9punkt - Die Debattenrundschau

Gute Nachrichten, die nicht nur gut sind

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.11.2022. Olaf Scholz reist heute nach China. Das Handelsblatt weist nach, dass die KP Chinas in deutschen Unternehmen mit regiert. Claudia Roth sucht laut SZ nach einem Cache-Sexe für den Bibelspruch am Humboldt-Forum. War Tom Buhrows Rede über die Öffentlich-Rechtlichen eine Bombe? Hier herrscht Uneinigkeit. Und die Journalisten streiten auch über eine andere Frage: soll man Twitter verlassen? Oder soll man es nicht so ernst nehmen?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.11.2022 finden Sie hier

Politik

Heute trifft Olaf Scholz unter den Augen der Weltöffentlichkeit Xi Jinping. Im Tross sind deutsche Manager, die sich Aufträge erhoffen. Chinas Einfluss wächst auch in deutschen Unternehmen: Laut Insiderinformationen, die dem Handelsblatt vorliegen, "entscheiden in mindestens einem Werk eines Konzerns, der im deutschen Leitindex Dax gelistet ist, KP-Parteimitglieder mit über Standortfragen, Geschäftsmodelle und Personalien", schreibt Dana Heide in einem Text, den Tagesspiegel+ vom Handelsblatt übernommen hat:  "Es sind Orte wie der Raum in einem Werk eines deutschen Autoherstellers irgendwo in China, in denen die Diskussionen über politische Risiken im Chinageschäft ganz praktische Realität werden. Die Wände sind bestückt mit Tafeln, auf denen sich die Kommunistische Partei in bestem Licht darstellt, und mit Werbung, die Mitarbeitende anspornt, Teil der Organisation zu werden. Hier trifft sich regelmäßig die sogenannte Parteizelle des Unternehmens. Einen Raum wie diesen gibt es so oder so ähnliche auch in Hunderten anderen Niederlassungen ausländischer und chinesischer Firmen in der Volksrepublik. Denn seit mehreren Jahren müssen Unternehmen in China, in denen drei oder mehr Parteimitglieder arbeiten, eine offizielle Vertretung der Kommunistischen Partei einrichten."

"Es gibt gute Nachrichten, die nicht nur gut sind", beginnt Welt-Autor Thomas Schmid seinen Kommentar über den knapp als Präsident wiedergewählten brasilianischen Politiker Lula da Silva. Gut ist die Nachricht, dass Jair Bolsonaro abgewählt wurde. Schlecht ist die Nachricht, dass Lula außenpolitisch eine Art Jeremy Corbyn ist, besonders was Israel angeht. Und am Ukrainekrieg sind für Lula leider im wesentlichen die Nato und die EU schuld: "Von da aus ist es nicht mehr weit zu einem harschen Urteil über den ukrainischen Präsidenten Selenski. Lula: 'Der Kerl ist ebenso verantwortlich für den Krieg wie Putin.' Und er wirft Selenski vor, Hass gegen Putin zu schüren, statt sich um Verhandlungen zu bemühen. Lula geht noch einen Schritt weiter: Selenski 'will Krieg. Würde er ihn nicht wollen, hätte er sich etwas mehr um Verhandlungen bemüht.' Selenski als Kriegstreiber: Das muss einem, wenn man nicht gerade Wagenknecht oder Precht heißt, erst einmal einfallen."

Der äthiopische Krieg gegen die Bevölkerungsruppe der Tigray scheint zu einem Ende zu kommen, die Rebellen von der TPLF und die Regierung des Landes einigen sich auf ein Friedensabkommen, berichtet Dominic Johnson in der taz: "Der TPLF starb die Bevölkerung weg, während Äthiopiens Regierung vor dem Staatsbankrott stand: In der globalen Krise infolge des Kriegs in der Ukraine, der Verteuerung von Lebensmitteln und einer schweren Dürre war der Krieg im eigenen Land nicht mehr finanzierbar. Beide Seiten hatten Interesse an einer Einigung, und die internationalen Vermittler in Pretoria machten klar: Ihr geht hier nicht ohne ein Ergebnis weg." Die Zahl der Toten in zwei Jahren Krieg wird auf 500.000 geschätzt, so Johnson in einem zweiten Artikel.

Und hier:

Die "Mixtur aus Fundamentalismus, Populismus, Nationalismus und Rassismus", die die Parteien charakterisiert, die nun die absolute Mehrheit im israelischen Parlament haben, bedeutet eine "extreme Gefährdung der israelischen Demokratie", befürchten Moshe Zimmermann und Shimon Stein im Tagesspiegel: "Die zwei Parteien der Ultra-Orthodoxie (zusammen etwa 15 Prozent der Stimmen), der automatischen Koalitionspartner Netanjahus, lassen keine Frauen als Abgeordneten zu, beharren auf der Einführung der Halacha (jüdisches Gesetz) als Staatsgesetz, und beanspruchen für Israel die besetzten Palästinensergebiete aufgrund der biblischen Verheißung. Da der Anteil der Ultraorthodoxen in der jüdischen Bevölkerung ständig wächst, ist die Fortsetzung des Rechtsrucks dank dieser Bevölkerungsgruppe garantiert. Doch dann ist da noch der vierte potenzielle Koalitionspartner, der radikalste - die 'Partei des religiösen Zionismus' (10,5 Prozent). Das ist die Partei, die nicht nur für eine aggressive Siedlungspolitik steht, sondern auch, in ihren eigenen Worten, den arabischen Israels zeigen möchte, wer 'Herr im Haus' ist."
Archiv: Politik

Medien

FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld, der Tom Buhrows Rede über wünschenswerte Reformen bei den Öffentlich-Rechtlichen zuerst brachte, ist sehr aufgeregt über die "Bombe" und zitiert eher maue Reaktionen aus den Staatskanzleien der Länder. Auch der ZDF-Intendant Norbert Himmel hat bei einem Pressegespräch reagiert, das Hanfeld zusammenfasst. "Einer möglichen Fusion erteilte er eine diplomatische Absage: 'Wir sind mit unseren drei linearen Kanälen vergleichsweise schlank aufgestellt. Ich finde es wichtig, dass wir auch im publizistischen Wettbewerb sind', sagte Himmler."

Buhrow mag vor Kühnheit gezittert haben, als er die Rede hielt, Perlentaucher Thierry Chervel mag nicht recht dran glauben. Die Sender sind politisch viel zu stark abgesichert und blockiert, als dass man Grundsätzliches an ihnen ändern könnte, fürchtet er in einem Twitter-Thread. Charakteristisch sei darum eher, was Buhrow inhaltlich ins Spiel bringt: "Er schlägt vor, die Rundfunkorchester zu schleifen, bis nur noch ein paar Spitzenensembles übrig bleiben. Kultur will er zentralisieren. Worüber er überhaupt nicht redet, sind die Sportrechte. Allein für die Fußball-WM im Sklavenhalter-Staat Katar zahlen die Sender meines Wissens über 200 Millionen Euro. Die deutschen öffentlich-rechtlichen Sender tragen mit diesen ungeheuren Summen maßgeblich dazu bei, dass solche Ereignisse, über die sie dann vorgeben zu berichten, überhaupt stattfinden."

Mit seinem Vorschlag hätte "Buhrow nicht nach Hamburg reisen müssen, sondern schon vor zehn Jahren loslegen können, als er nämlich zum Intendanten des WDR gewählt wurde", schreibt Willi Winkler in der SZ: "Zugegeben, es gab Wichtigeres - das Kulturprogramm einzudampfen, mit Bild auf Omas Motorrad durch den Hühnerstall zu kurven und ein Jahresgehalt von 400.000 Euro zu rechtfertigen, aber schließlich wurde auch Rom nicht an einem Tag zerstört."

Spricht Buhrow, sonst eher für "wolkige" Texte bekannt, hier vielleicht als Privatmann, fragt sich Dirk Peitz (ZeitOnline) und vermutet, dass es sich nur um eine "selbst entlastende Geste" handeln könnte: "Buhrows Rede selbst war am Ende ein Best-of der Klagen über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, da verbanden sich Form und Inhalt ganz gut, wenn auch nicht unbedingt mit dem bisherigen Intendantenhandeln des Vortragenden. Man kann diese Rede aber durchaus als spätes öffentlich-rechtliches Eingeständnis des Scheiterns der bisherigen Logik betrachten, mit der der ÖRR in Deutschland einfach immer weiter gewachsen ist: mehr Sender für mehr Spezialinteressen an mehr medialen Ausspielorten. Systeme neigen bekanntlich nicht dazu, sich selbst abzuschaffen oder nur zu verkleinern. Aber womöglich war Buhrows Rede ja wirklich ein uneigennütziges und ehrliches Bekenntnis von jemandem, der nach einem Volontariat beim Bonner General-Anzeiger seit 1985 seine gesamte berufliche Laufbahn beim ÖRR verbracht hat."
Archiv: Medien

Kulturpolitik

Claudia Roth hat sich für die Idee ausgesprochen den umstrittenen Bibelvers am Humboldt Forum zeitweise mit einem Kunstprojekt zu überblenden, meldet Joshua Beer in der SZ: "Zu meinen, in der Inschrift stecke 'einfach nur ein unpolitisches Zeichen von Religiosität', sei 'erstaunlich und geschichtsblind', teilte Kulturstaatsministerin Roth mit. Aus der Inschrift ließe sich aus Sicht vieler Historiker eindeutig eine politische Botschaft ableiten, die den allein von Gott abgeleiteten Herrschaftsanspruch des Preußenkönigs untermauere. Grundgesetz und Demokratie stünden nicht in der Traditionslinie eines repressiven Königs- und Kaisertums, das seinen Machtanspruch allein auf Gott begründete, so Roth."
Archiv: Kulturpolitik

Europa

Der SPD-Politiker Sigmar Gabriel hat auf Twitter das Regime von Katar mit dem Argument verteidigt, bei uns seien Gastarbeiter doch auch nicht gut behandelt worden und Homosexualität habe lange als Straftatbestand gegolten. Diese Relativierung hat für Ahmad Mansour System. Bei Ländern wie den USA, Ungarn oder Italien hätte die SPD schließlich kein Problem die Zustände zu kritisieren, schreibt Mansour in seiner Focus-Kolumne. Bei der SPD hat das Verständnis für Autokatien schon lange Tradition: "Jahrelange pflegte die SPD gute Kontakte zum iranischen Regime. Warnungen aus Israel, von Juden, Exiliranern und aus arabischen Ländern wurden ignoriert. Und das, obwohl es genug Bilder von Getöteten gibt, die beispielweise aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ermordet wurden, oder von Mullahs, die Frauen auf offener Straße drangsalieren und mit Gewalt inhaftieren, weil sie kein Kopftuch tragen."

Die AfD ist vor das Bundesverfassungsgericht gezogen, um ihren Anspruch auf staatliche Finanzierung ihrer Desiderius-Erasmus-Stiftung einzuklagen. Und sie wird wohl Recht bekommen, fürchtet der SZ-Redakteur Ronen Steinke in der Jüdischen Allgemeinen. Er hätte ein Gesetz bevorzugt, mit dem alle anderen Parteien, die ihre parteinahen Stiftungen prächtig versorgt haben, die AfD von diesem Anspruch ausschließen. "Die AfD ist keine Partei wie jede andere. Spätestens nachdem in der vergangenen Woche vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt wurde, ist aber absehbar: Die Richter werden womöglich gar nicht umhinkommen, der AfD dieses Geld zuzusprechen. Richter sind an das Recht gebunden. Der Bundestag hat es versäumt, ein Gesetz zu schaffen, mit dem man die AfD-Stiftung rechtsstaatlich sauber aus diesem Klub ausschließt... Das muss sich nun ändern - dringend."
Archiv: Europa

Internet

Viele Menschen erklären zur Zeit, dass sie Twitter verlassen, weil Elon Musk nun dort regiert. Aber eigentlich war es schon vor Musk ein Fehler, Twitter allzu ernst zu nehmen, meint Jonathan Kay bei Quillette: "Am freudlosesten und wütendsten wirken immer die Hohepriester, die sich auf Twitter als Hüter heiliger Wahrheiten präsentieren und von ihren Anhängern erwarten, dass sie die Rolle gehorsamer Gemeindemitglieder übernehmen. Da auf Twitter nichts heilig ist, ziehen ihre Predigten vorhersehbar Spott und Kritik auf sich. Dieser Spott und diese Kritik werden wiederum zum Hauptthema des Priesters und setzen damit weitere Zyklen der Lobhudelei, des Spottes und des Selbstmitleids in Gang. Kein Wunder, dass sie immer so 'erschöpft' sind."

In Atlantic erklärt David Frum, dass er Twitter verlässt. Sein Anlass war, dass Musk einen verschwörungstheoretischen Tweet über den Hammeranschalg auf Paul Pelosi retweetet hatte. Und doch liest sich Frums Artikel auch als Hommage auf Twitter: "Twitter bietet eine Fülle von Informationen, aber auch Schnelligkeit. Auf diese Weise erhalte ich Zugang zu allem, von technischen Diskussionen über Inflation bis hin zu Streitigkeiten darüber, wie Geschichte geschrieben werden sollte. Und hier finde ich Experten und erfahre, wer sich mit wem über was streitet. Ich habe Twitter auch als eine Art Notizbuch benutzt: ein Ort, an dem ich Ideen ausprobiere oder manchmal Witze erzähle. Die erzwungene Kürze von Twitter kann eine gute Disziplin für einen Schriftsteller sein. Und, als eine der zweideutigeren Gaben, bietet Twitter eine virtuelle Gemeinschaft: oft boshaft, aber auch überraschend offen und egalitär. Ich habe an einem einzigen Tag auf Twitter mehr originelle Ideen von Leuten gehört, die ich vorher nicht kannte, als in manchem Monat auf Washingtoner Konferenzen."
Archiv: Internet
Stichwörter: Twitter, Musk, Elon, Inflation