Mord und Ratschlag

Die Rettung des skandinavischen Krimis

Die Krimikolumne. Von Michael Schweizer
27.08.2003. Die Krimikolumne. Heute: Die Schwedin Liza Marklund kommt den Lesern nicht didaktisch, sondern beherrscht die Kunst des Weglassens. So lernt man viel über ihr Land. Von Michael Schweizer.
In ihrem Roman "Paradies" nimmt es eine junge Redakteurin mit der postjugoslawischen Mafia und ihren Ressortleitern auf.

Als Per Wahlöö und seine Frau Maj Sjöwall mit "Die Tote im Götakanal" (1965) begannen, Verbrechen aus den Fehlern der Gesellschaft zu erklären, war das für deutsche Krimileser neu. Die beiden konnten schreiben - Wahlöö hatte es schon vorher und alleine gekonnt, zum Beispiel in "Foul Play" (1959), seiner düsteren, zum Schreien komischen Studie eines aufstrebenden Provinzfußballklubs-, sie waren undogmatisch und hatten Humor. Es ist kein Zufall, dass ihre zehn Krimis um den Stockholmer Kommissar Martin Beck und sein Team gerade 1968 ff. erfolgreich waren. Aber Sjöwall/Wahlöö gingen in den damaligen Moden nicht auf, wurden keine Ideologen, sondern blieben Beobachter und, soweit in den Übersetzungen erkennbar, sprachvergnügt aus Wahrheitsliebe.

Unter ihren Epigonen verkam der - als solcher wertvolle - soziologische Blick zum Automatismus. Seither entstehen skandinavische Krimis aus dem Geist der Beratungsstelle. Böse Menschen wohnen in Villen, die anderen wären gut, wenn der Arbeitsmarkt, der Wohnungsmarkt, die Familienstruktur sie ließen (Matti Y. Joensuu, "Blinder Neid"). Die Kommissarin bespricht mit den Verdächtigen von Frau zu Frau den Fortgang der Ermittlungen (Leena Lehtolainen, "Weiß wie die Unschuld"). Wenn der Staat nicht alles richtet, dann braucht er sich nicht zu wundern, dass die Menschen dem astrologischen oder chaostheoretischen Obskurantismus (Pernille Rygg, "Der Schmetterlingseffekt") erliegen oder Selbstjustiz üben (Henning Mankell).

Diese Erwartungen an eine starke Obrigkeit verbinden sich mit einer sozialdemokratischen Schreibweise: Dem Leser wird nicht zugetraut, dass er etwas kapiert. In den Romanen von Helene Tursten geschieht alles dreimal: erst materiell, dann denkt Kriminalinspektorin Irene Huss darüber nach, dann wird es in der Dienstbesprechung durchgekaut. Der bekannteste Schwede, der das auch so macht, ist Henning Mankell.

Es gibt aber ein paar weiße Raben. Einer davon ist Liza Marklund. Nicht, dass das eine etwas mit dem anderen zu tun hätte, aber die 1962 geborene Schwedin ist Journalistin und kann schreiben. Wenn sie in "Paradies", ihrem zweiten Roman, einen Witz macht, erklärt sie ihn nicht. Ruft die Journalistin Annika Bengtzon ihren polizeilichen Informanten an, dann muss man nicht erst lesen, wie sie sich hinsetzt, Kaffee eingießt und an den Informanten denkt, sondern man kriegt übergangslos den ersten Dialogsatz. Marklund hat einen Blick für sprechende Details und auch für nicht sprechende, die oft schwerer zu sehen sind, weil sie nur sich selbst bedeuten. Und sie weiß, dass Schönheit bizarr sein kann: "Der Sattelschlepper glitt im Goldschein" davon, und wenn das Gold der Morgensonne später wiederkommt, geht es immer um etwas besonders Schlimmes. Das Poetische ist in diesem Buch kein illustratives Stimmungsgeschwätz, sondern eine brüchig-innige Einheit aus Widersprüchlichem.

Weil "Paradies" ein guter Roman ist, enthält er mehrere Romane. Der Krimi im engeren Sinn handelt von der postjugoslawischen Mafia in Schweden, von Schmuggel, Mord und dem internationalen Söldnergeschäft, von Überlebenden des Bosnienkriegs, die nie mehr heimisch werden in der Welt. Manche Flüchtlinge sind Klienten der Stiftung "Paradies", die behauptet, bedrohte Personen aus allen Computerdateien löschen und ihnen eine neue Existenz geben zu können. Annika Bengtzon recherchiert das alles mehr oder weniger heimlich. Seit sie nämlich vor zwei Jahren in Notwehr ihren Freund getötet hat, lässt das Stockholmer Abendblatt sie nicht mehr als Reporterin arbeiten, sondern als Textredakteurin im Hintergrund. Sie möchte aber in ihren früheren Job zurück. Der Mensch, der sie fürs Leben gestärkt hat, ist ihre geliebte Großmutter - "Ich kenne niemanden, der sich mit seiner Mutter versteht", sagt Annikas Freundin Anne Snapphane. Annika lebt alleine, lernt dann einen verheiraten Mann kennen, der gerne ein Kind hätte. Das alles ist erzählenswert, weil es gut erzählt ist.

Viele Leser des Perlentauchers müssen an Redaktionskonferenzen teilnehmen. Sie brauchen Trost, und da der darin liegen kann, dass es anderen auch nicht besser geht, mögen sie es als lindernd empfinden, wie Marklund die Konferenzen des Abendblatts beschreibt. Dort geht es zu wie überall: die Schwätzer, die Wichtigtuer, die Weltordner, die Hahnenkämpfer, die Hahnendiener, das Informationsbunkern, die taktischen Manöver, die man erst versteht, wenn man zwei Jahre dabei ist. "Es ist leichter, Sachen ins Blatt zu bekommen, wenn die Herren in den höheren Etagen glauben, dass die Artikel ihre eigenen Ideen gewesen sind."

Aus Sicht der Autorin handelt "Paradies" von einem gefährdeten Land. Für deutsche Leser hält es einige Sonderschrecken bereit: Offenbar müssten wir froh sein, wenn wir noch auf dem schwedischen Stand der Verwahrlosung wären. "Ich unterliege der Schweigepflicht, was meine Informanten angeht", sagt Annika. "Keine Behörde darf Nachforschungen dazu anstellen, wer Sie sind, das würde gegen die Verfassung verstoßen."


Liza Marklund: "Paradies". Roman. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2003, 507 Seiten, Taschenbuch, 9,90 Euro