9punkt - Die Debattenrundschau

Schockierender Weg

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.06.2020. Heute jährt sich zum hundertsten Mal der Abschluss des Trianon-Vertrags. Die Ungarn verloren zwei Drittel ihres Staatsgebiets. Politico.eu und NYRB blicken auf die Spannungen in der Region. Die Geschichte der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zeigt, dass gewaltloser Protest zu Erfolg führt, Gewalt zum Gegenteil sagt der Politologe Omar Wasow in der Zeit. In der SZ träumt der Black-Panther-Aktivist Jamal Joseph von einer neuen Regenbogenkoalition. In Zeit online erklärt der Ökonom Dilip Ratha, warum so vielen Ländern im Moment die "Remittances" fehlen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.06.2020 finden Sie hier

Europa

Heute jährt sich der Abschluss des Trianon-Vertrags zum hundertsten Mal. Ungarn verlor durch den  Friedensschluss zwei Drittel seines Staatsgebiets an Kroatien, Rumänien, Serbien, die Slowakei, Slowenien und die Ukraine. Die national-populistische Regierung sieht für heute etwa eine außerordentliche Parlamentssitzung vor, berichten Lili Bayer und Matei Rosca bei politco.eu: "Die Gedenkfeier findet zu einem für die Region angespannten Zeitpunkt statt, Wochen nachdem der rumänische Präsident Klaus Iohannis ... wegen Äußerungen über die ungarische Minderheit Rumäniens zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Der Präsident hatte der rivalisierenden Sozialdemokratischen Partei vorgeworfen, 'in Hinterzimmern für die Übergabe Siebenbürgens an die Ungarn zu kämpfen'. Er wurde mit einer Geldstrafe von 5.000 rumänischen Lei oder rund 1.000 Euro belegt, bezeichnete die Strafe jedoch als 'zutiefst politisch' und sagte, er werde Berufung einlegen." Wie vergiftet das Klima ist, zeigt auch diese Information: "Vor einem Jahrzehnt dehnte Orbáns regierende Fidesz-Partei die Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht auf ungarischsprachige Menschen in den umliegenden Ländern aus - die inzwischen zu den treuesten Wählern der Partei gehören."

In der Vojvodina in Serbien etwa unterstützt Orban die ungarische Minderheit (200.000 Personen) mit 185 Millionen Euro, erzählt Kate Maltby in der New York Review of Books: "Und trotz seiner seiner Scharmützel mit der Europäischen Union hat sich Viktor Orbán dafür eingesetzt, dass diese neuen ungarischen Bürger Zugang zu den Vorteilen der EU-Mitgliedschaft haben, auch wenn sie außerhalb der ungarischen Grenzen leben, ein starker Anreiz für die Bewohner der Vojvodina, die ungarische Staatsbürgerschaft anzunehmen - serbische Bürger haben keine EU-Pässe."
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Kulturpolitik

Viele Bewohner in der Nachbarschaft der ukrainischen Schlucht von Babyn Jar wissen nicht einmal etwas von den durch die deutsche Besatzung an nur zwei Tagen ermordeten 30.000 Juden, sondern dank eines Denkmals nur von den durch "deutsche Faschisten getöteten Sowjetbürgern". Deshalb sponsern nur zwei jüdische Unternehmer, die in Russland Milliarden gemacht haben, ein Gedenkzentrum, schreibt Pavel Lokshin in der Welt. Nicht nur deshalb schlucken viele Ukrainer: Zum künstlerischen Leiter wurde DAU-Regisseur Ilja Chrschanowski ernannt (Unsere Resümees), der dort ein ähnliches immersives Projekt plant, so Lokshin: "Statt Laienschauspielern, die den Alltag des Stalinismus ausleben, sollen sich Besucher der Gedenkstätte einem sozialen Experiment unterziehen. Mit virtueller Realität, deep fakes, Gesichtserkennung und 'psychometrischen Methoden' will Chrschanowski für die Besucher 'einen schwierigen und manchmal schockierenden Weg' durch die Gedenkstätte vorzeichnen, in dessen Zentrum 'die Möglichkeit ethischer Entscheidungen' steht."

Neben der Rekonstruktion der "umstrittenen" Inschrift von Friedrich Wilhelm IV. am Kreuz auf dem Berliner Stadtschloss (Unsere Resümees) befindet sich noch eine weitere Inschrift, weiß Jörg Hänztschel auf Sueddeutsche.de: "Auf dem goldenen Reichsapfel prangt eine Widmung an einen weiteren König, einen Versandhaus-König: 'Im Gedenken an meinen Mann Werner A. Otto 1909 - 2011. Inga Maren Otto', lautet die Inschrift, die direkt über dem 'Äquator' des Reichsapfels eingraviert ist. Frau Otto hat das Kreuz mit ihrer Spende von einer Million Euro maßgeblich finanziert."
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Ideen

Nicht wenige brüsten sich heutzutage wieder mit ihrem "Antifaschismus". Wie problematisch dieser Begriff ist, erklärt Jan C. Behrends bei den Salonkolumnisten: "Antifaschismus war ein Kernbegriff im globalen Bürgerkrieg der dreißiger Jahre. Dabei hat er schon damals wenig zur Erklärung der politischen Lage beigetragen. Er diente primär zur Teilung der Welt in Faschisten und Antifaschisten. Für Sozialdemokraten, Liberale oder Konservative blieb da wenig Luft zum Atmen. Im Zweifelsfall wurden sie von Moskau dem faschistischen Lager zugerechnet."

Rassismus ist ein System, das "aufrechterhalten wird, um Ungleichheit zu installieren" - und somit auch ein deutsches Problem, schreibt Mely Kiyak in ihrer Zeit-Online-Kolumne: "Das System Rassismus in Deutschland funktioniert so, dass die Unbedrohten, die das System stützen, es gleichzeitig leugnen. Sie negieren die Ungleichheit und Ungleichbehandlung durch Politik, Polizei, Gesellschaft. Täglich wird in diesem Land aus rassistischen Gründen attackiert, angezündet oder sogar geschossen. Rassistisch motivierte Gewalt wird zum Alltag."

Maxim Biller attackiert in einem zweiseitigen (leicht redundanten) Zeit-Artikel linke Identitätspolitik, deren Verfechter er verdächtigt, wie einst die Nazis "mit dem tränenreichen, stigmatisierenden Hinweis auf die sie angeblich beleidigende sexuelle, soziale, geschlechtliche, moralische Zugehörigkeit von Irgendwem zu Irgendwas nur gesellschaftliche und berufliche Konkurrenten aus dem Weg räumen wollen, um zum Schluss selbst ihren Platz einzunehmen. Man kann es das Gründgens-statt-Granach-Prinzip nennen - oder auch, ein kleiner unnoltehafter Tritt gegen die all time-Bolschewiken ist immer erlaubt, den Gundermann-versus-Biermann-Trick. Bin ich zu hart, zu herzlos, zu arrogant? Ja, natürlich, was sonst."

Felix Riedel kritisiert in seinem Blog den Essay von Perlentaucher Thierry Chervel zur Mbembe-Debatte: "Er zeichnet eine flotte Diskursgeschichte der Relativierung, der Singularität, und konzediert den Mbembe-Unterstützern*innen damit noch das Recht auf eine Teilhabe an einem Opferdiskurs, wie verfremdet auch immer. Es geht aber nun einmal beim Vergleich von Israel mit Apartheid und Holocaust nicht um die Dimensionen, sondern um Verkehrung. Es ist bösartige Täter-Opfer-Umkehr, und nicht Relativierung. Man muss es einfach immer wieder erklären: Mbembe ist ein Antisemit nicht weil er relativiert, sondern weil er aus Opfer Täter und aus Tätern Opfer macht."
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Politik

Die Geschichte der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zeigt, dass gewaltloser Protest zu Erfolg führt, Gewalt zum Gegenteil - die Ausschreitungen nach dem Mord an Martin Luther King führten 1968 zum Wahlsieg Richard Nixons, erklärt der Politologe Omar Wasow im Gespräch mit Jörg Lau von der Zeit. Auch jetzt sollten gewaltfreie Bewegungen die Proteste nicht kapern lassen, warnt er: "Da sind auch viele weiße junge Leute dabei, Anarchisten oder Antifa-Anhänger. Die sind auch gegen die Polizeigewalt, aber sie haben keine vergleichbaren Diskriminierungserfahrungen, und sie fühlen sich der Tradition des gewaltlosen Widerstands nicht verpflichtet. Es kommt zwischen den Gruppen zu interessanten Spannungen: Schwarze Aktivisten haben an verschiedenen Orten versucht, weiße Teilnehmer am Vandalismus zu hindern. Denn sie müssen befürchten, dass deren Taten am Ende ihnen zugeschrieben werden, wie es dem Klischee des gewaltbereiten schwarzen jungen Mannes entspricht."

Ebenfalls in der Zeit porträtiert Kerstin Kohlenberg den Aktivisten (und Ehemann von Mariah Carey) Hawk Newsome, der nicht mehr an Gewaltlosigkeit glauben will.

Der Rassismus der amerikanischen Polizisten ist das Erbe der Sklaverei, sagt im SZ-Interview mit Jonathan Fischer der Filmemacher und ehemalige Black-Panther-Aktivist Jamal Joseph. Er setzt auf einen neuen "Graswurzel-Aktivismus": "Präsident Trump hat viele seiner Anhänger vor allem aus der ärmeren weißen Unterschicht zu dem Glauben angestiftet, dass ihre braunen, schwarzen, asiatischen oder spanischsprechenden Mitmenschen Schuld an ihren Problemen haben. Nichts fürchten die Herrschenden mehr als eine Zusammenarbeit über Rassengrenzen hinweg. Das bewerkstelligte etwa der (von der Polizei im Schlaf ermordete) Black-Panther-Anführer Fred Hampton Ende der Sechziger in Chicago: Er brachte in seiner Rainbow Coalition arme Schwarze, Latinos und Weiße dazu, zu erkennen, dass sie alle unter denselben Mechanismen des Kapitalismus leiden und sie nur gemeinsam überwinden könnten."  

Die Pandemie hätte die USA unter jedem anderen Präsidenten weniger hart getroffen, sagt der kanadisch-amerikanische Publizist, Republikaner und Trump-Kritiker David Frum im Welt-Interview mit Hannes Stein: "Das Land wäre besser vorbereitet gewesen. In den vergangenen Jahrzehnten gab es Bemühungen, unabhängige amerikanische Beobachter nach China zu entsenden - es gab Dutzende Abgesandte im chinesischen Landwirtschaftsministerium, bei den chinesischen Gesundheitsbehörden, sodass wir uns nicht auf die offiziellen Angaben verlassen mussten. Außerdem gab es natürlich amerikanische Korrespondenten in China. Trump hat diese amerikanischen Beobachter abgezogen. Danach haben die Chinesen die amerikanischen Journalisten rausgeschmissen, ohne dass wir groß protestiert hätten."

Millionen Menschen auf der Welt droht Hunger und Armut, weil durch die Coronakrise viele Migranten kein Geld mehr in ihre Herkunftsländer überweisen können, prophezeit der Ökonom Dilip Ratha im Zeit-Online-Gespräch mit Vanessa Vu: "Es gibt etwa 270 Millionen internationale Migranten und 800 Millionen Binnenmigranten, das macht mehr als eine Milliarde Menschen. Viele von ihnen unterstützen Verwandte in der Heimat, indem sie ihnen regelmäßig Geld schicken, sogenannte Remittances. Auf jeden Migranten kommen schätzungsweise zwei weitere, die von ihm abhängig sind. Wir haben es also mit zwei oder drei Milliarden Menschen von siebeneinhalb Milliarden Menschen auf der Welt zu tun, die irgendwie überleben müssen, wenn ihre Verwandten im Ausland kein Geld mehr schicken können - oder weniger als sonst. Das kann weitreichende Folgen haben: In Ländern wie Tonga, Haiti und Südsudan machen Remittances mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes aus. In Ägypten kommt mehr Geld über Remittances rein als über den Suezkanal. In Indien betragen Remittances mehr als ausländische Direktinvestitionen. Und in Mexiko sind sie größer als die Einnahmen aus Ölexporten."

Weiteres: Im Tagesspiegel erzählt Christoph von Marschall eine kurze Geschichte der Sklaverei und des Rassismus in den USA. In der FR denkt Claus Leggewie über die Parallelen zwischen Trump und Caligula nach: "Ein paranoider Sadist, der die Senatoren-Elite kujonierte, Menschen willkürlich verhaften und foltern ließ und zur Prostitution zwang, und ein zynischer Narziss, der sich als Gott verehren ließ, seinen Gaul zum Konsul bestellte und Zeremonien nach dem Vorbild orientalischer Despoten inszenierte."
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