Mord und Ratschlag

Hass und Begehren

Die Krimikolumne. Von Ekkehard Knörer
07.02.2007. John Harveys Krimis bieten keinen Trost, nur Aufklärung, die nichts besser, aber manches verständlich macht. In "Schrei nicht so laut" ermittelt erstmal der Inspector im Ruhestand Frank Elder.
John Harvey ist wieder da. Natürlich hat kaum jemand gemerkt, dass er weg war. Von den zehn Romanen, die ihn berühmt gemacht haben - freilich nicht bei uns - liegen nur fünf in deutscher Übersetzung vor. Ihr Held ist der zum Helden so gar nicht taugende Polizist Charlie Resnick, der Ort der Handlung ist Nottingham. Harvey hat, wie sich das für einen ordentlichen Kriminalromanautor gehört, mit Pulp und Western-Geschichten angefangen, aber er schreibt auch Gedichte und Theaterstücke. Nicht zu unrecht wird er immer wieder als Vorgänger und Vorbild des auch in England viel erfolgreicheren Ian Rankin bezeichnet. Und gerade wurde bekannt gegeben, dass er in diesem Jahr den Cartier Diamond Dagger fürs Lebenswerk erhält, eine der größten Auszeichnungen im Krimi-Genre.

Das ist völlig gerecht, wenngleich das Lebenswerk längst nicht vollendet scheint. So hat John Harvey, kaum war er im Pensionsalter angekommen, einfach noch einmal neu angefangen. Er hat nämlich, nach zehn Romanen, seinen Protagonisten Charlie Resnick verabschiedet und eine neue Hauptfigur erfunden, mit dem so einfachen wie sprechenden Namen Frank Elder. "Flesh and Blood", unter dem ziemlich sinnlosen deutschen Titel "Schrei nicht so laut" bei uns erschienen, ist der erste von bisher drei Romanen um Elder, im Original 2004 veröffentlicht. Elder ist Anfang fünfzig, aber nach dreißig Jahren im Polizeidienst hatte er genug. Er ist geschieden, er hat sich ein Häuschen in Cornwall gekauft, weit weg von allem. Weit weg leider auch von seiner Tochter Katherine, mit der ihn ein weitgehend ungetrübtes Vater-Tochter-Verhältnis verbindet. Und dann lässt ihn sein alter Job doch nicht ganz los. Elder erfährt, dass Shane Macdonald, ein Vergewaltiger und Mörder nach vierzehn Jahren freikommt und wird dadurch an einen ungelösten Fall von einst erinnert. Ein Mädchen, Susan Blacklock, war verschwunden, ihre Leiche wurde nie gefunden. Elder hatte Macdonald und seinen Komplizen im Verdacht, konnte ihnen aber nichts nachweisen. Er hat der Mutter versprochen, die Täter zu finden, aber er hat das Versprechen nicht einlösen können. All das wird aufgerührt, als er von der Entlassung erfährt.

Kurz entschlossen und ohne so recht zu wissen, was er eigentlich tut, macht er sich auf an den Ort, an dem Susan damals zuletzt gesehen wurde. Und er gerät mitten hinein in einen neuen Fall, der den damaligen gleicht. Wieder verschwindet ein Mädchen. Shane Macdonald, inzwischen auf der Flucht, gerät in Verdacht. Die Frage, ob man einen wie ihn nicht für immer einsperren sollte, wird gestellt. Harvey ist es aber nicht um die abstrakte Diskussion solch heikler Probleme zu tun, sondern um die Darstellung der Zusammenhänge, in denen Menschen zu Unmenschen werden. Werden können, nicht werden müssen. Es gibt in "Schrei nicht so laut" keine Thesen zur deterministischen Umrechnung von Herkunft in Charakter, von Charakter in Untat. Es geht nur darum zu zeigen, wie das möglich wird, was geschieht. Darum, Milieus zu skizzieren, in denen Menschen die werden, die sie dann sind. Der Blick ist der eines sehr genauen Beobachters. Frank Elder ist eine zurückgenommene Figur, einer der draußen steht. Auch er ein beschädigter Charakter, aber es geht in diesem Roman nicht in erster Linie um ihn. Im Vergleich zu Charlie Resnick oder Ian Rankins John Rebus ist er eher farblos, aber diese Farblosigkeit ist eine Stärke des Romans. Als einer, der nicht zuviel Aufmerksamkeit auf sich zieht, wird er zum Medium eines genauen, sanft einfühlenden Blicks.

Mühelos verschiebt Harvey seinen Fokus, schneidet in Parallelmontagen Frank Elders Ermittlung und Macdonalds Flucht gegeneinander. Beide lernen Frauen kennen, die selbst verletzt sind, und beinahe scheint Liebe nur so möglich, als gegenseitiger Trost, aber auch als eine Form von Vertrauen, die in beiden Fällen mit tiefem Misstrauen durchsetzt bleibt. Es ist Harveys große Kunst, solche Mischverhältnisse und Unklarheiten zuzulassen. Die Figuren werden nicht zu Tode erklärt, der Erzähler schreibt uns nicht vor, welchen Reim wir uns auf sie zu machen hätten. In nie sehr langen Abschnitten, ohne jede Umständlichkeit wirft er Figuren aufs Blatt und sie sind vom ersten Moment an dreidimensional. Das gilt für die zentralen Charaktere, aber auch für die, die eher nebenbei auftreten. Es ist, als läge "Schrei nicht so laut" - wie Harveys Romanen überhaupt - ein Imperativ zugrunde, dass keiner, der hier auftritt, Klischee bleiben darf.

Und weil es um Milieus geht und sozial genau verortete Psychodynamiken, ist auch der Kriminalplot nicht Zweck, sondern einfach Grund und Boden des Romans. Die Morde, die geschehen, bringen Menschen als Opfer und Täter in Berührung und damit in Beziehungen, die sie sonst nicht hätten. Ein Jugendlicher aus elenden Verhältnissen, selbst Opfer von Vergewaltigungen, unterwirft sich einem, der stärker scheint, und er begehrt und hasst, vergewaltigt und tötet als Komplize des Stärkeren Mädchen aus der behüteten Mittelschicht. Der schrecklich fehlgeleitete Kampf um Selbstbehauptung ist das Ergebnis einer Vorgeschichte, die dennoch nicht mit Notwendigkeit zum Verbrechen führt. Nur kommt das Böse nicht aus dem Nichts. Es gibt Gründe, warum einer der wird, der er dann ist. Das führt "Schrei nicht so laut", ohne zu urteilen, vor. Wer sich von Kriminalliteratur nicht Tröstung erwartet und Vereinfachung komplizierter Verhältnisse, sondern Aufklärung, die nichts besser, nur manches verständlich macht; wer einen Blick auf die problematischen Lagen der Gesellschaft sucht, der ohne alles Moralisieren und Wegerklären von Widersprüchen auskommt; wer, kurzum, von der Kriminalliteratur etwas lernen will, ohne belehrt zu werden, über die Welt, in der wir leben - der ist bei John Harvey an der besten Adresse.

John Harvey: "Schrei nicht so laut". Roman. Aus dem Englischen von Sophie Kreutzfeldt. dtv, München 2007. 496 Seiten, 9,90 Euro