9punkt - Die Debattenrundschau

Die Liebe zur kollektiven Zensur

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.08.2020. Bei der Cancel-Culture geht es nie nur um den Einzelnen, schreibt Yascha Mounk in der Zeit mit Blick auf die Debatten um Dieter Nuhr und Lisa Eckhardt. War auch die Debatte um Achille Mbembe ein Phänomen der Cancel Culture? Nein, ruft Ruhrbaron Stefan Laurin: Mbembe selbst und BDS repräsentieren sie. Nochmal in der Zeit will Andreas Reckwitz die alte und die neue Mittelklasse nicht gegeneinander ausspielen. Und die NZZ fragt, wie man schwierige Streitgespräche - etwa zum Thema Gender - überhaupt noch meisterInnen kann.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.08.2020 finden Sie hier

Ideen

Die "Cancel Culture" ist nicht nur ein Schlagwort, sondern eine Realität. In den USA kann sie dazu führen, dass "Falschmeinende" vom einen Tag auf den anderen gefeuert werden. Yascha Mounk hat gegen die "Cancel Culture" ein eigenes Magazin namens Persuasion gegründet (unsere Resümees). In der Zeit nimmt Mounk zu den Debatten um Dieter Nuhr und Lisa Eckhart Stellung. Dass die Kritik an ihren Ausladungen am Ende gefruchtet hat, sollte die deutsche Öffentlichkeit nicht beruhigen, so Mounk: "Denn wie ich in den USA erlebt habe, kann sich die Liebe zur kollektiven Zensur schnell ausbreiten. Als die ersten Anzeichen vor fünf Jahren auf dem Campus auftraten, taten viele Journalisten und Wissenschaftler das noch als Randphänomen ab. Das war ein Fehler: Dieselben Tabus, die sich vor einigen Jahren in kleinen 'progressiven' Colleges in Vermont oder Maine herauskristallisierten, greifen mittlerweile gesellschaftlich breit um sich. Deshalb ist es umso wichtiger, dass deutsche Intellektuelle und Entscheidungsträger nicht den gleichen Fehler wie ihre amerikanischen Kollegen begehen. Bei der Cancel-Culture geht es nämlich nie nur um den Einzelnen. Wenn sich das Prinzip, dass ein paar Aktivisten einen Künstler oder Schriftsteller für unakzeptabel erklären kann, einmal etabliert, dann verengt sich der öffentliche Diskurs rapide."

Außerdem interviewt Anna-Lena Scholz in der Zeit Katja Becker, Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, und Peter-André Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, zum Kommunikationsunfall der DFG mit Dieter Nuhr.

Ruhrbaron Stefan Laurin weigert sich, in der Debate um Achille Mbembe einen Fall von "Cancel Culture" zu sehen: "Denn es war Mbembe, der den Boykott israelischer Wissenschaftler und Künstler forderte und im Fall der israelischen Wissenschaftlerin Shifra Sagy sogar durchsetzte. Ihm und den anderen Unterstützern der antisemitischen BDS-Kampagne die - von Steuerzahlern finanzierte, um nichts anderes ging es - Bühne zu verweigern, bedeutet letztendlich nichts anderes, als Mbembe die eigene Medizin zu verabreichen und zu verhindern, dass künftig keine Israelis mehr auftreten können: BDS steht für Cancel Culture und ein  Vertreter der Cancel Culture ist Mbembe."

Andreas Reckwitz' in "Die Gesellschaft der Singularitäten" und "Das Ende der Illusionen" entwickelte soziologische These vom Abstieg der alten Mittelklasse und vom Aufstieg einer neuen eher urbanen und ökologischen Mittelklasse hat prägende Kraft entwickelt. Robert Pausch und Bernd Ulrich fragen ihn in der Zeit, wie er sich den Erfolg seine Theorien auch in der Politik erklärt, aber er bleibt vorsichtig und wendet sich gegen Polarisierung: "Die Kränkung der alten Mittelklasse durch die Arroganz der neuen Mittelklasse, die medial so gerne verbreitet wird, ist eher ein Folgeproblem. Denn die eigentliche Verunsicherung in der traditionellen Mittelklasse betrifft ja ihre eigene Lebenssituation: Man hat sich hier lange mit dem Modell des sozialen Aufstiegs, der für alle erreichbar sei, identifiziert. In den 1950er- bis 1970er-Jahren funktionierte das auch. Nun aber stockt dieser Prozess: Mit mittleren Bildungsabschlüssen kann man nicht mehr aufsteigen, der industrielle Sektor bricht weg und mit ihm die einmal stolze Arbeiterkultur, die ländlichen Regionen scheinen teilweise abgehängt zu sein."

Außerdem: Felix Stephan begrüßt in der SZ den strengen Bericht der TU Darmstadt zu den Plagiatsvorwürfen gegen die Soziologin Cornelia Koppetsch. Nun drohe ihr sogar ein Disziplinarverfahren und der Verlust des Beamtenstatus.
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Medien

Dass Gruner und Jahr sein berühmtes Haus in Hamburg verkaufen muss, das noch aus Zeiten stammt, als man mit Medien dickes Geld machen konnte, ist für Peter Burghardt in der SZ (die ihr Verlagsgebäude mitten in München ja längst schon verlassen hat) ein symbolischer Moment. Nun kommt es noch härter. Das Haus sollte an die Stadt Hamburg gehen. "Für die Hamburger Uni sollte die Anlage verwendet werden, gute Aussichten für Studenten. Gruner und Jahr brauchte einen Käufer, Hamburg griff zu. Doch dann wurde in der vergangenen Woche bekannt, dass Hamburg sein Rücktrittsrecht aus dem Kaufvertrag wahrnimmt. Das Ensemble übernehmen private Investoren unter Leitung des New Yorker Immobilienkonzerns Tishman Speyer. Warum? Weil dieses Unternehmen offenbar mehr bezahlt, auch wenn es zu den Preisen offiziell keine Angaben gibt."

Kann man überhaupt noch produktive Streitgespräche führen über ideologisch hochbesetzte Themen wie Gender? Kaum. Deshalb empfiehlt Claudia Wirz in der NZZ Journalisten das Buch "Die Kunst, schwierige Gespräche zu meistern", das der amerikanische Philosoph Peter Boghossian zusammen mit dem Mathematiker James Lindsay verfasst hat. Es geht darum, "wie man mit gezielten Fragen sein Gegenüber zwingt, über die eigenen Überzeugungen nachzudenken und sie bestenfalls zu revidieren. Statt eines 'Duells der Predigten', das keinen der Gesprächspartner weiterbringt, sondern eher den Zorn anfeuert, empfehlen die beiden Wissenschafter, ihrem Gegenüber ein authentisches und freundliches Interesse entgegenzubringen, gut zuzuhören und durch permanentes, aber nicht zudringliches Nachbohren Zweifel zu säen. Das Gegenüber ist Partner, nicht Gegner. Und die eigene Botschaft behalten die Fragensteller für sich."
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Europa

In der Türkei und über sechzig weiteren meist muslimischen Ländern feiert die TV-Serie "Dirilis: Ertugrul" Riesenerfolge. Sie glorifiziert den muslimischen Kriegsherren Ertugrul Gazi, der im 13. Jahrhundert am Ursprung des Osmanischen Reichs steht. Klemens Ludwig, einst Mitarbeiter der Gesellschaft für bedrohte Völker, erklärt in der taz, warum er diesen Erfolg heuchlerisch findet: "Hätte Ertugrul seine Raubzüge für die spanische Krone oder andere europäische Kolonialmächte getätigt, stünde es heute schlecht um seine Reputation. In der Debatte über Kolonialisierung, Sklaverei und Rassismus wäre auch manches Ertugrul-Standbild gefallen. Doch Ertugruls Nachfahren wollen von alldem nichts wissen."
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