9punkt - Die Debattenrundschau

Sonst ist die Debatte so hilflos

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.11.2018. Nach dem Mord an der Aktivistin Kateryna Gandsjuk äußern Bürgerrechtsgruppen scharfe Kritik an den ukrainischen Behörden, berichtet Radio Free Europe. Tim Berners-Lee lanciert eine Charta für eine freies Internet, berichtet der Business Insider. Auf der Website von Rowohlt erklärt die Kolumnistin Margarete Stokowski, warum sie in der Buchhandlung Lehmkuhl in München nicht lesen wollte - und der Buchhändler Michael Lemling erklärt in der SZ, warum er es für richtig hält, auch Bücher von Rechtsintellektuellen anzubieten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.11.2018 finden Sie hier

Europa

Nach dem Tod der ukrainischen Aktivistin Kateryna Gandsjuk, die drei Monate nach einem Schwefelsäureattentat und vielen Operationen ihren Verletzungen erlag (unser Resümee), haben Bürgerrechtsorganisationen in der Ukraine einen zornigen offenen Brief lanciert, schreibt Christopher Miller auf der Website von Radio Free Europe: "75 Menschenrechtsgruppen und Bürgervereine schreiben, dass der Angriff gegen Gandsjuk all jene einschüchtern soll, die 'gegen die seit Jahrzehnten verwurzelte Korruption und das organisierte Verbrechen rebellieren'. Die Gruppen fordern 'die Entlassung der der Polizeiführung von Kherson', die 'von Anfang an die Untersuchung des Attentats hintertrieben hat'."
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Gesellschaft

Die Spiegel-Kolumnistin Margarete Stokowski hat eine Lesung in der Münchner Buchhandlung Lehmkuhl abgesagt, weil es dort auch ein Regal mit "rechter" Literatur gibt. Geschäftsführer Michael Lemling hat die Absage auf der Webseite von Lehmkuhl kritisiert: "Wer sich gegen Rechts engagiert, sollte wissen, was Rechte denken und lesen, wie sie argumentieren.  ... Es ist leider so: Bessere Einführungen in rechtes, identitäres Denken als die Bücher der Genannten gibt es nicht. Das ist Aufklärung im O-Ton. Gefährden wir damit unser Publikum? Müssten wir nicht jeden, der mit Kubitschek an die Kasse kommt, fragen, wes Geistes Kind er ist? Nun: Wir glauben an die intellektuelle Spannkraft unserer Kunden und sind überzeugt, dass das Lesen rechter Publizistik nicht wehrlos macht. Im Gegenteil!"

Margarete Stokowski antwortet ihm auf der Webseite von Rowohlt: Zwar teile sie seine "Sichtweise, dass man die Positionen von Rechten kennen sollte, um gegen sie zu argumentieren. Wo wir wohl unterschiedlicher Auffassung sind, ist die Frage, ob man deren Bücher dann auch kaufen sollte beziehungsweise zum Kauf anbietet. Für mich gehört es sehr zentral zum Engagement gegen Rechts, dass man die Positionen von Rechten und Rechtsextremen nicht normalisiert. Mit 'normalisieren' meine ich, bestimmte menschenfeindliche Aussagen als etwas hinzustellen, was eben zum vielfältigen Spektrum innerhalb einer Demokratie gehört und was man 'aushalten' müsse, auch wenn dabei zum Beispiel gegen Minderheiten gehetzt wird. (…) Man muss diese Texte dann nicht unbedingt kaufen, dafür gibt es Bibliotheken, Archive und so weiter."

Im Interview mit der SZ meint Lemling dazu heute: "Das Argument kenne ich schon von vor dreißig Jahren. Aber erstens sind wir bei Lehmkuhl nicht in der Position, gesellschaftliche Gruppen auf- oder abzuwerten. Und zweitens glaube ich, dass wir dringend wissen müssen, wie diese Leute denken und argumentieren, sonst ist die Debatte so hilflos, wie wir es gerade erleben. Das ist mir auch deshalb so wichtig, weil die Rechten heute nicht mehr so dumpf sind vor dreißig Jahren. Götz Kubitschek und seine Autoren fordern einen richtig heraus. Die haben Gramsci, Carl Schmitt und Ernst Jünger gelesen, sie diskutieren Marx von rechts und schreiben Artikel auf einem Niveau, bei dem man erst mal ins Schleudern kommt. Das Wort vom Rechtsintellektuellen ist da schon richtig. Die haben auch eine Lesebegeisterung, die manchen Linken heute abgeht. So kommen wir nicht weiter. Deshalb finde ich, dass wir sie genau studieren sollten."

Im Interview mit dem Tagesspiegel sucht Juli Zeh das Unbehagen zu erklären, die Gereiztheit, die heute viele Menschen an den Tag legen. Zum Umgang mit den Rechten sagt sie: "Für mich ist die entscheidende Frage nicht das Reden mit denen, mein Problem ist das Reden über die. Seit spätestens Anfang 2016 haben wir einen überdominierten Diskurs. Zunehmend wird das zum Metathema, also was darf man sagen, mit wem darf man sprechen, wie viel darf man reden. Das halte ich für grundfalsch. Ist natürlich schwer, es sein zu lassen. Dafür müsste man ja die Medien auf Knopfdruck abschalten."

Hannah Bethke versucht sich für die FAZ ein Bild von der Stimmung in der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen nach der Entlassung Hubertus Knabes zu machen (dessen Entlassung die Kündigung seines Stellvertreters wegen sexueller Belästigung vorausging). Aber niemand will reden, nicht einmal die Pressestelle: "Versuche, mit den Betroffenen zu sprechen, blieben erfolglos. Und Kulturstaatsministerin Grütters erklärte, manche 'hässlichen Einblicke' in die Vorfälle habe sie bewusst nicht benannt. Aber genau hier, im Beschweigen dessen, was konkret passiert ist, was genau von wem gesagt und getan wurde, liegt der Fehler."

Comedian Jan Böhmermann hat sich in einem Podcast gegen den Vorwurf verwahrt, er habe seinen Kollegen Oliver Polak in einen antisemitischen Sketch verwickelt, berichtet Stefan Winterbauer bei Meedia, der Böhmermann zitiert: "Alle haben ihre Rollen freiwillig selbst gespielt. Es wurde alles vor Ort gemeinsam geprobt und aufgeführt. Alle haben zugestimmt, dass es auf DVD veröffentlicht wird."
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Geschichte

Die taz bringt heute eine weiß-blaue Spezialausgabe zu Bayern. Anlass sind die neue Regierung, aber auch der Jahrestag der Räterevolution und die Gründung der Republik unter dem "verkannten" Kurt Eisner, an den Julian Weber sehr schön erinnert: "Spät nachts am 7. November dringt noch eine Gruppe mit Eisner in den Landtag ein, und dieser ernennt sich dort zum ersten bayerischen Ministerpräsidenten. Spontan bildet sich auch ein Arbeiter- und Soldatenrat (RAR), der bis Ende April 1919 die treibende Kraft der bayerischen Räterevolution bleiben soll. Die wichtigsten Beschlüsse von Eisner und den Räten: Einführung des Frauenwahlrechts, Festlegung des achtstündigen Arbeitstages, Verabschiedung eines Betriebsrätegesetzes, das die Mitbestimmung in den Betrieben regelt, Einführung einer gesetzlichen Kündigungsfrist, Ende des Kriegszensurrechts, Abschaffung der Prügelstrafe in der Schule, Beendigung des Zölibats für Lehrerinnen, Säkularisierung der Lehrpläne, Einrichtung eines Ministeriums für soziale Fürsorge..."
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Urheberrecht

Nachtragen müssen wir den Verweis auf den Artikel des Juristen Thomas Hartmann bei Netzpolitik, der bereits Ende letzter Woche erschienen ist. Er nimmt Bezug auf den Prozess beim BGH zwischen dem Reiss-Engelhorn-Museum aus Mannheim, das Rechte auf die Abbildungen gemeinfreier Werke geltend macht und die Zirkulation von Abbildungen uralter Kunstwerke erheblich einschränken könnte, und der Wikipedia. Hartmann fürchtet, dass sich "der Leistungsschutz jetzt zum kaum überwindbaren Hauptproblem bei der Digitalisierung gemeinfreier Werke kristallisieren könnte." Aber schon am Hausrecht, mit dem Fotografieren verboten werden kann, könnte die Wikipedia scheitern: "Für diesen Fall ist zu befürchten, dass in erheblichem Umfang Abbildungen aus der Wikipedia verschwinden werden. Rechtlich betroffen wäre jedoch nicht nur Wikimedia, sondern auch viele andere Projekte, Initiativen und Einrichtungen aus Wissenschaft und Kultur, die entschieden für einen Paradigmenwechsel hin zu ungehindertem Zugang und unbeschränkten Nachnutzungsmöglichkeiten eintreten." In Urheberrechtsfragen sind es in Deutschland oft die Gerichte, die Freiheiten einschränken. In diesem Fall ist das Urteil am 20. Dezember vorgesehen.
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Internet

Tim Berners-Lee, Erfinder des World Wide Web, versucht eine Art Charta des freien Internets durchzusetzen und hat dafür unter anderem Mark Zuckerberg und einige Politiker getroffen, berichtet Shona Ghosh im Business Insider: "Zu den von Berners-Lee vorgeschlagenen Prinzipien gehören: Das Internet frei und für jedermann zugänglich machen, die Daten und den Datenschutz der Menschen respektieren und Technologien entwickeln, die 'das Beste der Menschheit unterstützen'. Weitere Grundsätze für die Regierung und den Einzelnen sind die Freiheit und Zugänglichkeit des Internets für alle und die Achtung des Grundrechts der Menschen auf Privatsphäre. Neben Facebook und Google hat die World Wide Web Foundation bisher die französische Regierung ... gewonnen." Im Guardian berichtet Ian Sample.

(Via turi2) Bei Youtube stehen im Moment einige Videos von Influencern ganz oben in den Trends, die dramatisch vor dem Ende des Videodienstes warnen - Hintergrund ist die EU-Urheberrechtsreform mit den geplanten Uploadfiltern. Die Influencer übertreiben ein bisschen, meint Sebastian Meineck im Motherboard-Blog von Vice, der nebenbei einen nützliche Einblick in diese Szene gibt: "Natürlich ist es gut, kritisch zu diskutieren, ob die EU ihre Maßnahmen zum Schutz des Urheberrechts sinnvoll umsetzen wird. Aber Horror-Szenarien vom Ende YouTubes stehen einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Problem doch eher im Weg: der schwierigen Balance aus Copyright, Netzkultur und Meinungsfreiheit."
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