9punkt - Die Debattenrundschau

Nicht in meinem Namen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.10.2016. Statt Menschenrechten vertritt die Bundesregierung in Afrika jetzt biometrische Lesegeräte, klagt die taz. Wenn Ceta an den Wallonen scheitert, können sich die flämischen Nationalisten das selbst zuschreiben, meint Politico. In der Basler Zeitung nimmt Nick Cohen den Narzissmus der Labour-Wähler aufs Korn. Die Welt erklärt Bildungsministerin Wanka, was smart learning ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.10.2016 finden Sie hier

Europa

Bundeskanzlerin Angela Merkel ist vor allem durch Afrika gereist, um sicherzustellen, dass möglichst wenig Flüchtlinge nach Europa gelangen. Dabei paktiert die deutsche Regierung sogar mit Diktatoren wie Sudans Präsident Omar al-Baschir, gegen den die UNO einen Haftbefehl wegen Völkermords ausgeschrieben hat, ärgert sich Simone Schlindwein in der taz. Neues Grenzmanagement ist gefragt: "Anstelle von zusammengenknoteten Seilen trifft man heute schon mitten Afrika immer öfter auf Grenzstationen mit Fingerabdruckscannern und biometischen Lesegeräten. Tausende Kilometer befestigte Grenzzäune werden durch die Wüsten gezogen und mit Überwachungskameras versehen. Mitunter steht mitten im Nirgendwo mehr computergestütztes Hightechgerät herum als in den Universitäten in den Hauptstädten. Jedem Bewohner Afrikas, immerhin 1,2 Milliarden Menschen, wird derzeit eine biometrische ID-Karte gedruckt, mitunter in der Bundesdruckerei in Berlin."

Scheitert das in sieben Jahren von der EU und Kanada verhandelte Freihandelsabkommen Ceta an den belgischen Wallonen? Wenn ja, haben die Flamen das kräftig mitverursacht, meint Laurens Cerulus auf Politico. Die flämischen Nationalisten haben jahrzehntelang eine größere Autonomie der Provinzen gefordert und die Abschaffung des finanziellen Transfers nach Wallonien. Jetzt werden sie von ihren eigenen Argumenten geschlagen: "Obwohl diese Zwickmühle frustierend ist für die Regierung, könnte sie theoretisch den flämischen Nationalisten auf Dauer helfen. Ihre Auffassung, dass Flamen und Wallonen getrennt besser dran wären, scheint sich wieder zu bestätigen. Die flämische Bewegung hat sich jahrzehntelang für mehr Autonomie eingesetzt. Ihre Partei, die N-VA, stieg in den letzten zehn Jahren zur Macht auf und setzte sich immer wieder gegen den ökonomischen Transfer nach Wallonien ein."

Im Interview mit der Basler Zeitung spricht der britische Journalist Nick Cohen über Labour, den Brexit und Jeremy Corbyn, dessen Bewegung er für alles mögliche hält, nur nicht für links. Warum unterstützen ihn seine Anhänger, obwohl er keine Chancen hat, jemals Premierminister zu werden? "Viele Leute wählen sehr narzisstisch. Sie wollen keine Kompromisse eingehen. So wie sie biologisches, glutenfreies und veganes Essen wollen, möchten sie auch ihre Politik haben. Sie wollen repräsentiert werden und sich gut dabei fühlen. Aber in der Politik geht es um Kompromisse: Wenn Sie nur die Hälfte von dem bekommen, was Sie wollen, können Sie sehr zufrieden sein. Es gibt vielleicht keinen moderneren Spruch als 'nicht in meinem Namen'. Aber es geht gar nicht um dich!, möchte man diesen Leuten zurufen."

Der türkische Journalist Can Dündar hat auf der Buchmesse in einer Journalistenrunde scharf die türkische Regierung kritisiert und das Stillhalten der deutschen Regierung, erzählt Claus-Jürgen Göpfert, der für die FR dabei war: "Dündar umreißt im Gespräch die Situation klar und ruhig. 'Wir verlieren ein Land', sagt er. 'Die moderne Türkei' nämlich, 'das einzige säkulare Land in der islamischen Welt.' In dem es eine 'Gleichberechtigung von Mann und Frau' gegeben habe. Statt dessen bereite sich eine 'islamische Diktatur' vor: 'Sie ist ziemlich nahe.' Der Autor kritisiert die Bundesregierung. Das Abkommen, demzufolge die Türkei der Europäischen Union die Flüchtlinge vom Leib hält, sei 'ein schmutziger Deal'. ... Der türkische Autor gibt auch der Europäischen Union Schuld an der Entwicklung in seinem Heimatland. 'Wir warten seit mehr als 50 Jahren auf einen Beitritt zur EU.' Aber Europa habe die Türkei stets hingehalten. 'Das ist die größte Enttäuschung der türkischen Geschichte.'"

Der 1975 aus Ungarn in die Bundesrepublik geflohene Leslie Mandoki hat einen Film gedreht über den ungarischen Volksaufstand gegen die sowjetische Besatzung 1956 (Samstag, 21.55 Uhr, Kabel eins). Im Interview mit der taz erklärt der in Bayern lebende Filmemacher, warum er heute der CSU nahe steht und Viktor Orban für einen Glücksfall hält: "Als ehemaliger Asylant geht es mir um Integration. München ist ein ähnlicher Schmelztiegel wie Budapest. München hat 28 Prozent Ausländeranteil, und trotzdem keine Integrationsdefizite. ... Viktor Orbán hat ein Land, das vor sechs Jahren seine Rentner, seine Beamten nicht bezahlen konnte, dahin gebracht, dass die Jugendarbeitslosigkeit heute eine der niedrigsten in Europa ist. Dass Ungarn seine Schulden zurückzahlen kann und heute mit die höchsten Wachstumsraten in der EU aufweist. Das ist eine Errungenschaft."
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Ideen

Es genügt nicht, Flüchtlinge willkommen zu heißen, man muss auch ihr Anderssein, ihre Fremdheit aushalten, meint im Interview mit der taz die Psychoanalytikerin Monika Huff-Müller: "Ambivalenz kann als Fähigkeit beschrieben werden, das bewusste Wahrnehmen von Konflikten zu tolerieren und auszuhalten, mich selbst und den anderen in seinen guten und schlechten Eigenschaften wahrzunehmen. Es gilt auszuhalten, dass meine Sicht der Welt nicht geteilt wird, und sie trotzdem nicht aufzugeben. Ambivalenz impliziert, dass das Subjekt sich der miteinander in Konflikt liegenden aggressiven, rivalisierenden, selbstbehauptenden und abhängigen Anteile seiner selbst und des anderen bewusst wird. Motive sollen nicht abgespalten, projiziert, verleugnet oder verdrängt werden."
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Stichwörter: Psychoanalyse

Gesellschaft

Kinder sollen den Umgang mit digitalen Medien in der Schule lernen? Süß, findet Birgit Kelle in der Welt. "'Bedienungsanleitungen sind nur was für Frauen', sagt mir heute Sohn drei, als ich anmahnte, das neue digitale Gerät doch sorgfältig in Betrieb zu nehmen. Er ist elf. Selbst die Achtjährige bedient blind das Android-Betriebssystem, egal auf welchem Gerät, ohne dass es ihr jemals irgendjemand erklärt hat. Smart Learning funktioniert ohne Anleitung. Das ist ja das Innovative. Nebenwirkungen inklusive."
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