9punkt - Die Debattenrundschau

Sie fressen die Treppe mit ihren gierigen Schatten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.09.2020. Die Zeit hat neue Details zum Giftanschlag auf Alexei Nawalny und weiß, warum die deutsche Regierung überzeugt ist, dass es die russische Regierung war. "Die Kapazität ist da", nehmt sie auf, ruft der Tagesspiegel mit Blick auf die Flüchtlinge von Moria. Charlie Hebdo berichtet über den Prozess zu den Attentaten von Januar 2015 und die Traumatisierung der Überlebenden.  In der Welt fragt Zafer Senocak, warum die Türkei den Weg der Moderne verlassen hat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.09.2020 finden Sie hier

Europa

Noch immer brennt es im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos, inzwischen sind mehr als 12.000 Migranten obdachlos, meldet unter anderem die Welt. Nehmt die Flüchtlinge auf, fordert Malte Lehming im Tagesspiegel von der EU: "Verteilt sie, versorgt sie medizinisch, gebt ihnen faire Asylverfahren! Die Kapazitäten sind vorhanden. Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag eine jährliche Obergrenze von 180.000 bis 220.000 Flüchtlingen vereinbart. Doch wegen der Corona-Pandemie sind die Zahlen in diesem Jahr stark zurückgegangen. Zwischen Januar und August wurden rund 75.000 Asylanträge gestellt."

Seit fünf Jahren verschließt die EU die Augen vor den Zuständen auf Lesbos, schreibt Constanze von Bullion in der SZ: "Zu den Opfern europäischer Wurstigkeit gehören auch die Griechen. Sie fühlen sich verraten von der EU, die Regierung setzt nun auf erbarmungslose Abschottungspolitik. Längst suchen neonazistische Bürgerwehren die Probleme auf eigene Faust zu lösen. Nie geklärt wurden auch Hinweise, dass die griechische Küstenwache sich an illegalen Pushbacks beteiligt und Bootsflüchtlinge abdrängt oder über Bord stößt. Mit Flüchtlingskonventionen und Menschenrechten unvereinbar? Natürlich. Am südöstlichen Rand Europas erodiert die Rechtsstaatlichkeit unter aller Augen."

Eine Autorengruppe bei politico.eu beleuchtet den aktuellen Hintergrund der EU-Diskussionen und des bleibenden Spalts zwischen den Ländern des Nordens, des Südens und des Ostens in der Flüchtlingsfrage: "Es gab Hoffnungen, dass die Macht der deutschen Ratspräsidentschaft die Kluft überbrücken könnte - auch vor dem überfüllten Hintergrund von Brexit, der Ratifizierung des Mehrjahreshaushalts der EU und der anhaltenden politischen Umwälzungen in Belarus. Diplomaten weisen jedoch darauf hin, dass bis zum Ende der Ratspräsidentschaft im Dezember nur zwei Innenministertreffen geplant sind, auf denen ein Vorschlag der Kommission diskutiert werden könnte."

Und Thomas Schmid kommentiert in der Welt: "Innenminister Horst Seehofer, der vor Jahren in der Flüchtlingspolitik einiges falsch machte, hat Recht, wenn er sich jetzt gegen die große und sofortige deutsche Aufnahmewelle stemmt. Denn damit würde die EU entlastet."

Eine Reportergruppe der Zeit hat neue Informationen zum russischen Giftanschlag auf Alexej Nawalny. Sie zitiert die Ergebnisse des Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr, wonach Nawalny "mit einer neuartigen Weiterentwicklung der Chemiewaffe Nowitschok vergiftet (wurde) - einer Variante, die die Welt bis zu diesem Anschlag nicht kannte, die aber bösartiger und tödlicher sein soll als alle bekannten Ableger der Nowitschok-Familie. Entsprechende Rückstände fanden die Wissenschaftler an Nawalnys Händen und am Hals einer Wasserflasche, aus der er getrunken hatte. Diese neue Nowitschok-Variante soll langsamer wirken als die bisher bekannten."

Im Gespräch mit Thoma Kurianowicz (Zeit Online) warnt der litauische Außenminister Linas Linkevicius Deutschland davor, sich durch Nord Stream 2 in seinen Rohstofflieferungen von Russland abhängig zu machen, glaubt ebenfalls, dass Maria Kolesnikowa mit Gewalt an die ukrainische Grenze gebracht wurde und bekundet die Sorge, "dass die Situation in Belarus bald eskalieren könnte. Nach einer Phase der Ruhe zeige jetzt Lukaschenkos Regime eine aggressivere Vorgehensweise. 'Wir machen uns große Sorgen. Lukaschenkos Strategie ändert sich. Er versucht, die führenden Oppositionspolitiker aus dem Land zu bekommen. Oder er verhaftet sie einfach.' Außerdem suche Alexander Lukaschenko verstärkt die Nähe zu Russland, worauf sich der Kreml einzulassen scheine. 'Wir können nicht ausschließen, dass Russland eine Invasion plant. Bislang wurde dies zwar verneint. Nach Angaben der Russen gebe es keinen Grund für eine Invasion. Aber wir wissen doch alle, dass Russland sich solche Gründe leicht ausdenken könnte.'"

Schon als sich Russland und Deutschland 1990 annäherten, zeichnete sich eine Trennung ab, schreibt Matthias Dembinski, Projektleiter am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, in der FR: "Der Westen betonte liberale Werte wie Demokratie, Russland die gemeinsame Sicherheit. In den folgenden Jahren setzte sich mit der Nato-Erweiterung und der Transformation Osteuropas nach Vorgaben der EU die liberale Vision durch, während der Westen Russlands Vorschläge für eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung abblockte. Mit der autoritären Wende unter Putin drehten sich die liberalen Normen endgültig gegen Moskau und Russland wurde zum Paria im gemeinsamen Haus." Sanktionen werden nicht helfen, stattdessen müsse man sich auf "grundlegende Regeln" einigen, fordert er.

In der SZ meint Stefan Kornelius hingegen: "Deutschland wird die russische Politik nicht auf einen Pfad der Tugend zwingen. Der Westen kann von Wladimir Putin kein rechtsstaatliches Verhalten erwarten. Aber er kann sich mit seinen Werkzeugen schützen, entkoppeln und so ein Stück weit unangreifbar machen. Sanktionen sind Mittel der Selbstbehauptung und der Souveränität. Sie zeigen in der Regel keine sofortige Wirkung, aber sie senden ein klares Signal auch in das Innere autoritärer Systeme. Sie ermutigen Oppositionelle."

Eine Gruppe ehemaliger Bürgerrechtler der DDR schickt der Opposition in Belarus eine Grußadresse, unterzeichnet unter anderen von Wolf Biermann, Markus Meckel, Rainer Eppelmann und Freya Klier: "Wir fordern den deutschen Außenminister auf, sich auch weiterhin klar und unmissverständlich für das Recht auf friedliche Demonstrationen und die sofortige Beendigung der aggressiven Staatsgewalt sowie für Verhandlungen unter anderem mit dem gegründeten Koordinierungsrat (analog zu den Runden Tischen in Polen und der DDR) einzusetzen. Wir fordern die Europäische Union auf, deutliche Schritte der Diplomatie zu gehen und beschlossene Sanktionen umgehend wirksam werden zu lassen."

Die in den zwanziger und dreißiger Jahren einsetzende türkische Moderne und die jüdische Emanzipation beriefen sich beide auf die Werte der Aufklärung, erinnert der Schriftsteller Zafer Senocak in der Welt. Die Annäherung mündete in den Neunziger Jahren in Kooperation. Und heute? "Was die Aufkündigung der Freundschaft und der Allianz mit Israel angeht, wirkt die türkische Gesellschaft heute wie hirngewaschen. Doch diese ideologische Hirnwäsche hat keinerlei historische Tiefe. Sie hat keine Basis in der kulturellen Erbschaft der Türkei. Die Vertreter der Muslimbruderschaft werden in der Türkei auf Dauer keinen Erfolg haben. Das hat nichts mit dem Islam, dem Glauben oder den Traditionen zu tun. Die Muslimbruderschaft ist eine arabische, in der Nähe zum europäischen Faschismus entstandene Ideologie, die sich mehr aus diesem Geiste der Gegenaufklärung nährt, als aus den Quellen muslimischer Denktraditionen. Der Grund, warum sie in der Türkei erfolgreich sein konnte und populistische Kräfte entfaltete, müsste näher analysiert werden. Es mag auch daran liegen, dass das kreative Potenzial der Modernisierung in der Türkei nicht ausgeschöpft worden ist."
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Ideen

Die Nachhaltigkeitsforscherin Maja Göpel, deren Buch "Unsere Welt neu denken" auf den Bestsellerlisten steht und auch in der Kritik gut ankam, gründet in Hamburg ein Institut, das schlicht "The New Institute" heißt. Fritz Habekuss porträtiert sie für die Zeit, die schon als Partner des Instituts benannt ist (und Göpel auch gleich mit dem Zeit Wissen-Preis "Mut zur Nachhaltigkeit" auszeichnet). Die Botschaft ist friedlich: "Eine gesunde Umwelt, eine solidarische Gesellschaft, Zeit für Bildung, Familie, Gemeinschaft oder Gesundheit. 'Um solche Dinge geht es doch am Ende.'" Das Institut wird in Hamburg in bester Alster-Lage residieren. Finanziert wird das Institut von dem Philanthropen Erck Rickmers, der aus eine Reeder-Familie stammt.

Ebenfalls in der Zeit möchte die Philosophin Corine Pelluchon "Ökologie neu denken".

Ernsthaft in Gefahr ist die Demokratie auch durch die Corona-Proteste nicht, konstatieren die Historikerin Birte Förster und der Soziologe Armin Nassehi in der FAZ. Gefährlich sind sie dennoch, denn der Zusammenschluss von Demonstranten übt nicht Kritik an Regierungsmaßnahmen, sondern versucht den Rechtsstaat selbst zu delegitimieren: "Ihre Strategie ist es, Entscheidungsverfahren selbst Schaden zuzufügen, und dazu ist ihnen jedes Unwissen ebenso recht wie die Inszenierung von Bedrohung. Es ist kein Zufall, dass besonders Motive der sogenannten Reichsbürger eine so große Rolle spielen; es ist kein Zufall, dass hier eine Dominanz rechtsradikaler Formen zu beobachten ist, die im klassischen rechtspopulistischen Sinne für sich reklamieren, für das Volk selbst zu sprechen; es ist kein Zufall, dass ein außerhalb des Parlaments gelegener Volkswille behauptet und gegenüber Formen der gemeinsamen Entscheidungsfindung in demokratischen Verfahren privilegiert wird; und es ist kein Zufall, dass diese Bewegung antimoderne und kulturkritische Symbole esoterischer Natur aufsammelt, die schon vor einhundert Jahren den Schulterschluss mit extremen Rechten übten. Die nicht nur impliziten antisemitischen Konnotationen tun ein Übriges."

Für militante Antirassisten wie Reni Eddo-Lodge oder Robin DiAngelo ist jeder, der weiß ist, Rassist. Dabei verfangen sie sich selbst in "rassistischen Stereotypen", schreibt Thomas Ribi in der NZZ: "Wenn alle Weißen schuld sind am Elend der Farbigen, ist es am Ende niemand, und die wirklich Schuldigen sind entlastet."
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Politik

Die iranische Feministin Nasrin Sotoudeh sitzt bekanntlich im Evin-Gefängnis, weil sie Frauen verteidigte, die sich ohne Kopftuch zeigten. Sie ist in den Hungerstreik getreten, um sich für die politischen Gefangenen einzusetzen, die in Corona-Zeiten keine Hafterleichterungen bekommen. Mariam Lau unterhält sich für die Zeit mit ihrem Ehemann, dem Grafiker Resa Chandan, der sich überraschend optimistisch äußert: "Natürlich erreicht man niemals hundert Prozent. Sie werden jetzt nicht alle politischen Gefangenen freilassen. Aber irgendetwas kriegt man sicherlich! Nasrin ist ja nicht verrückt und begeht eine Art Selbstmord, weil das alles völlig aussichtslos wäre. Es ist ihr ja schon einmal gelungen, durch Hungerstreik freizukommen. Ihre zweite Forderung neben der Freilassung der politischen Gefangenen ist, dass kranke Gefangene Hafturlaub oder mindestens Erleichterungen bekommen. Im Übrigen: Auch das Gespräch, das wir hier führen, ist ein Ergebnis - es verschafft ihr Öffentlichkeit."
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Medien

In Paris findet der Prozess zu dem Charlie-Hebdo-Massaker statt. Tag für Tag berichten Yannick Haenel und François Boucq in einem extra eingerichteten Blog für Charlie Hebdo selbst, heute vom sechsten Tag. Gestern sagte die Zeichnerin Corinne Rey (Coco) aus, die gerade das Haus verlassen wollte, als die Brüder Kouachi eintrafen und sie zwangen, sie zu den Redaktionsräumen zu führen: "Coco erzählt diesen Aufstieg zu den Räumen von Charlie als Etappen einer persönlichen Zerstörung, die eine kollektive Zerstörung nach sich ziehen wird. In ihrer Angst irrt sie sich in der Etage und denkt, dass dieser Irrtum tödlich für sie sein wird. Mit ihr Durchleben wir diesen Felhtritt des Unbewussten, wir zittern mit ihr unter diesem Körper der Ungeheuer, der auf ihr lastet. Sie fressen die Treppe mit ihren gierigen Schatten. Coco sagt: 'Sie wollten töten.' Sie spürt ihre Erregung. Sie wollen Blut. sie wollen den Tod."
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Stichwörter: Charlie Hebdo, Unbewusste