9punkt - Die Debattenrundschau

Am Ende erhalte ich Machtpolitik

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.03.2020. 54books bringt den Protestbrief von Rowohlt-AutorInnen gegen den Plan des Verlags, Woody Allens Memoiren zu veröffentlichen. Es gebe keinen Grund an den Aussagen von Woody Allens Tochter Dylan Farrow zu zweifeln. Das sieht Jo Glanville von Index on Censorship im Guardian völlig anders. Bei Cicero kritisiert Necla Kelek die Thesen der Autorin Kübra Gümüsay über Diskriminierung in Deutschland. In der NZZ bedauert der Philosoph Peter Strasser die Uniformierung der akademischen Sprache.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.03.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Das Prinzip "im Zweifel für den Angeklagten" gilt nicht für die #MeToo-Debatte. Auch der Rowohlt-Verlag bekommt jetzt Ärger, weil er - wie Hachette in den USA - die Memoiren von Woody Allen veröffentlichen will, dem von seiner Tochter seit Jahren sexueller Missbrauch vorgeworfen wird. Hachette hat nach Protesten der eigenen Mitarbeiter beschlossen, Allen fallen zu lassen. Auch eine Reihe von Rowohlt-AutorInnen, darunter Till Raether, Margarete Stokowski, Kathrin Passig, Sebastian Janata, Giulia Becker, Nis-Momme Stockmann, Lena Gorelik und Sascha Lobo, wenden sich gegen die Veröffentlichung und begründen ihren Protest in einem offenen Brief: "Wir sind enttäuscht über die Entscheidung des Rowohlt Verlags, die Autobiografie von Woody Allen zu veröffentlichen. Wir haben keinen Grund, an den Aussagen von Woody Allens Tochter Dylan Farrow zu zweifeln." Veröffentlicht ist der Brief in dem Blog 54books. Mehr in der taz.

Im Guardian fragt eine entgeisterte Jo Glanville, ehemalige Leiterin des englischen PEN in Britannien und Redakteurin von Index on Censorship, ob die protestierenden Mitarbeiter von Hachette wirklich nicht begreifen, wie sehr dieser Schuss nach hinten losgehen kann und erinnert an eine - bisher auch von Linken akzeptierte - Selbstverständlichkeit: ein Mensch gilt als unschuldig, bis er von einem Gericht verurteilt wurde. "Es wurde schon oft wiederholt: die Vorwürfe gegen Woody Allen wurden zwei Mal untersucht, doch er wurde nie angeklagt. Dylan und Ronan beschuldigen Woody Allen, aber er wurde nie für schuldig befunden. Es wurde nichts bewiesen. Es gibt in der Tat keinen akzeptablen Grund, Woody Allens Buch nicht zu veröffentlichen. Die Mitarbeiter von Hachette, die protestierten, verhielten sich nicht wie Verleger, sondern wie Zensoren. Ich schaue mir Woody-Allen-Filme seit meiner Kindheit an und würde sein Buch gerne lesen. Ich würde sein Buch sogar lesen wollen, wenn er für schuldig befunden würde, denn ich interessiere mich für den Mann, seine Arbeit und sein Leben. Ich überprüfe nicht die moralische Reinheit oder das Strafregister von Schriftstellern, bevor ich sie lese. ... Ich habe immer Angst, wenn ein Mob, wie klein und gut belesen er auch sein mag, ohne jegliche Rechenschaftspflicht, ohne Verfahren und ohne Rechtsmittel Macht ausübt. Das macht mir viel mehr Angst als die Aussicht, dass Woody Allens Autobiografie in die Buchläden kommt."

Auch Stephen King findet die Entscheidung des Hachette Verlags gefährlich, berichtet Edward Helmore im Observer: "'Mir ist dabei sehr unwohl', schrieb der Horrorschriftsteller auf Twitter. 'Nicht wegen Allen, er ist mir schnuppe. Aber mich ängstigt die Frage, wer als nächstes mundtot gemacht wird.'" Und in einem zweiten Tweet: "Wenn Sie glauben, Allen sei ein Pädophiler, dann kaufen Sie einfach sein Buch nicht. Gehen Sie nicht in seine Filme. Gehen Sie nicht ins Carlyle, um ihn Jazz spielen zu hören. Wählen Sie mit Ihrer Brieftasche ... So machen wir das in Amerika."

"Die Entscheidung von Hachette sendet ein fatales Signal", warnt in der SZ David Steinitz: "an Missbrauchsopfer, weil den Verlag der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs nicht gestört zu haben schien, solange in Aussicht stand, dass man mit dem Buch Geld verdienen kann - und sich niemand beschwert hat. Und an Autoren, weil der Verlag sie nicht aufgrund von Fakten und Beweisen, sondern von Meinungen und Stimmungen fallen lässt."

Julia Prosinger und Esther Kogelboom sprechen im Tagesspiegel mit der Autorin Franka Frei, die in dem Buch "Periode ist politisch" das "Tabu Menstruation" thematisiert. Man sollte nicht gleich verurteilen, wie andere Kulturen mit dem Thema umgehen, meint sie unter anderem: "In Nepal gibt es eine alte Tradition: Chaupadi. Dabei werden Menstruierende vom Rest der Gesellschaft räumlich getrennt, sie gelten als unberührbar, bekommen ihr eigenes Geschirr. Gleichzeitig wird die Menarche, also die erste Regel eines Mädchens, gefeiert. Das wird oft gerade von westlichen Medien negativ dargestellt. Für die Menschen steht dahinter aber der Gedanke, dass Frauen sich zurückziehen und ausruhen können."

Gareth Joswig unterhält sich in der taz mit dem Kriminalbeamten Bernd Wagner, der schon in der DDR Polizist war und seit den siebziger Jahren mit Rechtsextremismus dort konfrontiert war. Der Parteiapparat nahm das zwar irgendwann zur Kenntnis, erzählt er, aber gab dem Westen die Schuld. Zu sagen, "dass es Faschismus im Sozialismus, Neonazis in der DDR eben doch gab - das war absolut dissident, niemand wollte das damals hören. Immenser Druck von oben war die Folge. Mein Chef schrieb auf ein Traktat von mir: Warum liebt der Genosse Wagner die Partei nicht? Auch die Stasi ermittelte zeitweise gegen mich - ich sollte eingesperrt werden wegen Geheimnisverrat. Ich musste danach meine Analysen verklausulieren und konnte keinen Klartext reden." Wagner hat nach dem Mauerfall die Organisation "Exit" gegründet, die Neonazis den Ausstieg erleichtern soll.
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Ideen

Necla Kelek analysiert bei cicero.de das viel besprochene Buch "Sprache und Sein" der Bloggerin Kübra Gümüsay, die anhand von Sprache die Diskriminierung von Türken in Deutschland beschreiben will. Kelek kritisiert, dass Gümüsay die deutsche Gesellschaft mit einem Zirkelschluss immer in die Position der Schuldigen schiebe: "Sie wirft den Deutschen Diskriminierung vor, wenn von den muslimischen Frauen oder den Muslimen gesprochen wird, nimmt aber das Kollektivmandat für sich in Anspruch, wenn sie von 'Wir Fremde' spricht... Die Autorin nutzt die hermeneutische, durchweg westliche Methode, um die Deutschen, um europäische und westliche Praxis und Prinzipien zu kritisieren, ergreift aber nicht die Chance, mit diesem Wissen die eigenen mitgebrachten Werte und Traditionen etwa der islamischen Welt zu hinterfragen, zu deuten und gegebenenfalls zu ändern."
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Wissenschaft

In der NZZ bedauert der Philosoph Peter Strasser die Uniformierung der akademischen Sprache: Heidegger oder Wittgenstein hätten heute allein wegen ihrer originellen Sprache keine Aussicht mehr auf eine Professur. "Länderübergreifende Durchlässigkeit, wie sie für den universitären Lern-, Lehr- und Forschungsbetrieb gefordert wird, ist ohne intellektuelle Uniformierung nicht zu haben. Die jungen Menschen im Westen sind es gewohnt, dass ihnen mit Bezug auf die örtliche Mobilität in Bildungsangelegenheiten wenig an Hindernissen in den Weg gelegt wird. Aber wie steht es um die geistige Mobilität, um die Anerkennung eines sprachlichen Sensoriums, das von der Originalität seines Schöpfers zeugte? Die Vielfalt geisteswissenschaftlicher Forschungsthemen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade überall dort, wo die Durchlässigkeit am größten ist, zusehends durch den Druck der Organisationsnotwendigkeiten (Vergleichung des Niveaus, Evaluierungen und Punktevergaben) ein sprachkulturelles Esperanto erzwungen wird - und die damit einhergehende 'Monotonisierung' der Projekte und ihrer Ausführung: Aus dem Haus des Seins ist ein übernormiertes Reihenhaus geworden."
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Religion

Die Ahmadiyya-Sekte präsentiert sich in der Öffentlichkeit gern als "Reformgemeinde". Aber sie ist strikt auf sich selbst bezogen und will vor allem den Islam des Ursprungs wiederherstellen - unter einem gewählten Khalifen, dem nach dem Tod des Gründers der Sekte große Macht zufällt, erzählt Naureen Ghaury, die in dieser Gemeinde aufgewachsen ist, bei hpd.de: "Der Khalif gibt als Oberhaupt der Gemeinde Anweisungen über alle Lebensbereiche der Gemeinde-Mitglieder, die von den Mitgliedern streng befolgt werden müssen. Ansonsten können Sanktionen drohen und im schlimmsten Fall eine Exkommunikation aus der Gemeinde erfolgen. Die Einhaltung dieser Gebote wird durch die enge Gemeinschaft in den lokalen Gemeinden sozial kontrolliert, zum Beispiel wird weitererzählt, wenn ein Mädchen ohne Kopftuch gesehen wird. Dies führt zu einem starken Konformitätsdruck und lässt keinen Raum für eine freie persönliche Entwicklung ohne Schuld und Angst."
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Stichwörter: Ahmadiyya-Gemeinde, Sekten

Europa

Auch du, Bodo? In der FR ist Thomas Kaspar entsetzt, dass Thüringens alter neuer Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linken den AfD-Politiker Michael Kaufmann als Vizepräsidenten des Thüringer Landtages gewählt hat: "Bodo Ramelows Erklärung liest sich wie eine geschwurbelte nachträgliche Entschuldigung eines pragmatischen Politikers, der seine Projekte durchsetzen will und damit halt auch mal Kompromisse machen müsse, wenn auch mit den Faschisten im Thüringer Landtag. Die Lektion für den Wähler in Thüringen ist klar: Ich wähle Haltung und am Ende erhalte ich Machtpolitik. Klare Kante war bis zur Wahl."
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Politik

Die Ausschreitungen gegen Muslime in Indien sind auch die Folge einer hindunationalistischen Politik, die identitär ist und die Prinzipien der Aufklärung verraten hat, schreibt Jasmin Kalarickal in der taz: "Das fragwürdige Gesetz Citizenship Amendment Act (CAA) erleichtert die Einbürgerung von Menschen aus den Nachbarstaaten Pakistan, Bangladesch und Afghanistan, vorausgesetzt, sie sind keine Muslime. Modis neues Staatsbürgerschaftsgesetz ist nichts anderes als staatlich verordnete Diskriminierung. Zum ersten Mal seit Indiens Unabhängigkeit im Jahr 1947 wird die Staatsbürgerschaft an die Religion gebunden. Das widerspricht der indischen Verfassung und der Gründungslogik des Landes, das sich bewusst - auch im Gegensatz zu Pakistan - trotz einer Hindumehrheit für eine säkulare Republik entschieden hat."
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Kulturpolitik

Trotz des 2016 verabschiedeten neuen Kulturgutschutzgesetzes ist Deutschland immer noch eine Drehschreibe für den Handel mit antiker Kunst aus illegalen Grabungen, lernt Jörg Häntzschel (SZ) aus einer von der Kulturstiftung der Länder herausgegebenen Studie: "Von gut 6000 antiken Stücken aus dem östlichen Mittelmeerraum, die in einem Zeitraum von zwei Jahren in Deutschland angeboten wurden, erfüllten nur 2,1 Prozent die geltenden Vorschriften für den Handel in Deutschland. Bei manchen Herkunftsländern lag der legale Anteil noch erheblich niedriger, bei Stücken aus dem Irak etwa waren es nur 0,4 Prozent. Und auch der Anteil an Fälschungen ist extrem hoch: Bei mehr als die Hälfte der Stücke handelte es sich laut den Experten um mehr oder weniger gut gemachte Imitationen."

In Deutschland und ganz besonders in Berlin gibt man sehr viel Geld für Museumsbauten aus, aber hat dann nicht mehr genug, sie überzeugend zu bespielen. Um die Museen wieder in die Gesellschaft zu holen, sollten sie aber zum Beispiel auf Eintrittspreise verzichten, meint Laura Helena Wurth in der FAZ: "In der Londoner Tate beispielsweise gibt es keinen Eintritt. Die ständige Sammlung ist da, wo sie hingehört: unter den Menschen, mitten im Leben. Man kann die Institution als Treffpunkt nutzen oder nach der Arbeit mal eben vorbeischauen und ausprobieren, wie sich verschiedene Werke in verschiedenen Stimmungen verhalten. Man kann dort das tun, was eigentlich nur Sammlern vorbehalten ist: Zumindest ein Stück weit mit den Werken leben und sie in seinen Alltag einbinden."
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