Mord und Ratschlag

Deutsche Helden

Die Krimikolumne. Von Ekkehard Knörer
21.06.2002. Die Krimikolumne. Heute: Die deutsche Unterhaltungsliteratur im allgemeinen, der deutsche Kriminalroman im besonderen haben nach dem Krieg kaum Klassiker oder Meisterwerke hervorgebracht. Doch Besserung ist in Sicht. Horst Eckert und Friedrich Ani zeigen, dass auch deutsche Autoren die Regeln des Genres beherrschen.
Die deutsche Unterhaltungsliteratur im allgemeinen, der deutsche Kriminalroman im besonderen haben nach dem Krieg kaum Klassiker oder Meisterwerke hervorgebracht. Das ist ein Klischee, aber leider die Wahrheit. Es gibt keine Tradition großer Spannungsliteratur, kaum Autoren (Simmel?), von denen, wer U, nicht E, will, sein Handwerk lernen könnte. Der gegenwärtige Krimi-Boom in Deutschland lässt hoffen, dass Besserung in Sicht ist. Neben viel uninspiriertem und handwerklich unbedarftem Mittelmaß gibt es nun auch bei uns Autoren, deren Büchern man anmerkt, dass sie die Meister des Genres kennen und, was wichtiger ist, begriffen haben, was ihre Meisterschaft ausmacht.

Das Problem ist ja nicht, dass man in Deutschland lange Zeit mit großem Eifer und größerer Entschiedenheit die Literatur zwischen E und U getrennt hat; diese Trennung gibt es, wenngleich man andernorts schon sehr viel länger Verständnis für Mischformen aller Art hat, mit mehr gutem als schlechtem Grund überall auf der Welt. Das Problem ist vielmehr, dass Feuilletonisten und Literaturwissenschaftler von den Stärken der Unterhaltungs-, der Spannungs- und eben auch der Kriminalliteratur nicht nur keine Ahnung haben, sondern auch keine haben wollen. So konnte sich die Idee verbreiten, unterstützt von Kritikern und Akademikern gleichermaßen, dass Unterhaltungsliteratur in einem wichtigen, weil den Zugang zu Curricula und Rezensionen regulierenden Sinn keine "Literatur" im strengen Sinn sei. Die Ausnahmen - von Eric Ambler bis Patricia Highsmith - bestätigten die Regel gerade dadurch, dass sie nur durch die Behauptung in die Familie des Ernstzunehmenden eingemeindet werden konnten, sie seien in Wahrheit gerade keine Kriminalliteratur. So verkümmerte den hohen Auflagen zum Trotz die Kunst, Bücher, die nur mit Ach und Krach und manchem Trick unterhalten, von jenen zu unterscheiden, die das mit Intelligenz, Radikalität und Humor tun. Große Autoren wie - den hatten wir schon - Charles Willeford oder Ross Thomas (mehr hier und hier) oder Elmore Leonard (die sich alle miteinander vor einem Richard Ford oder Philip Roth nicht verstecken müssen) werden von den Platzhirschen des Verlags- und Kulturbetriebs nicht einmal mit spitzen Fingern angefasst: der größte Teil ihres Werks ist, wenn überhaupt übersetzt, vergriffen. Leonards neuestes Buch dagegen wurde in der New York Review of Books von Margaret Atwood besprochen!

Weil die deutschen Literaturkritiker - mit ein, zwei Ausnahmen - aber nicht begriffen haben, dass exzellente Unterhaltungsliteratur auch exzellente Literatur ist, also eine summa summarum der Kritik würdige Sache, und weil sie glauben, dass noch das verblasenste Geschwätz von Dichtern wie Handke, Walser oder Strauß (ja, sie haben - gelegentlich - andere Qualitäten, aber erzählen können sie nicht), einen Literaturbeilagenaufmacher wert ist, während der neue Roman von Meistern der Erzählkunst wie Turow, Taibo oder Manchette bestenfalls unter ferner liefen rangiert, deshalb hat Deutschland, darauf wollte ich hinaus, nichts anderes verdient als die, mit raren Ausnahmen wie Patrick Süskind oder Sten Nadolny, miesen Unterhaltungs- und Kriminalschriftsteller, die es hatte und, im Schnitt, immer noch hat. In Deutschland wurde im öffentlichen Diskurs darauf verzichtet, Kategorien und Maßstäbe für so essenziell wichtige Aspekte der Unterhaltungsliteratur zu entwickeln wie die Ausdifferenzierung der Genres und das Verhältnis von Innovation und Abweichung, das das Genre konstituiert. Es fehlt am Bewusstsein dafür, dass Genreliteratur, wenn sie irgend interessant ist, ein Paradebeispiel für Intertextualität, für Literaturgeschichtsbewusstsein und -unterbewusstsein des Textes liefert. Kaum jemand hat Verständnis dafür, dass das Erzählen eine Kunst ist, die anderen Künsten nicht nachgeordnet werden muss. Und was ist die Folge? Ingrid Noll, der provinzielle Regionalkrimi, die Vorliebe für das wehleidige Salbadern eines Henning Mankell, die totale Verspießerung des Kriminalromans, deren Endzustand die dann eben vor allem in Deutschland erfolgreiche Donna Leon darstellt.

Die gute Nachricht lautet: Besserung ist in Sicht (Ausnahmen wie Jakob Arjouni oder Jörg Fauser gab es sowieso immer wieder). Mit viel Eigensinn gehen österreichische Autoren wie Heinrich Steinfest, Wolf Haas, Alfred Komarek oder Kurt Lanthaler - alle miteinander sehr lesenswert - seit einiger Zeit daran, dem deutschsprachigen Krimi Eigenständigkeit zu verschaffen. Und auch in Deutschland entwickelt sich langsam, aber sicher eine Szene von Kriminalschriftstellern, die sich - wenigstens, ohne dass es für alle Beteiligten peinlich wird - zu den internationalen Vorbildern in Bezug setzen lassen. Nicht ohne Selbstbewusstsein hat etwa Horst Eckert - Träger des letztjährigen Glauser-Preises, der höchst dotierten deutschen Auszeichnung für Kriminalliteratur - seinem vorletzten Roman "Die Zwillingsfalle" ein Motto des amerikanischen Klassikers des Polizeiromans Joseph Wambaugh ("Die Chorknaben") vorangestellt. Eckert kennt nicht nur Wambaugh, sondern auch die Tradition von Ed McBain, der in bisher mehr als fünfzig Romanen aus dem 87. Polizeirevier das "police procedural" als Genre vielstimmiger Ermittlungsarbeit erfunden und etwa die Schweden Sjöwal/Wahlöö stark beeinflusst hat. Zudem ist Eckert ein Verehrer des in den USA überaus erfolgreichen Michael Connelly (einer seiner Romane wurde gerade von Clint Eastwood verfilmt), der seinen moralisch ambivalenten Polizisten-Protagonisten Harry (eigentlich Hieronymus) Bosch in LA ermitteln lässt.

Horst Eckerts jüngster Roman "Ausgezählt" ist sein bisher umfangreichster und erzählt in bewährter Manier eine verwickelte, aber sehr, vielleicht ein wenig zu eng geknüpfte Geschichte um Drogen und Korruption, in die der Polizist Bruno Wegmann sich verstrickt. Eckerts Romane spielen stets innerhalb der Düsseldorfer Polizei, gewechselt wird von Buch zu Buch die Hauptfigur. Akribische Recherche und Authentizität der Milieus sind freilich Stärke wie Fluch seiner sehr umsichtig geplotteten, von der ersten bis zur letzten Zeile spannenden Texte: Düsseldorf ist eben nicht Los Angeles und die Freude darüber, dass Eckert gar nicht erst so tut, als sei es das, schlägt immer mal wieder um in die ernüchternde Einsicht, dass der Mief deutscher Amtsstuben und das dumpfbackige Polizistenmilieu des gar so ausführlichen, streckenweise fast journalistisch anmutenden Berichts doch nicht wert sind. Der gelegentliche Biedersinn der Romane ändert freilich nichts daran, dass hier jemand kapiert hat, worum es im Subgenre des "police procedural" geht, dass hier endlich ein deutscher Autor den Kriminalroman nicht - wie all zu lange mancher Kollege, manche Kollegin hierzulande - mit Sozialarbeit verwechselt oder glaubt, man könne erzählerisches und formales Unvermögen mit schlicht gedachter Gesellschaftskritik kompensieren.

Ein seltsam' Ding ist der deutsche Fernsehkrimi, immens erfolgreich beim Publikum, in seiner freitäglichen ZDF-Gestalt jedoch zumeist atemberaubend einfallslos und weltfremd und in seiner Formelhaftigkeit jenseits aller ästhetischen Zurechnungsfähigkeit. Mancher Tatort und die Bella-Block-Reihe immerhin sind Lichtblicke auf dem Gebiet. Mit Friedrich Ani gibt es einen Autor, der für die beste der Freitagsserien - "Ein Fall für zwei" - ebenso wie für den "Tatort" Drehbücher geschrieben hat, nur um jetzt, mit einem Doppelschlag den Kommissar Tabor Süden in die Welt zu setzen: Der im letzten Jahr erschienene erste Band der Reihe, "Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels", kam prompt auf Platz 2 beim Deutschen Krimipreis. Mit dem soeben erschienenen zweiten Band, "Süden und der Straßenbahntrinker", hat Ani einen Roman vorgelegt, den man sich geradezu in der Verfilmung durch Dominik Graf vorstellen könnte - und das ist, weiß Gott, kein kleines Kompliment.

Friedrich Ani präsentiert seinen Helden, das ist im Polizeiroman-Subgenre durchaus ungewöhnlich, als Ich-Erzähler, was auch heißt: der Blick auf die Welt, die in diesem Falle München ist, ist eingestandenermaßen subjektiv. Der Leser bleibt dicht dran am Geschehen, an Süden, der eigentlich Urlaub hat, aber nicht von der Arbeit lassen kann. Ein Mann ist aufgetaucht und nicht wieder loszuwerden, der behauptet, man habe ihn seit Jahren vermisst: da täuscht er sich freilich. Süden aber kann nicht anders, er muss sich interessieren, für diesen Menschen, für sein Umfeld, für die Frage, wie einer so ins Elend geraten kann. Dem Roman ist ein lakonisches Motto vorangestellt, mit dem sich "Tabor Süden, Polizist" selbst charakterisiert: "Ich arbeite auf der Vermisstenstelle der Kripo und kann meinen eigenen Vater nicht finden." Das lässt schlimme küchenpsychologische Quälereien erwarten, aber nichts da. Die Vatersuche ist motivisch eng mit dem "Fall", der fast keiner ist, verschlungen, mit psychologischen Erläuterungen wird man - da folgt Ani ganz dem amerikanischen Grundsatz "show, don't tell" - nicht behelligt. "Süden und der Straßenbahntrinker" ist kein großer Roman, nicht viel mehr als eine kompetente, spannende Fingerübung. Aber Friedrich Ani beherrscht sein Handwerk perfekt, das merkt man an jeder Zeile. Er kann Dialoge schreiben und in wenigen Sätzen vielschichtige Figuren entwerfen. Und genau deshalb gehört sein neuer Roman zur Sorte souveräner Genre-Literatur, die es in Deutschland bisher kaum gegeben hat.

Horst Eckert: "Ausgezählt". Roman. Grafit Verlag, Dortmund 2002. Taschenbuch, 320 Seiten, 10,40 Euro (Zur)


Friedrich Ani: "Süden und der Straßenbahntrinker". Roman. Droemer Knaur Verlag, München 2002. Taschenbuch, 206 Seiten, 7,90 Euro