Mord und Ratschlag

Der Witz mit dem Maulwurf

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
18.10.2019. In Tawni O'Dells "Wenn Engel brennen" versucht Chief Dove Carnahan nicht nur den Mord an einem Mädchen aus schlechter Familie aufzuklären, sondern auch ein bisschen Sozialkompetenz ins abgehängte Pennsylvania zu bringen. Mick Herron lässt in seiner urkomischen Agentenreihe um den unflätigen Mistkerl Jackson Lamb britische Legenden auf Londoner Realitäten knallen.
Cover: Wenn Engel brennenErste Sätze sind eine große, oft beschworene Kunst. Trotzdem gelingen sie selten so gut wie in Tawni O'Dells Roman "Wenn Engel brennen": "Als ich Rudy Mayfield das letzte Mal so nah war, hatte er sich im Truck seines Dads zu mir rübergelehnt, um meine erst kürzlich gereiften Brüste zu begrapschen." Hier weiß man sofort, woran man ist. Der Ton ist unerschrocken, unsentimental, unfein. Diese Ich-Erzählerin steht nicht über den Dingen, sondern mittendrin. Sie ist die Polizeichefin des Countys, Rudy ihr Untergebener, und die beiden haben gerade die Leiche eines siebzehnjährigen Mädchens in einem schwelenden Kohleflöz entdeckt. Der süßlich-rauchige Gestank von Schwefel und verkohltem Fleisch hängt in der Luft, die Erinnerung an Teenager-Erlebnisse ist denkbar unpassend, aber in einer Kleinstadt unumgänglich. Man kennt sich.

Diese Nähe, diese Unmittelbarkeit ist das Pfund, mit dem die amerikanische Autorin Tawni O'Dell wuchert, wenn sie ihre Heldin Dove Carnahan in Buchanan ermitteln lässt. Der Ort liegt in Pennsylvania, in einer verarmten Bergbauregion, nicht weit von der Geisterstadt, die im Roman Campbell's Run heißt, aber an das reale Centralia erinnern soll. Zehn Jahre lang schwelte dort ein Minenfeuer unter der Erde, bis es einen gewaltigen Krater aufriss und eine Schwefelwolke freisetzte. In hundert Meter Tiefe brennen die Feuer immer noch, an den heißesten Stellen bilden sich immer wieder Spalte.

In einem solchen Feuerspalt finden die Ermittler also die siebzehnjährige Camio Truly, totgeschlagen und halb verkohlt. Sie ist Tochter einer berüchtigten Familie, die seit Generationen in ihrem Elend stecken bleibt und die O'Dell in einer wohlausgewogenen Mischung aus Abscheu und Mitgefühl, aber vor allem auf Augenhöhe zeichnet: Dem Alkohol verfallen, kettenrauchend, übergewichtig, zuckerkrank, süchtig nach Crack und Downton Abbey. Die Matriarchin und Großmutter Miranda Truly ist ein Ausbund an Gehässigkeit und Niedertracht, der Vater ein Schläger, die Mutter geradezu gespenstisch apathisch. Der Onkel, der seiner Familie mit dem Dienst am Vaterland entkommen wollte, landete mit seinen Traumata in der Psychiatrie. Die kleine Camio, die gut in der Schule war, Psychologie studieren wollte und einen richtig netten Freund hatte, wurde ermordet.

Chief Carnahan weiß, was ein Leben in Armut bedeutet: "Wir sind, was wir kennen." Die meisten beginnen, alle zu hassen, die es besser haben, nur wenige bringen die Kraft und Ausdauer auf, zu eben diesen gehören zu wollen. Sie selbst kommt auch nicht gerade aus der besten Familie, und sie musste ein Verbrechen begehen, um ihr zu entkommen. Nachdem ihre Mutter, die den Ruf der Stadtschlampe genoss, totgeschlagen worden war, brachten Dove und ihre jüngere Schwester Neely einen Mann dafür ins Gefängnis, von dem sie wussten, dass er unschuldig war. Diese Untat nagt an der Polizeichefin, zugegeben jedoch nicht übermäßig. Immerhin zögert sie, ihn immer noch Lucky zu nennen. Und während ihre Schwester sich darauf konzentriert, Hunde abzurichten, legt Dove ihren Ehrgeiz darein, den Einwohnern von Buchanan "vernünftige Umgangsformen und Sozialkompetenz" beizubringen. Und wenn ihr Verhalten "zu destruktiv wird oder massiv stört", dann verpasst sie ihnen eine Auszeit.

Dove Carnahan ist einen Weg der Emanzipation gegangen, der nicht unbedingt den Vorstellungen einer Ostküsten-Akademikerin entsprechen mag, sondern seinen Stolz daraus zieht, in heiklen Situationen gekämpft zu haben. Aber klar, mit dem Detective von der State Police pflegt sie seit Jahren ein Verhältnis und nimmt es ihm übel, wenn er Momente der Schwäche nicht ausnutzt.

"Wenn Engel weinen" ist nach mehreren Romanen Tawni O'Dells erster Krimi. Man kann nur hoffen, dass sie dem Genre treu bleibt. Chief Carnahan ist eine großartige unverzagte Heldin aus einer kaputten Familie, mit Sinn für Humor und einem Gespür für die Unzulänglichkeiten der Menschen, aus dem sie keinen Vorteil zieht, sondern, im Gegenteil, ihre große Stärke.

Tawni O'Dell: Wenn Engel brennen. Roman. Aus dem Amerikanischen von Daisy Dunkel. Ariadne im Argument Verlag, Hamburg 2019, 352 Seiten, 22 Euro. (Bestellen)


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Cover: Dead LionsMit keiner Reihe kann man sich im Moment besser unterhalten als mit Mick Herrons Agentensaga um das alte Schlachtross Jackson Lamb. Ihren Witz zieht die Serie aus einem bewundernswerten Sprachwitz, aber auch aus einer an Mutwillen grenzenden Entschlossenheit, britische Helden auf Londoner Realitäten knallen zu lassen.

Jackson Lamb ist ein alter Haudegen, der aus naheliegenden Gründen in der Hierarchie in Ungnade gefallen ist. Er ist ungeheuer ausgekocht, aber auch ein unflätiger Mistkerl, auf den man nur im Ernstfall zählen kann. Nun residiert er im Slough House, eine Außenstelle des Geheimdienstes, die passenderweise nach Slow Horse klingt, denn hier sollen die lahmen Gäule vergammeln: die Trottel, die Alkoholikerinnen, die Soziopathen, die Depressiven. So viel vorweg: Keiner sitzt hier zu Unrecht, und niemand wird über sich hinauswachsen. Das Thema fünfte Chance ist erledigt. In der Zentrale, die in Ian-Fleming-Manier "Regent's Park" genannt wird, sind die Erbsenzähler und Karrieristen froh über jeden, den sie los sind. Es gilt, den eigenen Posten zu verteidigen, seit die Rivalen vom GCHQ gezeigt haben, dass man mit ein bisschen Software eigentlich keine Mitarbeiter mehr braucht, um die halbe Welt zu überwachen.

Im zweiten Band der Reihe, "Dead Lions", wird ein ehemaliger Agent tot im Bus nach Oxford aufgefunden: Wer sich im Berliner Agentenzoo Anfang der neunziger Jahre behauptet hat, weiß Lamb, der übersteht auch den alltäglichen Pendlerhorror, das Chaos in Paddington und den Schienenersatzverkehr Richtung Worcester. Wahrscheinlich wurde der arme Dickie Bow also mit einem nicht nachweisbaren Gift getötet, auf seinem Handy findet sich noch eine nicht abgeschickte SMS mit nur einem Wort: Cicadas. Die Zikaden waren ein sowjetisches Agentennetzwerk, geführt vom sagenumwobenen Alexander Popov.

Zugleich sollen Lambs Leute auf den russischen Oligarchen Arkadi Paschkin ("Wie der Dichter? So ähnlich.") aufpassen, der sich den Briten als Informant andient. Es ist eine heikle Aufgabe, aber wenn es schief geht, geben die lahmen Gäule die besten Sündenböcke ab. Sie müssen ein Treffen mit Paschkin in einem der glamourösen Wolkenkratzer vorbereiten, im 77. Stock von The Needle, wo neben einem Luxushotel noch Diamantenhändler, chinesische Börsenmakler, Risikomanager und die Botschaften von Steuerparadiesen ihren Sitz haben.

Natürlich gibt es noch den jugendlichen Helden River Cartwright, der sich hin und wieder reinlegen lässt, aber eigentlich ein sympathischer Kerl ist, durchaus begabt und der Enkel des ehemaligen Geheimdienstchefs, den alle ehrfürchtig Old Bastard nennen. Der O.B. erzählt gern vom Krieg, in diesem Fall von der sowjetischen Geheimstadt ZT/53235, die in den vierziger Jahren als Plutonium-Produktionsanlage diente, aber mitsamt ihren dreißigtausend Einwohnern dem Erdboden gleichgemacht wurde, als das Gerücht aufkam, die Briten hätten einen Maulwurf eingeschmuggelt. "'Der Witz daran war natürlich, dass es keinen Maulwurf gab.' Toller Witz. Tolle Pointe."

Die Dinge laufen bald gehörig aus dem Ruder. Mick Herron entfaltet einen irrsinnigen Plot, der mit größter Lust Spionage-Legenden mit aktuellen Affären verschneidet, Schläfer-Fantasien mit handfesten Raubzügen, das Drama sowjetischer Sperrgebiete mit dem Elend abgeschotteter Bürokratien. Es geht in diesem zweiten Roman der Serie weniger Slapstickhaft zu als im ersten, die Komik wird ernsthafter abgestützt. Am Ende peitscht Herron aber auch hier die Handlung zu einem grandiosen Finale, das die Hochs und Tiefs der britischen Gegenwart so aufeinander krachen lässt wie eine britische Parlamentsdebatte.

Am lustigsten sind aber die Passagen, in denen sich die erhabenen Legenden mit profanen englischen Gehässigkeiten beißen - wenn echte Cockney-Londoner in die Cotswolds müssen ("Ich hoffe, Sie sind gegen alles geimpft.") oder wenn sich die Agenten ihrer Majestät an den Angestellten der Bahn die Zähne ausbeißen. Statt kostspieliger Folterwiderstandskurse, dämmert es ihnen dann, sollte Regent's Park seine Leute lieber beim Bahnhofspersonal in die Schule schicken: "Egal, was für eine Ausbildung diese Typen gehabt hatten, sie hatte jeden einzelnen von ihnen perfekt dazu befähigt, keinerlei Informationen preiszugeben." Es liest sich fast wie eine Liebeserklärung an maulfaule Berliner.

Mick Herron: Dead Lions. Ein Fall für Jackson Lamb. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2019, 478 Seiten, 24 Euro (Bestellen).