9punkt - Die Debattenrundschau

Gefühle von Auslöschung und Verrat

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.09.2019. Der Rechtspopulismus geht unter. Dafür hat #MeToo wieder Konjunktur. Politico.eu konstatiert mit Interesse, dass die Rechtspopulisten in Frankreich, Italien, Britannien und Polen in der Bredouille sind. In der taz zeichnet Cornelia Koppetsch das Psychogramm der AfD-Wähler und ihrer auch nicht so sympathischen Widersacher, der "Kosmopoliten". Und #MeToo ist plötzlich wieder überall Thema, etwa in Frankreich, wo sich Tariq Ramadan laut FAZ zum "Dreyfus der Islamophobie" stilisiert und in den USA mit Weiterungen der Epstein-Affäre, vorgetragen von Ronan Farrow im New Yorker.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.09.2019 finden Sie hier

Europa

Könnte es sein, dass die Rechtspopulisten trotz manch gegenläufiger Tendenzen (etwa in Sachsen und Brandenburg) auf europäischer Ebene insgesamt auf dem Rückzug sind? Paul Taylor kann für diese Idee in politico.eu eine Menge Belege zitieren: die neue Koalition in Italien, der Sieg des Unterhauses in Britannien, der Rückzug der Gelben Westen und die Misserfolge des Front national in Frankreich. In Ungarn und Polen seien die Populisten zwar noch populär: "Aber Polens faktischer Regierungschef Jaroslaw Kaczynski könnte bei einer Parlamentswahl im Oktober seine absolute parlamentarische Mehrheit verlieren, trotz der bei den Wählern beliebten Kombination aus Wohlfahrtsstaat und katholischem Nationalismus. Und die Ängste vor einer illiberalen populistischen Welle, die ganz Mitteleuropa erfasst, haben sich, als übertrieben erwiesen: Eine liberale Demokratin gewann die slowakischen Präsidentschaftswahlen und der tschechische Premierminister und Millardär Andrej Babis muss Massenproteste wegen seiner angeblichen Interessenkonflikte verkraften."

Ein harter Brexit mit neuerlich geschlossener Grenze in Irland würde auch in Amerika nicht so leicht geschluckt und ein von Boris Johnson ersehntes Handelsabkommen mit den USA wesentlich schwieriger machen, schreibt der Historiker Robert Gerwarth in einem sehr instruktiven Hintergrundtext zur irischen Frage im Brexit in der FAZ. Der Demokrat Richard Neal und der Republikaner Pete King hätten bereits Bedingungen für ein Handelsabkommen gestellt. Und "sie wissen, wovon sie reden. Neal und King sind Vorsitzende der 'Friends of Ireland' im Kongress. Dieser parlamentarische Club, 1981 gegründet von Senator Ted Kennedy und Tip O'Neill, dem langjährigen Sprecher des Repräsentantenhauses, ist kein nostalgischer Verein, dessen Mitglieder in Erinnerungen an die Grüne Insel schwelgen, sondern eine ernstzunehmende politische Lobbygruppe, zu deren Unterstützern mehr als fünfzig Kongressmitglieder beider Parteien gehören." Auch Trumps Spielraum ist begrenzt, wenn er die wichtigen irischstämmigen Wähler nicht vergrätzen will, so Gerwarth.
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Internet

Der Spruch "Das Internet vergisst nie", ist falsch, schreibt Hagen Terschüren bei Dlf Kultur in einem Artikel über das Internet der Neunziger. Er hat mit dem Internetforscher und Künstler Olia Lialina gesprochen, der das Archiv der alten Geocities-Plattform vor dem Verschwinden rettete: "Das Kunstprojekt 'One Terabyte of Kilobyte Age Photo Op' postet bis heute alle 20 Minuten einen Screenshot aus dem restaurierten Geocities-Archiv. In Lialinas Augen spiegeln diese Bilder etwas wider, das wir in den Zeiten des Hochglanzwebs aus Vorlagen und superleichten Seitengeneratoren nicht mehr haben: komplette Freiheit."

Rechtsextremistische Positionen gedeihen in den sozialen Medien besonders gut, bemerkt Bernd Graff in der SZ. Warum das so ist, hat er aus einer Studie von Maik Fielitz und Holger Marcks vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik erfahren. So erklärt ihm Maik Fielitz: "Faschistische Weltanschauungen bauen die Kulisse einer außerordentlichen Gefährdung auf, um illiberale Maßnahmen dagegen rechtfertigen zu können. Befördert und verstärkt werden Gefühle von Auslöschung und Verrat ('Umvolkung', 'Volksverräter'), auf die man bedrohungsadäquat reagieren muss." Und Holger Marcks führt aus: "Dazu betreiben extremistische Organisationen 'Frame Amplification': Man fokussiert ein Thema, Flüchtlinge, Negativmeldungen werden wie aus einem digitalen Zettelkasten heraus wieder und wieder über die Community gestreut, oft von Fake-Accounts aus, die angeblich sogar von geläuterten Anhängern anderen Parteien stammen. Maßnahmen gegen Flüchtlinge erscheinen nun fast wie Notwehr."

Der Internetkritiker Evgeny Morozov, eigentlich ein Guru des deutschen Feuiletons, hat in der New Republic die Zusammenarbeit von edge.org mit dem Milliardär Jeffrey Epstein gegeißelt (unser Resümee) - bisher ohne viel Resonanz hierzulande (für Frank Schirrmacher war edge.org der Hort der "Dritten Kultur", auch SZ-Feuilletonchef Andrain Kreye ist mit dem Institut verbunden). Im New Yorker geißelt nun Ronan Farrow, der die Harvey-Weinstein-Affäre lancierte, die Zusammenarbeit des noch renommierteren Media Lab des MIT mit Epstein, der wegen des Missbrauchs minderjähriger Mädchen ins Gefängnis kam und sich dort erhängte: "Aktuelle und ehemalige Dozenten und Mitarbeiter des Medienlabors berichten von einem Muster, mit dem Epsteins Engagement für die Institution bemäntelt wurde. Signe Swenson, eine ehemalige Entwicklungsassistentin und Koordinatorin am Labor, erzählt mir, dass sie 2016 teilweise wegen ihres Unbehagens über die Zusammenarbeit des Labors mit Epstein zurückgetreten sei. Sie sagte, die Leitung des Labors habe bereits in den ersten Gesprächen mit ihr deutlich gemacht, dass Epsteins Spenden geheim gehalten werden müssten."
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Politik

Der brasilianische Autor Luiz Ruffato macht im Gespräch mit Sunny Riedel von der taz keine Hehl daraus, dass er den sozialistischen Präsidenten Lula vermisst. Aber leider, auch Lula habe nicht für bessere Bildung gesorgt. Und so ist die interessanteste Frage in diesem sehr politischen Gespräch literarisch: Wer denn seine Bücher, die von den Armen im Lande handeln, lese? "Niemand. (lacht) In Brasilien liest niemand. Wirklich niemand. Weder die Unterschicht noch die Mittel-, noch die Oberschicht. Für die ist nur wichtig, dass sie das neueste IPhone haben, mit dem sie dann nach Miami fahren. Literatur ist eine Art künstlerischen Ausdrucks, die so selbst elitär sein muss. Denn um sie zu betreiben, muss man selbst zunächst mal ein Mindestmaß an Bildung genossen haben. Und auch die Leser müssen ein solches Mindestmaß genossen haben."
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Stichwörter: Ruffato, Luiz, Brasilien

Gesellschaft

Gewählt wird die AfD von einer "Querfront der Verlierer", zu der durchaus auch Akademiker zählen, und die AfD bietet ihnen Kompensation, sagt die Soziologin Cornelia Koppetsch, Autorin von "Die Gesellschaft des Zorns - Rechtspopulismus im globalen Zeitalter", im taz-Gespräch mit Sabine am Orde. Den Verlierern gegenüber sieht Koppetsch die "Kosmopoliten", die sozial Bessergestellten und Gewinner der Globalisierung: "Die Kosmopoliten haben das Selbstbild, inklusiv zu sein, gleichzeitig aber ein historisch nahezu unübertroffenes Niveau an Exklusivität erreicht. Sie umgeben sich mit Leuten, die die Dinge genauso sehen wie sie. Sie ziehen in Gründerzeitbauten und nicht in den Plattenbau. Die Kreise werden über Kompetenzen, Geschmack und kulturelle Codes geschlossen und über Bildung an die nächste Generation weitergereicht. Die Kosmopoliten haben neue Spielregeln durchgesetzt und tatsächlich weniger Diskriminierung erreicht. Doch sie sind in sozialstruktureller Hinsicht nicht egalitär - die Codes haben sich nur verändert."
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Religion

Die #MeToo-Affäre um den "gemäßigten Islamisten" Tariq Ramadan, der einst auch in Deutschland durchaus prominent war, hat hierzulande wenig Aufsehen erregt - dabei ist Ramadan mehrerer Vergewaltigungen beschuldigt (unsere Resümees). Nun hat er sich im französischen Infosender BFM-TV vor einem lammfrommen Interviewer als ein "Dreyfus der Islamophobie" geriert und gleichzeitig sein eigenes Buch über die Affäre beworben, das ausgerechnet am 11. September erscheinen soll, berichtet Jürg Altwegg in der FAZ: "Besser als das unsägliche Interview war die Nachbereitung im Sender. Eine mit dem Vorgang vertraute Journalistin der Zeitung Libération erläuterte die Widersprüche in Ramadans Aussagen. Das Märchen, er sei zur Tatzeit gar nicht am Tatort gewesen, hatte er schon einmal aufgetischt. Auch ein Anwalt der Anklägerinnen kam zu Wort. Als 'frustrierte Lügnerinnen' beschimpft Ramadan sie in seinem neuen Buch."

Ramadans Buch unterliegt einer Sperrfrist, berichtet Bernadette Sauvaget in Libération: "Soweit wir informiert sind, enthält das Buch keine Enthüllungen zu den Anschuldigungen und auch kein mea culpa zu seinem höchst bewegten und den islamischen Normen wenig angemessenen Doppelleben, das durch die juristischen Ermittlungen offengelegt wurde."
Archiv: Religion