt, welchen Namen er auch lispeln mag, Glied unserer berufsgeschichtlichen Serie. Besonders sind sie alle, und tötenswert ist ein jeder. Nicht eine einzige der riesigen, von Mäuseflaum überwucherten Warzen auf seiner Glatze kommt mir vertraut vor. Und auch sein fadenscheiniges graues Gewand, das wohl nur noch das Rhizom des fraglichen Schimmels zusammenhält, sagt mir nichts. Zumindest begreife ich nicht, nach welcher Mode oder zu welchem Zweck es geschneidert sein soll.

"Method! Bruder Method! Dieselbe Mutter hat uns geboren und das Sprechen gelehrt. Erhör mich doch wenigstens, wenn mich deine Augen nicht mehr erkennen mögen!"

Ach, Gott verflucht! Was hilft mir meine trotzige Tumbheit, da er meinen Namen, den niemand wissen dürfte, so trefflich intoniert. Was ich da verstehe, ist mein Heimatidiom. Aus dem spitzen Mäulchen des Erzfeindes erklingt das prachtvolle Byzantinisch, das ich so lange entbehren mußte. Und jenen Method, den er heiser anhaucht, Method, den Frommen, den Hochgebildeten, den gelehrten Glaubenskämpfer, jenen Method, der ich war, ich glaube ihn plötzlich noch einmal unter meinem asiatischen Pelz zu spüren. Es ist ein schauderhaft wohliges, ein wahrlich nostalgisches Jucken, das dieses hinfällige Klappergestell mir allein kraft seiner Stimme zu induzieren vermag.

Zuletzt habe ich einen vergleichbaren Silbengesang vor vielenvielen Monden von den Lippen eines sterbenden osmanischen Offiziers gehört. Der wackere Türke hatte versucht, seine arg dezimierte Einheit Richtung Bosporus zu retten. Sie hatten kein Gran Schießpulver mehr, und ein Reitertrupp aus griechischen Freischärlern und westeuropäischen Abenteurern, angeführt von einem hinkenden Engländer, war den verhaßten Besatzern dicht auf den Fersen. In einer Klosterruine suchten die Versprengten Schutz für die Nacht. Keiner sollte das Gemäuer wieder verlassen. Alle sollten im Morgengrauen den Kugeln und den Säbeln der hellenischen Freiheitskämpfer zum Opfer fallen.

Zuvor schon gehörte mir der Offizier, sprachkundiger Angehöriger der türkischen Elite, ein nobles Gewächs jener Hohen Pforte, die damals mit Griechenland Europa endgültig verlor. Er konnte nicht ahnen, daß die Ruine mein Hospiz, das Labor meines langwierigen, noch nicht vollendeten Gestaltwandels war. Ich wartete auf frisches Blut. Ich biß den völlig Erschöpften tief in den Hals, verfehlte aber die Luftröhre, und so klagte er, sein Blut verströmend, in derjenigen Sprache, die er instinktiv als die meine erriet. Vielerlei Griechisch hat die Welt gehört und nicht wenig davon ist mir im Lauf der Jahrhunderte wohlklingend zu Ohren gekommen. Aber der hohe Ton der Würdenträger von Byzanz scheint mir, da ich wohl ewig befangen bleibe, der Gipfel griechischen Sprechens gewesen zu sein. Damals, als jener fremde, für mich namenlose Türke, nach einem letzten byzyantinischen Flüstern unter meinen Lippen verstummte, war ich, unerträglich gerührt, unendlich froh weitgehend zum Tier geworden zu sein.

***

Kyrill, Brüderchen Kyrill, ist auf und davon. Er ist der erste Feind, dem es gelang, dem Meister und mir zu entkommen, nachdem er in seinem Versteck gestellt worden war. Mein Herr, der Grund hätte, mich für mein Zögern zu schelten, macht mir keinen Vorwurf. Vielleicht ist er schlicht noch zu matt. Seine Wunde hat aufgehört zu bluten, aber die Lache, die er auf den weißen Bodenkacheln des Casino Bohemia zurückgelassen hat, wird alle, die sie sehen, sofort an eine tödliche Verletzung denken lassen. Leider blieb mir keine Zeit, das kostbare Blut aufzulecken. Hastig sammelte ich ein paar Fetzen von Kyrills brüchiger Bekleidung aus dem Bauch des Spielautomaten. Es war noch unser altes byzantisches Meßgewand! Und ohne zu zögern, stopfte ich das stinkende Gewebe zuerst in die Einschußwunde und dann in das Loch, das die Kugel austretend in den Rücken meines Herrn gerissen hatte.

Die Blutung stockte sofort. Der Meister setzte sich auf, sammelte Kraft mit geschlossenen Augen, dann kniete er sich hin und nahm mich an die Kette. Ich zog ihn in den Stand und schleppte den Wankenden nach draußen. Im Vestibül lagen der Pförtner und die Sicherheitsmänner, von Kopfschüssen niedergestreckt. Madame Vu Wonglova versteht es mit der Pistole umzugehen. Sie stammt aus der Nähe der schmucken Stadt Brünn, wo die Herstellung von Schußwaffen eine lange Tradition hat. Wir müssen es wohl als ein Zeichen unerschütterlichen Respekts verstehen, daß sie, kaltblütig zielend, dem großen Hugo Gottschling nur durch die rechte Schulter geschossen hat.

Ach, schon zu Hause in Saloniki, schon als halbwüchsiger Bengel ist mein Bruder Kyrill ein Liebling der Frauen gewesen. Als wir im Auftrag des Kaisers zu Konstantinopel auszogen, um den wilden Stämmen des Balkan in ihren schaurig-kruden Halbsprachen zum Wort Gottes zu verhelfen, war Kyrill gewiß der anmutigste Priester, den das Sonnenlicht des jungen Europa umspielen durfte. Und da das Füllhorn der Natur, so es einmal tief genug geneigt ist, mit dem Ausgießen nicht innehalten kann, war Kyrill nicht nur mit gewinnenden Gesichtszügen, sondern auch mit einem strahlenden Tenor gesegnet. Oft genug, wenn tückische Tatarenbogen gegen uns gespannt, wenn grobgeschmiedete Germanenschwerter oder die nagelgespickten slawische Kriegskeulen erhoben wurden, um uns totzuschlagen, hat er, indem er einen Meßgesang anstimmte, sein und mein Leben gerettet.

Die furchtbaren Bulgaren waren, als wir ihnen die Heilige Schrift samt den Buchstaben, um diese aufzuschreiben brachten, allenfalls berühmt für das Heulen, mit dem sie ihre kleinen Pferde in die Schlacht trieben. Daß sie bis heute die ganze Welt mit ihren bulgarischen Weisen zum Schluchzen bringen können, sie haben es allein Kyrills geduldigem Vorsingen zu verdanken. Kyrill wußte, daß der Schleichweg ins Herz eines Volkes durch das Ohr der Weiber führt. Keiner konnte den Mädchen, den Frauen, den Greisinnen süßer von Jesus säuseln. Ja, in manch sündig-neidvollem Moment dachte ich mir, mein Bruder könnte mit ähnlichem Erfolg auch das Lied des Höllenfürsten vor den Heidinnen des Balkan und der Karpaten zum Erklingen bringen. Seit heute bin ich sicher: Schon damals hätte den liebeshungrigen Barbarenweibern die Verherrlichung Satans genau so fein wie das Wort Gottes gemundet.

Eifersucht - zum Glück nicht die meine - war es dann auch, die Kyrill zum Verhängnis wurde. Der Heilige Vater in Rom, ein geiler lateinischer Frosch, Ahnvater zukünftiger geiler Frösche, hatte Kyrill mit der Schulung des päpstlichen Knabenchors beauftragt. Es war kein Wunder, daß die Jungen ihren neuen Lehrmeister ohne Ausnahme liebten. Und noch weniger war es ein Mirakel, daß das päpstliche Amphibium den Anblick dieser unschuldigen Liebe nicht ertrug. Das Gift, das Kyrill in den Meßwein gemischt wurde, führte zu einem schrecklichen Todeskampf, einem nicht enden wollenden Ersticken. Und als mir mein Bruder im Morgengrauen nach einem letzten Aufbäumen und einem allerletzten scheußlich pfeifenden Aushauchen reglos in den Armen lag, war ich entschlossen, sein Schicksal zu teilen. Dem Treusten unserer Diener diktierte ich den Brief, der den unheiligen Vater beim Kaiser in Byzanz verklagen sollte. Der Gott des Augenblicks gab mir die richtigen Worte ein. Danach sollte es nie mehr zu einem wirklichen Einvernehmen zwischen Rom und Konstantinopel kommen.

Den seltsam warm und schlaff bleibenden Körper Kyrills trug ich im Morgengrauen in die Ruine eines heidnischen Tempels und ließ ihn in einen finsteren Schacht hinabgleiten. Ich vermutete dort unten eine Gruft, den unzugänglich gewordenen Schauplatz vergessener Kulte. Kyrill war den untergangenen, vor allem den im Niedergang begriffenen Gottheiten stets mit Respekt begegnet. Oft genug hatte er ihre Namen im richtigen Moment und im rechten Tonfall angestimmt. Gerade indem er den alten Gottheiten in einem traumwandlerisch sicher improvisierten Lied einen würdigen Abschied gab, war es ihm mehr als einmal geglückt, die noch trotzenden Altgläubigen ans Ufer der Offenbarung zu ziehen.

Ich, Method, wanderte noch einen Tag ziellos durch das von schamlos dummem Leben durchpulste Rom. Es war ein strahlend heller Märztag, und ich bemerkte irgendwann, daß ich die Augen weit mehr als nötig zukniff. Ich, der ich das Licht Italiens so geliebt hatte, sehnte mich plötzlich nach Schatten und Dämmer. Ich trug den Rest des vergifteten Meßweins in einer Flasche bei mir, und als es endlich wieder dunkelte, kroch ich in eines der vielfach geschändeten Grabmäler an der Via Appia und trank das Gift. Method, der Gelehrte, war allen Lehrens müde und wollte nur noch das Schicksal seines Bruders Kyrill teilen. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich dort lag. Ohne daß mir die Zeit lang wurde, ohne daß ich Hunger, Durst oder Atemnot verspürte, betrachtete ich ein Wandgemälde, ein grinsender Satyr gekrümmt über den bleichen Rücken einer Nymphe. Von germanischen Plünderern der Grabstätte waren eckige Chiffren, mehr Zauberzeichen, denn Buchstaben in das Bild geritzt worden.

Hatten wir beide die Tücke des päpstlichen Päderasten unterschätzt? Gönnte uns die eifersüchtige Kröte nicht einmal den Tod des Leibes? Oder war in uns beiden schon längst etwas herangereift, was sich nun auf unterschiedliche Weise mit dem Gift verband? Vielleicht war es unser Hochmut, unser Stolz auf Wort und Schrift, unser ungebrochener Belehrungswille, der mit dem Gift in unseren Adern zu einem neuen Halblebenssaft vergor. Mein Meister und alle anderen Jäger sind solchem Saft beruflich innig verbunden. Wenn sie den geweihten Pfahl in die Brust eines Feindes stoßen, tritt eine sirupdicke Leibflüssigkeit aus. Meist ist die Menge nicht einmal groß genug, um das Gewand des nun endlich Sterbenden zu tränken. Wenn dessen Augen ihren letzten Blick verströmt haben, wenn das obligatorische Gebet in Hebräisch, Altgriechisch, Latein oder notfalls auch auf Amerikanisch gesprochen wurde, ist es dem Jäger erlaubt, den Pfahl aus der Wunde zu ziehen und ihn ein einziges Mal abzulecken. Dieser mit Bedacht knapp bemessenen Dosis verdankt Hugo Gottschling, daß ihm sein Schopf noch immer so dunkel, dicht und seidig über Ohr und Kragen wallt wie damals, als ich, der namenlose Affe, im Lucerna-Palast, im Licht der Stummfilmprojektion, zum erstenmall an diesem Haar zu schnuppern wagte.

Madame Vu Wonglova hatte den gewaltigen alttschechischen Armee-Revolver, von dessen Schuß mein Meister gegen die Spielautomaten geschleudert worden war, auch auf mich gerichtet. Ich ballte mich zum Sprung, ich hätte meine fingerlangen Reißzähne, selbst wenn mich ihre Kugel in der Luft getroffen hätte, tief in ihren schmalen, herrlich weißen mährischen Hals geschlagen. Aber Kyrills Hand legte sich begütigend auf meinen Pavianschweif, und seine Stimme verhinderte mit einem: "Nein, verehrte Vu, verschon mir das Äffchen! Es liebt so grundlos klug wie ich und du!", daß die Meisterschützin gegen mich durchzog.

Lange, lange, vielleicht tausend Monde wird es dauern, bis ich vergessen habe, wie anmutig Madame Wonglova in die Knie sank, als sich der schöne Kyrill endlich - mit schabendem Brokat, mit auf den Bodenfliesen klappernden Fingernägeln - bis vor die Spitzen ihrer exquisiten Schuhe geschoben hatte. Nun war es kein Geheimnis mehr, für wen sie sich hübsch gemacht hatte. Sie hob Kyrills Leib hoch. Wie eine große, wie eine mit Federn und Haar gestopfte Puppe lag er in ihren Armen. Und sein Kopf, dessen blau leuchtendes Profil mir in der Gnade des Augenblicks noch einmal unverwechselbar brüderlich erschien, bettete sich an ihre linke Brust.

Draußen wartete eine kalte und mondlose Nacht auf das fliehende Paar. Myriaden Prager Motten und Falter stoben aus den Winkeln und Ritzen der Stadt, um jedem nur denkbaren Verfolger die Sicht zu verstören. Prags gesamte Mäuse- und Rattenbrut, putzig klein und ekelhaft groß, strömte aus Gullys und Kellerluken, um sich möglichen Jägern in den Weg zu werfen. Ja, es ist besser nichts als ein gehorsames Tier zu sein. Denn überall auf der Welt, auch in Asien, wird die Heilige Organisation nun nach Bruder Kyrill und Schwester Vu forschen.

Ich, der entlarvte Affe, zog, ins Geschirr, in Kette und Halsband gestemmt, meinen verwundeten Herrn nach Hause. Dort öffnete der Meister den kleinen Kühlschrank unseres Appartements und entnahm ihm die Flasche mit rotem Absinth, als gelte es eine erfolgreiche Jagd zu feiern. Auch mir, dessen Namen er nun kannte, schenkte er erstmals das Glas halbvoll. Und als meine zitternde Pfote mit ihm anstieß, spürte ich, daß er mich ansah. Meinen reißzahnbewehrten Mund, mein wie immer etwas rotziges Schnäuzchen, meine arg eng beieinander stehenden Pavianaugen - mein Meister betrachtete mein Antlitz erneut so ernst und so freundlich, wie er meine Tierheit einst im Lucerna angeschaut hatte. Tief verlegen senkte ich den Blick und unterwarf mich dem Trinkspruch: "Gott schütze Böhmen wie Mähren!"

Georg Klein