Mord und Ratschlag

Topografie eines Kibbuz

Die Krimikolumne. Von Ekkehard Knörer
01.04.2003. Die Krimikolumne. Heute: Daniel, Forscher und Leiter eines Kibbuz in Galiläa, ist homophob und autoritär, er schläft mit allen Frauen im Kibbuz und telefoniert immerzu mit seiner Mutter. Dann verschwindet seine Geliebte Ruthi... In Israel Hame'iris Krimi "Symbiose" ist die Psyche des Heldens der zentrale Schauplatz der Erzählung. Von Ekkehard Knörer
Der Ort: Ein Naturschutzreservat in Galiläa. Geleitet wird es, mit strenger Hand, von Daniel, einem ehemaligen Armeeoffizier, der jetzt als Biologe an einer Arbeit über die Symbiose von Galläpfeln und Wespen arbeitet. In die Natur, in der er lebt, fühlt Daniel sich eingewurzelt, das Reservat ist sein Land, sein Zuhause, die Verbindung, die er zum Boden spürt, zu den im bereits recht kühlen September aufgehenden Winterkrokussen etwa, ist stark und mächtig. Das Geschehen des Romans beginnt mit einem Schlag mit der Spitzhacke in den Boden dieses Landes, seines Landes. Ein Baum wird gepflanzt, ohne seine Erlaubnis. Er sieht es vom Fenster seiner Wohnung aus. Jakob, der Mann seiner Geliebten Hanni, ist es, der diesen Baum pflanzen will und daran, an dieser Beobachtung, an diesem Baum, an den Verhältnissen Daniels zu seiner Umwelt hängt die ganze Geschichte, die Israel Hame'iri erzählt.

Genauer, Daniel erzählt, er spricht, seine Sicht auf die Dinge ist die, der wir uns zu fügen haben. Was wir erfahren: Ruthi ist verschwunden, eine Mitarbeiterin im Reservat, die Führungen macht und sich zugleich um Daniels Sohn Tomer kümmert, wenn er und seine Frau Orna keine Zeit haben. Ruthi ist die Geliebte Daniels. Auch das erfahren wir. Sie schlafen miteinander im Schlund, in der Huta, einer Höhle auf dem Gelände des Reservats. Ein gefährlicher Ort - der Boden ist glitschig, und wenn es regnet, fließt das Wasser dorthin und schwemmt alles mit sich. Die Leiche Chemis etwa, eines jungen Amerikaners, der ein Jahr zuvor in der Huta ums Leben gekommen ist. Es ist der Jahrestag dieses Todesfalls. Der Baum, den Jakob pflanzt, ist ein Gedenkbaum. Mrs. Goldmann, die Mutter Chemis, taucht an diesem Tag auf, Ruthi hat sie eingeladen, sie will die Huta sehen, den Ort, an dem ihr Sohn gestorben ist. Ruthi hat auch die Pflanzung der Kermeseiche veranlasst, bei der Daniel seinen Rivalen Jakob beobachtet, und nun ist sie verschwunden.

Nach und nach erschließen sich dem Leser in Israel Hameiris Roman die Beziehungen der Bewohner dieses Reservats, in dessen Nähe sich ein Kibbuz und ein Militärstützpunkt befinden. Die Topografie, die entworfen wird, ist keine imaginäre Landschaft, aber eine, die von den Affekten Daniels von Anbeginn nicht zu lösen ist. Die Huta, der Schlund kommt ein ums andere Mal ins Bild, ein beinahe verwunschener Ort der Finsternis. An ihn, diesen Ort, und zu dem, was an ihm geschehen ist, kehrt der Erzähler wie zwanghaft immer wieder zurück - in der Erinnerung, aber auch, ständig unterwegs im Reservat, im Laufe dieses einen Tages, auf den sich der Roman beschränkt. Unentscheidbar bleibt, wie egozentrisch Daniel ist, wie stark sich tatsächlich alle auf ihn beziehen, sein Wort, seine Verbote, seine Versprechungen. Alles, die Natur, die Bewohner, das Geschehen, wird nur sichtbar durch den starken Filter des Bewusstseins dieses Ich-Erzählers, der gar nicht verschwiegen scheint, ja höchst genau beobachtet, Detail um Detail, im großen aber mit wichtigen Informationen hinter dem Berg hält. Der mehr weiß, als er berichtet. Der homophob ist und autoritär, der liebevoll das Verhalten der Schlupfwespe und den Nacken seiner Geliebten beschreiben kann. Der ohne Skrupel mit allen Frauen schläft, die er zu fassen bekommt - und der immerzu mit seiner Mutter telefoniert.

Natürlich hängt an Daniel, der Zentralfigur, die Konstruktion des ganzen Romans. Und die ist Israel Hame'iri zutiefst geglückt. Der Verlag nennt das Ergebnis, etwas hilflos, einen Psycho-Thriller. Dessen Konventionen liegen freilich fern. Die Psyche des Helden ist der zentrale Schauplatz der Erzählung, aber stets nur in der indirekten Beleuchtung durch das Ich, das von sich und seiner Umwelt spricht. So erfahren auch die Konventionen des Krimis als Aufklärung eines Rätsels ihre Verschiebung an diesen Ort der Psyche. Die undurchsichtig bleibt. Es geht nicht, wie etwa bei Ruth Rendells psychologischen Kriminalromanen, um die Klärung von Motiven. So grob ist Hame'iris Werk an keiner Stelle gearbeitet. Es ist viel eher so: Das Rätsel des Kriminalfalls dringt in feinster sprachlicher Auflösung in jedes Detail der Beschreibung.

Keineswegs ist der Fall nur das Vehikel, vielmehr gehen das Rätsel des Verschwindens und die Affekte des Erzählers, die Topografie und die Erinnerung, das Sprechen und das Schweigen vielfache "Symbiosen" ein. Subjekt und Objekte treten nicht auseinander, sondern bleiben verbunden wie Daniel mit dem Boden, auf dem er steht, dessen Bewegungen er spürt. Der Roman läuft zu auf einen Moment der Vereinigung und der Trennung, beides zugleich, jenen Moment, der den Riss produziert, der die Erzählung hervorbringen wird. In diesem Riss der Symbiose siedelt der Roman. Es ist genau der Riss in der Welt, den das Verbrechen erzeugt. Hier wird er vergrößert ins beinahe Mythische einer prägnanten Landschaft und mikroskopisch verkleinert in die detaillierteste Beschreibung des Ichs, das spricht. Beides ist, darin liegt einer der großen Züge dieses Romans, dieselbe Bewegung. Ob zuletzt eine Heilung des Risses stattfinden wird, eine Vernarbung, eine Wiederherstellung der Symbiose: darüber wird man am Ende des Romans nachdenken müssen, das, wie könnte es anders sein, vieles offen lässt.

Eine der feineren Ironien des Ganzen, ein sehr bewusster Bezug auch aufs Kriminalgenre, ist es, dass die Ankunft des Ermittlers ein ums andere Mal angekündigt wird und sich doch bis übers Ende hinaus verzögert. In diesem Raum des Aufschubs, in gewissem Sinn also vor dem Beginn der Kriminalerzählung, spielt sich alles Entscheidende ab. Die Konventionen des Genres bleiben aufgeschoben, alles aber, was Kriminalliteratur ausmacht, findet sich aufgehoben in der Psyche Daniels, die der Schauplatz dieses Romans ist. "Symbiose" ist ein Meisterwerk der Kriminalliteratur und der Literatur, und damit eines der Bücher, die einem klar machen können, warum, im Ernstfall, eine Unterscheidung zwischen beidem sinnlos wird.


Israel Hame'iris: "Symbiose". Roman. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Dtv München 2003, 200 Seiten, Taschenbuch, 15 Euro