9punkt - Die Debattenrundschau

Weitgehend destruktiv und eher heiße Luft

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.06.2015. Etwas Wundersames ist in der Türkei geschehen, staunt die Welt nach den Wahlen. In der FR konstatiert die Linguistin Monika Schwarz-Friesel, dass Antisemitismus in Deutschland eine Sache der gebildeten Stände ist. In der Deutschen Welle analysiert Gerd Koenen die unausgegorenen Eurasien-Diskurse Wladimir Putins. Politico macht sich Sorgen um die Londoner City, die womöglich nach Frankfurt umziehen muss. Und ein Tipp von Vice: So fährst du Fahrrad, ohne ein Arschloch zu sein.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.06.2015 finden Sie hier

Politik

Boris Kalnoky von der Welt kann es immer noch kaum fassen: "Bei den Wahlen am vergangenen Sonntag geschah etwas Wundersames. Türken stimmten für die Kurdenpartei HDP, um die Demokratie zu retten. Türken die hoffen, dass Kurden das Land retten: So etwas hat es noch nie gegeben. Immer waren die Kurden der Feind, der das Land gefährdet. Jene HDP unter ihrem Co-Chef Selahattin Demirtas sah nicht mehr so aus wie andere Kurdenparteien zuvor. Zum Wahlkampfschluss zeigte sie Flagge: Türkische Flagge."

Und Deniz Yücel erzählt ebenfalls in der Welt, wie brutal in der Türkei (neben anderen) Journalisten verfolgt wurden, und schildert die Freude in einer Journalistenrunde, nachdem die Wahlergebnisse herauskamen: "Wer nicht versteht, warum für alle in dieser Runde die Wahl ein Freudentag war, ist bescheuert, korrupt, ideologisch verbohrter Anhänger eines Despoten oder alles auf einmal."

Sehr instruktiv das Gespräch, das Joachim Frank für die FR mit der Linguistik-Professorin Monika Schwarz-Friesel über Antisemitismus heute führte, den sie vor allem in gebildeten Ständen verortet, etwa in der Form der "Israelkritik": "Das angebliche "Meinungsdiktat", das Kritik an Israel unmöglich mache, ist eindeutig selbst ein antisemitisches Klischee. Wir haben empirisch klar zeigen können, dass es faktisch keinerlei Hemmungen, Rücksichten oder Selbstbeschränkungen in Bezug auf Israel gibt. Im Gegenteil: Kein Staat dieser Welt und nicht einmal diktatorische oder erwiesenermaßen verbrecherische Regimes werden so heftig attackiert wie Israel."

Als planlos, aggressiv, dumm und angeberisch schildert Gerd Koenen im Gespräch mit Alexander Andreev von der Deutschen Welle die russische Politik auch gegenüber seinen Nachbarn und gegenüber der westlichen Öffentlichkeit: "Es gibt recht intensive Versuche, so etwas wie ein Netzwerk aus altlinken und neurechten Gruppen, Plattformen, Medien usw. zu zimmern und ein phantomhaftes "Eurasien"-Projekt als Gegenentwurf zu den transatlantischen Verbindungen Europas zu lancieren. Aber als Politik ist das alles weitgehend destruktiv und eher heiße Luft. Und schon heute könnte man im Übrigen, was die eurasischen Orientierungen Russlands und seine Verstrickung im ukrainischen Krieg betrifft, konstatieren: The winner is - China!"
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Kulturpolitik

Nach Frank-Walter Steinmeier interviewt Andrian Kreye heute für die SZ den Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner (mit Musiklobbyist Dieter Gorny an seiner Seite). Renner spricht vor allem über die Öffnung von Räumen und die Angst vor Veränderung: "Es ist die Sorge, der Staat könne sich von der Kultur verabschieden, dass sich das alles zu angelsächsischen Modellen hin entwickelt. Die Tate Modern, die Chris Dercon führt, ist weitgehend von Sponsoren abhängig. Weil er diesem System entfliehen will, war es uns möglich, diesen extrem begehrten Mann nach Berlin zu holen. Dass es aber gerade die alten, etablierten Revolutionäre sind, die mit neuen Denkweisen nur wenig anfangen können, ist, glaube ich, eher menschlich."
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Medien

Die Süddeutsche Zeitung, die Welt, die Zeit und der Spiegel, außerdem Magazine wie 11 Freunde, Cicero oder Neon werden beim Start der Medienplattform Blendle mitmachen, schreibt Steve Haak bei Zeit online: "Die Nutzer können bei Blendle Ausgaben der Medien Seite für Seite durchblättern, lesbar sind dabei allerdings nur die Überschriften. Möchten sie den gesamten Artikel lesen, müssen sie zahlen. Der Preis wird von den Verlegern selbst festgelegt und ist in der Regel nach der Textlänge gestaffelt. So will etwa die New York Times 19 Cent pro Artikel haben und der Economist verlangt 79 Cent für längere Texte."

In ihrer taz-Kolumne wundert sich Silke Burmester eigentlich nicht, dass die Fifa dem schwedischen Fernsehen verboten hat, die WM der Frauen "Fifa Fußballweltmeisterschaft 2015" zu nennen: "Es sei nur statthaft, das Ding als "Fifa Frauenweltmeisterschaft" zu bezeichnen. Womit man unterschlüge, in welcher Disziplin gerungen wird. Wahrscheinlich hoffen die Fifa-Ganoven, die Weiber würden irgendwann mit dem Gekicke aufhören und dann hätte man gleich die Rechte für eine Strip-WM im Sack."

Außerdem: Nicht nur mit dem Fernsehen, auch mit dem Radio geht es bald zu Ende, glaubt Felix Zwinzscher, der in der Welt die neuen Podcasts vorstellt, die das klassische Radio ablösen sollen. Kathrin Werner beobachtet in der SZ, wie Al Jazeera America im internen Chaos versinkt, ohne daraus etwas für die jämmerlichen Quoten schlagen zu können. Der Kölner Stadtanzeiger bringt Hans-Werner Kilz" Trauerrede auf Verleger Alfred Neven DuMont. Und die Journalisten der Stuttgarter kontextwochenzeitung setzen sich für Kollegen ein: "Wir fordern Pressevielfalt! Kein Zusammenlegen von Stuttgarter Nachrichten und Stuttgarter Zeitung."
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Gesellschaft

Die Londoner City hat große Angst vor dem britischen Europareferendum, schreibt Pierre Briançon bei Politico.eu. "Für Londoner Finanziers geht das Alptraumszenario so: Zuerst verliert die City ihren leichten Zugang zum europäischen Markt. Dann wird ein Teil der Finanzindustrie mit Ermutigung feindlicher europäischer Hauptstädte auf den Kontinent ziehen. "Viele Aktivitäten werden sich in Paris oder Frankfurt ansiedeln" sagt der Chief Operating Officer einer großen französischen Bank mit großer Niederlassung in London. "Ich tippe auf Paris. Ich glaube nicht, dass Bänker scharf darauf sind, in Frankfurt zu leben.""

Eine Rechtsrefendarin darf in Berlin-Neukölln mit dem Kopftuch zur Arbeit erscheinen. Alexander Kissler von Cicero ist nicht einverstanden: "Das Kopftuch ist ein Bekenntnis zur Geschlechtertrennung und damit ein Statement wider die Gleichheit. Mehr noch: Wen der Staat mit der Wahrung der Rechtsordnung beauftragt, der muss deren Kern, die Menschenrechte, ohne jede Einschränkung bejahen, innerlich wie äußerlich. Es gibt aber keine einzige Möglichkeit, die Menschenrechte, wie der Westen sie begreift, islamisch herzuleiten."

In der Berliner Zeitung sieht Christian Bommarius im Kopftuch dagegen "einen Akt der Selbstbestimmung" und meint, man müsse der Frau schon glauben, wenn sie darin eine Versöhnung von Tradition und Moderne sieht: "Wenn die Deutungshoheit über eine Äußerung allein beim Empfänger liegt, dann wird der Absender de facto zum Schweigen gebracht."

Weiteres: Peter Richter erzählt jetzt auch in der SZ vom Vanity-Fair-Cover der Transsexuellen Caitlyn Jenner und findet das so aufregend und fortschrittlich, als hätte er noch nie etwas von Romy Haag und Desirée Nick gehört. Und dann noch ein Tipp von Vice: "So fährst du Fahrrad, ohne ein Arschloch zu sein." Patrick Bahners greift in der FAZ den Fall des Kalief Browder auf, der unschuldig in Riker"s Island saß und sich Jahre nach seiner Entlassung, traumatisiert vom amerikanischen Gefängnissystem, das Leben nahm.
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Ideen

Sehr liberal äußert sich FAZ-Redakteur Patrick Bahners bei Lisa, dem Wissenschaftsportal der Gerda-Henkel-Stiftung zum Münkler-Watchblog und verteidigt auch die Anonymität der über den Professor bloggenden Studenten: "Die Legitimität der Namenlosigkeit der Blog-Autoren kann nach meiner Meinung nicht ernsthaft bestritten werden. Eine andere Frage ist es, ob die Blogger gut beraten waren, von der Lizenz zur Anonymität im gegebenen Kontext Gebrauch zu machen. Das ist eine Klugheitsfrage. Hierzu muss man zuerst feststellen, dass die universitären Amtsträger mit ihren Reaktionen auf die Anonymität alles getan haben, um die Vorsicht der Blogger berechtigt erscheinen zu lassen."
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Überwachung

Unter dem Eindruck der Pariser Massaker erlässt die französische Regierung ein Überwachungsgesetz, in dem sie sich alles herausnimmt, was sie sich nur wünschen kann, schreibt Stefan Simons in Spiegel online. Unter anderem müssen Telekom-Dienstleister Black Boxes zum Sammeln von Metadaten installieren: "Vor allem das wahllose Absaugen an den Schaltstellen der Datenpipelines betrachten Gegner des Gesetzes als Angriff auf die Bürgerrechte. "Die Black Boxes, das ist die Büchse der Pandora dieses Gesetzes", schimpfte die sozialistische Abgeordnete Aurélie Filippetti. "Man sagt uns, dass die Masse der Angaben nur Metadaten sind. Aber sie enthalten zugleich Informationen über das Privatleben unserer Mitbürger.""
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Stichwörter: Bürgerrechte, Frankreich, Telekom

Weiteres

Aldo Keel berichtet in der NZZ, dass Norwegen endlich seine Samen dafür ehrt, unter der deutschen Besatzung Flüchtlinge ins freie Schweden gelotst zu haben. In der FR berichtet Judith von Sternburg von der Bilanz-PK des Buchhandels, der sich vor allem gegen Amazons neue Strategie wehrt, noch billigere Vertriebszentren in Polen und Tschechien aufzubauen, die Kosten dafür aber auf die Verlage abwälzen will. Daniel Kuhn informiert im Freitag über Möglichkeiten, seinen digitalen Nachlass zu regeln, per Passwortmanager etwa oder auch mit einer handschriftlichen Liste.
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