9punkt - Die Debattenrundschau

Vielfache Todesfolge

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.03.2020. Altantic malt ein sehr düsteres Corona-Szenario für Amerika an die Wand - und es beruht auf einem politischen Fehler, der selbst für einen wie Donald Trump fatal werden könnte. Die Zeit und der Tagesspiegel weigern sich, China als Modell zu sehen. In der SZ erklärt Gustav Seibt, warum es falsch gewesen wäre, massiv auf "Herdenimmunität" zu setzen. In der FAZ protestieren die Rechtsprofessoren Klaus Ferdinand Gärditz und Florian Meinel  heftig gegen das neue Infektionsschutzgesetz, das zentrale Normen der Verfassung außer Kraft setze.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.03.2020 finden Sie hier

Europa

Äußerst skeptisch kommentieren die Rechtsprofessoren Klaus Ferdinand Gärditz und Florian Meinel im politischen Teil der FAZ die jetzt vom Bundestag beschlossene Änderung des Infektionsschutzgesetzes, die es erlaube einen Ausnahmezustand zu dekretieren und die die Gesetzesbindung von Regierungshandlung unterminiere: "Mit der Ermächtigung eines Bundesministeriums, gesetzesvertretendes Verordnungsrecht zu erlassen, setzt sich das Parlament in Widerspruch zu zentralen Normen der Verfassung... Gesetzesbindung ist nicht nur die wichtigste Bedingung der Kontrollierbarkeit der öffentlichen Gewalt: Gesetze stellen Maßstäbe bereit, um die Exekutivgewalt zu bändigen, letztlich also staatliche Willkür zu verhindern."

Da im Parlament nicht die Möglichkeit für den vorgegebenen Mindestabstand gegeben ist, wird über ein "Notparlament" nachgedacht, schreiben die Rechtswissenschaftler Christoph und Sophie Schönberger ebenfalls in der FAZ. Dieses kann die Aufgaben von Bundestag und Bundesrat gemeinsam wahrnehmen. Dieses "Überbleibsel aus der alten Bundesrepublik des Ost-West-Konflikts" ist aktuell völlig unangebracht, meinen sie: "Die entsprechende Fortsetzung der Tätigkeit des Bundestages ist (…) nicht nur praktisch möglich. Sie ist gerade unter den aktuellen Bedingungen vielmehr auch besonders nötig. Es ist düstere politische Romantik, nun von einer alleinigen Stunde der Exekutive zu raunen und mit wohligem Gruseln Carl Schmitt oder Giorgio Agamben aus dem Bücherregal hervorzuziehen. Ein so dicht verrechtlichtes Land wie die Bundesrepublik braucht gerade in der Krisensituation den Bundestag als Gesetzgeber."
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Politik

Ed Yong malt im Atlantic ein überaus düsteres Corona-Szenario für Amerika an die Wand, und es ist verbunden mit einem politischen Fehler, der womöglich sogar für einen wie Donald Trump fatal sein könnte: "Eine Pandemie-Abteilung, die Teil des Nationalen Sicherheitsrates war, wurde 2018 aufgelöst. Am 28. Januar drängte Luciana Borio, die zu diesem Team gehörte, die Regierung, 'jetzt zu handeln, um eine amerikanische Epidemie zu verhindern', und insbesondere mit dem Privatsektor zusammenzuarbeiten, um schnelle und einfache diagnostische Tests zu entwickeln. Aber da das Büro geschlossen war, wurden diese Warnungen im Wall Street Journal veröffentlicht, statt das Ohr des Präsidenten zu erreichen. Anstatt in Aktion zu treten, blieb Amerika untätig."

Im SZ-Gespräch mit Johan Schloemann erklärt der Soziologe Sven Opitz, wie sich die Pandemie auf die globalen Ungerechtigkeiten auswirkt: "Tatsächlich hat die WHO in der Pandemievorbereitung darauf gesetzt, dass die Infrastrukturen in Gesundheit und Verwaltung funktionieren. Das globale Phänomen muss ja lokal bewältigt werden. Aber die Ebola-Krise hat die Diskrepanzen in den Kapazitäten gezeigt, die dafür zur Verfügung stehen: Globale Gesundheitssicherheit muss man sich auch leisten können. Wenn die Ressourcen ohnehin stark begrenzt sind, ist es eine schwierige Entscheidung, die knappen Mittel für die Vorbereitung auf eine Pandemie auszugeben - und nicht für ganz akute Probleme. Die Verletzlichkeiten variieren stark - und sie werden jetzt vermutlich massiv und grausam sichtbar, wenn Schwellen- und Entwicklungsländer von der Infektion erfasst werden."

"Wäre das chinesische Modell früher übernommen worden, dann könnten die Infektionen weltweit nun unter Kontrolle sein", tönte das Parteiorgan Global Times (etwa hier), und einige westliche Bewunderer scheinen ganz derselben Meinung zu sein. Matthias Naß in der Zeit aber nicht: "Das 'Modell China' soll uns alle retten. Ein bisschen verschlägt es einem bei so viel Chuzpe doch den Atem. Als Mitte November im zentralchinesischen Wuhan das neue Virus zum ersten Mal auftrat, wurden Hinweise auf die Gefahr ignoriert, Beweise vernichtet, Ärzte eingeschüchtert, Labore geschlossen. Die Öffentlichkeit erfuhr nichts. Bis dann, abrupt, am 23. Januar Wuhan (und wenig später die ganze Provinz Hubei) abgeschottet wurde."

Daran, dass China das Coronavirus gebannt hat, meldet auch Ning Wang im Tagesspiegel vorsichtige Zweifel an. Wie dem auch sei, am 8. April soll auch in Wuhan die Quarantäne vollständig aufgehoben werden, allerdings mit weitreichenden Folgen. Rassismus ("ausländisch aussehende" Menschen werden gemieden) und noch mehr Überwachung bestimmen den Alltag: "Die Unsicherheit ist nicht nur in der Bevölkerung zu spüren. Bei der Staats- und Parteiführung hat sie sich in eine Form von Kontrollwahn umkanalisiert. So werden seit Montag internationale Flüge nach Peking mittlerweile in die benachbarte Provinz umgeleitet und die Passagiere müssen auf eigene Kosten in designierte Hotels in Quarantäne. Bei denen, die noch zu Hause in Selbstquarantäne gehen durften, weil sie schon vor zwei Wochen ins Land gekommen sind, wurden teils Überwachungskameras vor der Haustür installiert, um sicher zu sein, dass sie sich an die Regeln halten."
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Kulturpolitik

Olaf Zimmermann vom Deutschen Kulturrat, einem Kultur-Lobbyverband, äußert sich im Gespräch mit Jesko Schulze-Reimpell im Donau Kurier zwar erfreut über die staatlichen Hilfen für Künstler, aber nicht über das föderale Durcheinander: "Die eher stärkeren Länder und die Stadtstaaten haben bereits Programme beschlossen, etwa Bayern. Dann gibt es Länder, die wenig bis gar nichts machen. Ich muss ganz offen sagen, dass ich mit diesem Flickenteppich nicht zufrieden bin. Wir haben eine große Notlage, und dann kann es nicht davon abhängen, eine Förderung zu bekommen, ob ich nun in Bayern lebe oder in Mecklenburg-Vorpommern. Die Länder haben die Verantwortung. Aber sie stieren alle nach Berlin. Das ist im Prinzip auch richtig so. Denn über so große Summen verfügen ja die Länder überhaupt nicht. Dennoch führt der Föderalismus zu erheblichen Ungerechtigkeiten."

Mehr zu den konkreten Problemen und Hilfen in den einzelnen Kulturbranchen im heutigen Efeu.
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Internet

Während Amazon in der Corona-Krise brummt, müssen die sozialen Netze, die stärker auf Werbung angewiesen sind, mit einem empfindlichen Einnahmeausfall rechnen, berichtet Meedia unter Bezug auf verschiedene Quellen: "Dass Facebook und auch Google im besonderen Maße von den Folgen der Corona-Krise betroffen sein würden, war bereits seit Wochen von Analysten zu hören. 'Werbung ist ein Bereich, den man in unsicheren und volatilen Zeiten leicht reduzieren kann', gab etwa Collin Colburn, Senior-Analyst beim Marktforscher Forrester Research, zu bedenken." Allein bei Facebook rechnet man Einbußen von Anzeigengeldern in Höhe von 15,7 Milliarden Dollar, bei Google gar von 28,6 Millarden Dollar!
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Gesellschaft

Zwar sterben am Coronavirus mehr Männer, aber für Frauen führt sie dennoch zu größeren Ungerechtigkeiten, schreibt Carolina Schwarz in der taz aus feministischer Perspektive: "Das geht aus einer Studie hervor, die sich die wirtschaftliche Entwicklung in Hinblick auf Geschlechtergerechtigkeit nach Ebola 2014, Zika 2015 und 2016 sowie nach Sars, der Schweine- und der Vogelgrippe angeschaut hat. Demnach finden Männer nach einer Krise viel schneller zu ihrem eigentlichen Einkommen zurück als Frauen. Da Frauen häufiger als Männer in Teilzeit, Minijobs und oder im informellen Sektor arbeiten, verlieren sie in wirtschaftlich schwierigen Phasen auch schneller ihre Jobs."

Wie sieht es nach der Epidemie aus, fragt Gustav Seibt im Feuilleton-Aufmacher der SZ, denn zur Angst vor der Krankheit kommt nun die Angst vor der ökonomischen Krise. Hätte man vielleicht doch auf "Herdenimmunität" setzen sollen? Nein, meint er, denn: "Wären die jetzigen gemeinschaftlichen Maßnahmen nicht eingeleitet worden, dann hätten sich absehbar Panikwellen durch die Gesellschaft verbreitet. Auch dann wären große Teile der Wirtschaft zusammengebrochen. Auch wenn es sich nur um einige Hunderttausende in einer Bevölkerung von 80 Millionen Menschen handelt: Es scheint unvorstellbar, dass eine Gesellschaft es aushalten könnte, über längere Zeit einem solchen Sterben ohne massive Gegenwehr zuzuschauen. Vielleicht werden schon bald andere Länder Beispiele dafür geben, denen man vom reichen Deutschland aus entsetzt zuschauen kann."

Im Tagesspiegel wendet Christoph von Marschall ein: "Wenn die Wirtschaft wegbricht und damit auch die Staatseinnahmen, wird bald das Geld fehlen, um das Gesundheitssystem krisengerecht auszubauen, damit es nicht überwältigt wird, mit vielfacher Todesfolge. Und wovon sollen Familien leben, wenn sie über viele Monate kein Arbeitseinkommen mehr haben, aber auch die Direkthilfen vom Staat irgendwann nicht mehr fließen? Die öffentliche Hand kann vorübergehend deutlich mehr Geld ausgeben als sie einnimmt, nicht aber auf Dauer."

Außerdem: In der taz unterhalten sich Jan Feddersen und Edith Kresta mit dem Soziologen Hartmut Rosa über die verordnete Entschleunigung und das Unheimliche: "Hinter unserem Rücken kriecht Unverfügbarkeit in alle alltagspraktischen Ebenen des Lebens hinein. Weil wir den Virus nicht hören, nicht riechen, nicht schmecken." In der Zeit unterhalten sich Uwe Timm und Robert Habeck (der das Nachwort für Timms jüngstes Buch geschrieben hat) über die Corona-Krise, aber auch über die Veränderung der Gesellschaft seit 1968.

Außerdem in der FAZ: Der Historiker Jeffrey Herf antwortet auf einen Artikel Stefanie Schüler-Springorums (unser Resümee), die heute das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin leitet, und attackiert dessen Ansatz: In der Tradition Wolfgang Benz' vernachlässige das Zentrum den linken und den islamistischen Antisemitismus. Ein Beispiel: "Obwohl das Zentrum für Antisemitismusforschung nicht weit von den wichtigsten Archiven der einstigen DDR entfernt liegt, hat noch kein Forscher dieser Institution bislang eine archivalisch gestützte Geschichte des diplomatischen und militärischen Angriffs der DDR auf den jüdischen Staat vorgelegt."
Archiv: Gesellschaft