Mord und Ratschlag

Wo sind die Kinder?

Die Krimikolumne. Von Michael Schweizer
25.01.2003. Die Krimikolumne. Heute: Wo sind die Kinder? Dagmar Scharsichs Psychothriller "Verbotene Stadt" beschreibt den Albtraum einer Mutter. Von Michael Schweizer
Verlage bewerben Bücher gerne als "Psychothriller". Was ist damit gemeint? Gibt es so etwas überhaupt als eigenständige Gattung, wo doch jeder Krimi von extremen Seelenlagen handelt und thrill erzeugen soll?

Das Leben von Lilli Lukas, der 30-jährigen Ich-Erzählerin von Dagmar Scharsichs "Verbotene Stadt", sieht zunächst nicht nach einem Krimistoff aus. Vielmehr scheint der "Psychothriller voller Unterströmungen auf literarisch höchstem Niveau" (Umschlag) von den Mühen und Freuden mittelschichtiger Normalität zu handeln. Lilli lebt mit ihrem Mann Frank in Magdeburg, wo sie aufgewachsen ist. Nachdem sie fünf Jahre zu Hause bei ihren Zwillingen Liane und Frank junior geblieben ist, freut sie sich darauf, in Franks Buchhandlung mitzuarbeiten. Sie liebt den Beruf, und ihre Mutter Mathilde hilft ihr mit den Kindern. Das alles ist nicht minenfrei, denn Frank und Mathilde wissen, jeder auf seine Art, zu genau, was für Lilli gut ist. Aber es lässt sich aushalten, und dann hat Lilli Glück: Zusammen mit ihrer Freundin Lisa soll sie in der Bücherstadt Wünsdorf die Woche über ein Antiquariat aufbauen. Frank ist dafür und zahlt.

Ab hier wird es schwieriger. Mathilde reagiert auf Lillis Umzug panisch, sagt aber nicht, warum. Lilli bekommt wieder ihre Migräne, von der sie verschont geblieben war, seit sie die Kinder hat. Wünsdorf bedeutet offenbar etwas, von dem sie auf ungesunde Art nichts weiß. Sie erinnert sich, wie sie als Fünfjährige mit Mathilde in Magdeburg gelebt hat. Wo sie vorher war, ob sie ihren Vater gekannt hat - alles dunkel. Erstaunlich ergeben hat sie jahrzehntelang geschluckt, dass ihre Mutter jegliche Fragen abgewehrt hat.

Lisa und Lilli richten ihren Laden ein, da verschwinden Mathilde und die Kinder spurlos. Leben sie noch? Die neue Katastrophe gehört zu einer alten. Wenn Lilli wieder einfällt, was vor Magdeburg war, weiß sie auch, wer ihre Kinder gefangen hält.

Die Suche nach der Erinnerung als Aneignung des eigenen Lebens: Das ist Lillis Thema, und darüber schreibt Dagmar Scharsich besonders gut. Schritt für Schritt stolpert ihre Hauptfigur aus der schützenden Betäubung. Sie kann weinen, endlich wütend werden und erst dann, denn vorher wäre es eine Kapitulation, sich versöhnen. In der Angst um ihre Kinder schwankt Lilli zwischen Realitätsverkennung und rücksichtslos präzisem Kampf, zwischen Lähmung und Hyperaktivität. Dann wieder räumt sie ruhig ihre Bücherregale ein, als wäre alles in Ordnung. Lillis Innenleben bildet den besten Strang des Romans. Aus einprägsamen Leitmotiven wie der Migräne, den drei Schlüsseln, dem "Chor der antiken Tragödie" und der "Hängematte (...) in meinem Bauch" knüpft Scharsich ein kunstvolles Netz.

Wie in ihrem ersten Roman "Die gefrorene Charlotte" (1997) führt die 1956 in Magdeburg geborene Autorin die persönliche mit der gesellschaftlichen Erinnerung zusammen: Lillis Geschichte hat mit der "verbotenen Stadt" zu tun, die, gleich hinter Wünsdorf, ein geheimes Militärgelände der Reichswehr, der Wehrmacht und der Roten Armee war. Mit Frank kommt ferner eine etwas grob gezeichnete Wessi-Geschäftstüchtigkeit ins Buch. Wo die Ostdeutschen unter sich sind, wirkt der Roman authentischer.

Zwischenfazit: Unter einem Psychothriller kann man einen Kriminalroman verstehen, in dem die seelische Entwicklung mindestens einer Hauptfigur wesentlich ausführlicher und tiefer begründet wird, als es nötig wäre, um den Plot voranzubringen. Verbrechen und polizeiliche Ermittlung einerseits, psychischer Wandel andererseits folgen aber unterschiedlichen Impulsen und Tempi. Diese Verläufe so zu verbinden, dass beide schlüssig bleiben, dürfte für jeden, der einen Psychothriller schreiben will, das Hauptproblem sein.

Solche Balance, solch heikler Ausgleich ist Dagmar Scharsich nicht durchgehend geglückt. Lillis Seelenlogik darf sich auch dann nach ihrem eigenen Zeitmaß entfalten, wenn dadurch die äußere Handlung unglaubwürdig wird. Die Buchhändlerin bremst, ganz gegen ihren Willen, die Suche nach ihren Kindern, indem sie auffälligste Details missversteht oder vergisst. Dann wieder wird sie von freundlichen Kleinstadtpolizisten zur Fahndung eingeladen und darf im Krankenhaus eine schwer kranke Verdächtige vernehmen.

Da die Sprecher durchaus etwas zu sagen haben, ist es schade, dass viele Dialoge ziemlich schwach sind. Sie setzen zu früh ein: nicht da, wo sie interessant werden, sondern mit umständlichen, teils geschraubt witzigen Begrüßungen. Oder die Personen erklären sich Dinge, die der Leser längst weiß. Das wirkt betulich, und dazu passen, auch außerhalb der Gespräche, Wendungen wie "als Sahnehäubchen gewissermaßen", "Trübsal blasen" und "hielten wir Kriegsrat". Einmal habe ich leider lachen müsen: "Deutschland wurde bombardiert, es gab mehr Stress als gut war."

Psychothriller sind schwer zu schreiben. Dagmar Scharsich hat keinen einwandfreien Thriller geschrieben, aber einen guten Seelenroman.


Dagmar Scharsich: "Verbotene Stadt". Ariadne Krimi, Argument Verlag, Hamburg 2002, 431 Seiten, Taschenbuch, 10,90 Euro
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