9punkt - Die Debattenrundschau

Im Grunde ist das Gegenteil wahr

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.09.2017. Facebook muss zugeben, dass Russland im amerikanischen Wahlkampf ausländerfeindliche Events über seine Plattform organisierte, berichtet The Daily Beast. In Frankreich herrscht Aufregung über einen Debattenbeitrag der New York Times, der Emmanuel Macron als Luftnummer abtut, berichtet Libération. Izmir ist das neue Istanbul - die SZ besingt die von der oppositionellen CHP regierte Stadt. Texte zur Kunst und Zeit online fragen, wie aus den Subjekten des Feminismus "intersektionale Bündnispartnerinnen" des Queerismus werden konnten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.09.2017 finden Sie hier

Internet

Letzte Woche musste Facebook zugeben, dass russische Hacker die Plattform für Propaganda im amerikanischen Wahlkampf missbrauchten (unser Resümee, Einflussnahme von Ausländern in amerikanischen Wahlkämpfen ist verboten). Nun berichtet The Daily Beast, dass Russland im Wahlkampf "Facebook benutzte um Demos gegen Immigranten auf amerikanischem Boden" zu organisieren. "Ein Facebook-Sprecher bestätigte gegenüber The Daily Beast, dass der Gigant der sozialen Medien 'einige der so beworbenen Ereignisse im Rahmen der Schließungen, über die wir letzte Woche kommunzierten, abgeschaltet haben'. Die Firma wollte nichts Näheres ausführen und bestätigte nur, dass diese Events mit bezahlten Anzeigen beworben wurden. (Dies ist das erste Mal, dass die Plattform öffentlich die Existenz solcher Ereignisse anerkannte.)"

Die Firma Equifax, die die Bonität von Kreditnehmern überprüft, musste zugeben, dass die Daten inklusive Soazialversicherungsnummer, von 143 Millionen Amerikanern durch Hacker erbeutet wurden. Es ist "die Art Verbrechen, die Identitätsdiebstahl ermöglicht", und so etwas passiere nicht zum ersten Mal, kommentiert Zeynep Tufekci in der New York Times: "Es gibt technische Faktoren, die erklären, warum die Cyber-Sicherheit so schwach ist, aber die Ursache ist politisch, und ziemlich simpel: Große Firmen haben große Summen Geld in unser politisches System gepumpt und damit dazu beigetragen, Regulierungen zu schaffen, in denen die Konsumenten immer mehr und die Firmen immer weniger Risiken tragen."

Alles, was der Medienseite der FAZ zum Wahlkampf einfällt, ist ein Text von zwei CDU-Abgeordneten, die die gerade verabschiedete Störerhaftung vermissen, weil durch die freie Benutzung von Wlan-Netzen die "Urheber" nun angeblich wehrlos dastehen: "Täter sind in der Folge nicht identifizierbar und damit faktisch nicht haftbar. Die Rechteinhaber sind deshalb auf die Haftung desjenigen angewiesen, der durch die Bereitstellung eines anonymen Wlan-Netzes zur Gefahr beigetragen hat."
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Europa

In einem Punkt hat Tayyip Erdogan bei aller Kritik recht, schreibt Jürgen Gottschlich in der taz: "Alles spricht dafür, dass die Gülen-Sekte bei dem Putschversuch eine tragende Rolle gespielt hat. Davon ist nicht nur Erdogan überzeugt, sondern auch die gesamte Opposition und wohl mindestens 90 Prozent der Bevölkerung. Selbst ein so kritischer Geist wie der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk hat kürzlich in einem Interview erklärt, nach Sichtung allen vorhandenen Materials sei er ebenfalls überzeugt, dass die Gülen-Sekte für den Putschversuch zumindest mitverantwortlich ist."

Auf der Seite 3 der SZ zeichnet Mike Szymanski ein fröhliches Bild der türkischen Stadt Izmir, in der die  säkulare CHP regiert, nicht Erdogans AKP. Selbst aus Istanbul flüchten sie hierher (16.000 im letzten Jahr), wo Frauen noch unbehelligt Shorts tragen können und Männer auf der Straße ein Bier trinken dürfen: "In Istanbul, 500 Kilometer von Izmir entfernt, wurde gerade eine 24-Jährige in einem Stadtpark vom Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes angeblafft, sie könne nicht in kurzen Hosen herumlaufen, 'weil dies andere Leute stört'. Es kam zum Streit, aber es blieb bei Worten. 2016 trat in Istanbul der 35-jährige Abdullah Ç. einer Krankenschwester in einem Bus ins Gesicht, weil sie Shorts trug. 'Du bist der Teufel', schrie der Mann. 'Das hätte der mal hier versuchen sollen', sagt Sema Gür. Die Frauen in Izmir haben nach dem Überfall in Istanbul auf ihre Weise protestiert. Sie haben sich Shorts angezogen, kurz und knapp, und sind raus auf die Straße. Denn Izmir ist nicht einfach nur eine Vier-Millionen-Stadt an der Westküste der Türkei. Izmir ist eine Art Gegenentwurf zur 'neuen Türkei'."

Ein New-York-Times-Debattenbeitrag des britischen Politologen Chris Bickerton hat in Frankreich große Aufregung ausgelöst. Bickerton hat Emmanuel Macron darin als Luftnummer abgekanzelt - vor allem Macrons narzisstische Machtinszenierungen stören ihn: "Diese arrogante Haltung zur Macht hat das Anti-Establishment- und Startup-Image, das Macron während des Wahlkampfs kultivierte, zerstört. Die postideologische Plattform, von der er startete, erweist sich als das, was sie wirklich ist: eine Leere im Herzen seines politischen Projekts." Macron-Sprecher reagierten darauf, indem sie den Autor als Sympathisanten des Front National hinstellten, aber das stimmt nicht, schreibt Pauline Moullot in Libération, denn ein Artikel Bickertons in Foreign Affairs aus dem letzten Jahr, der als Beweis für die Front-national-Nähe herhalten sollte, "ist in Wirklichkeit eine politische Analyse des Populismus des Front national im Licht der damaligen Regionalwahlen".

PiS hin oder her, in Polen ist die Kulturlandschaft noch intakt, versichert Basil Kerski, Chef des Solidarnosc-Zentrums in Danzig, im Gespräch mit der NZZ. "Die Politik der PiS-Regierung, vor allem der Versuch der Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz und die nationalistische Politik, hat die polnische Demokratie erheblich beschädigt, doch noch ist Polen, vor allem die polnische Zivilgesellschaft, nicht verloren. Sorgen macht mir das in Westeuropa immer häufiger auftretende Vorurteil, es zeige sich in Polen, dass die Demokratie im postkommunistischen Europa keine tiefen Wurzeln geschlagen habe und nun seine autoritären Traditionen an die Oberfläche kämen. So einfach ist die Entwicklung in den neuen EU-Ländern nicht."

Etwas wolkig klingt die von Harald Welzer in der taz geäußerte Kritik am Wahlkampf in Deutschland: "So wenig Zukunft war in der Moderne, die doch durch einen emphathischen Fortschrittsbegriff begründet ist, niemals zuvor. Und niemals so viel Redundanz und Fantasielosigkeit und niemals so viel Anästhesie durch Konsumscheiß jeglicher Art." Zentrale Zukunftsfragen, so Welzer, würden im Wahlkampf nicht angesprochen -  er selbst spricht dann aber nur über das Flüchtlingsproblem.
Archiv: Europa

Gesellschaft

"Man sollte dich köpfen". Diesen Satz, der Politikerin Renate Künast auf Facebook an den Kopf geschleudert, hält die Berliner Staatsanwaltschaft für eine zulässige Meinungsäußerung. In der SZ fasst sich Heribert Prantl an den Kopf: Haben die Berliner überhaupt keinen Maßstab mehr? Die Wahrheit könnte profaner sein: "Ein Ermittlungsverfahren wird eingestellt, so steht es in Paragraf 170 der Strafprozessordnung, wenn kein 'hinreichender Tatverdacht' besteht. In den Facebook-Fällen gibt es den hinreichenden Verdacht durchaus - auch gegen die Staatsanwaltschaft. Man hat nämlich den Verdacht, dass die einfach zu bequem ist, sich gegen eine Flut von Bösartigkeit, Gemeinheit und Hass zu stellen. Aber: Faulheit ist kein Grund dafür, Strafverfahren einzustellen."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Es mag nicht so gemeint sein, aber Floris Biskamps Text in Texte zur Kunst über den von Patsy l'Amour laLove herausgegebenen Sammelband "Beißreflexe" zeigt sehr schön, wie Frauen, die sich im Feminismus gerade emanzipiert hatten, im Zuge "queerer" Kritik am Feminismus wieder zu einem Nebenwiderspruch degradiert wurden. Die zuerst von Judith Butler vorgebrachte Kritik habe die Probleme der "Zweigeschlechtlichkeit" benannt, die der Feminismus noch naiv behauptet hatte: "Mit solchen Argumenten schließt queere Kritik an Jahrzehnte feministischer Selbstkritik an, in der 'die Frau' als einheitliches Subjekt des Feminismus immer weiter infrage gestellt wurde. Damit wurde sie auch zu einer naheliegenden intersektionalen Bündnispartnerin für antirassistische Kritik und postkolonialen Feminismus, die schon lange problematisieren, dass die wirklichen Interessen nichtweißer, nichtwestlicher Frauen in feministischen Kämpfen für 'die Rechte der Frau' oft unberücksichtigt bleiben." Vom Subjekt des Feminismus zur "intersektionalen Bündnispartnerin", was für ein Aufstieg!

Dass Frauenrechte und Feminismus in Queergisistan nur eine Nebenrolle spielen, liegt daran, dass Genderforschung eben ein akademischer Diskurs ist, Feminismus dagegen eine politische Bewegung, meint auf Zeit online Antje Schrupp. Überhaupt seien die Frauen selbst schuld an ihrer Marginalisierung: "Es war in den 1990er Jahren eine Strategie vieler (nicht aller) Feministinnen, den Bezug auf 'Frauen' aufzugeben und stattdessen mehr und mehr von 'Gender' zu sprechen. Nicht mehr Frauenforschung zu betreiben, sondern 'Gender-Forschung'. Nicht mehr weibliche Politik machen zu wollen, sondern 'geschlechtergerechte' Politik. Sie verbanden damit die Hoffnung, den Feminismus aus seiner Nische zu holen und in den Mainstream zu bringen." Das hatte keinen Erfolg, aber einen Preis, so Schrupp. "Im Zuge dieses Paradigmenwechsels wurden Frauen nämlich von Subjekten des Handelns zu Objekten des Erforschtwerdens. 'Frauenforschung' hatte sich noch dafür interessiert, was Frauen taten und sagten. 'Gender-Forschung' hingegen erforscht, was über Geschlecht gesagt wird."

Durch das Internet wurde die Welt noch schneller, noch komplexer und noch unübersichtlicher, klagen viele. In der NZZ Roman Bucheli äußert seine Zweifel an dieser These: "Allein, die Gemütlichkeit, mit der sich viele Zeitgenossen eingerichtet haben in der Vorstellung von der angeblich unübersichtlich gewordenen und scharf beschleunigten Welt, müsste jedes kritische Bewusstsein stutzig machen. Denn sie steht im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu der behaupteten Ungemütlichkeit, die doch Phänomene der Beschleunigung und der Unübersichtlichkeit begleitet. Wer heute von der Welt sagt, sie sei unübersichtlich, macht keine kühle Diagnose, er redet in modischen Worthülsen und ist einfach denkfaul. Denn im Grunde ist das Gegenteil wahr".
Archiv: Ideen